Geschrieben am 5. Juli 2017 von für Bücher, Litmag, News

Roman: Karl Ove Knausgård: Kämpfen

knausgard_kämpfenElektrisierender existentieller Kampf

– Mit „Kämpfen“ legt Karl Ove Knausgård nun den Abschluss eines in der Literaturgeschichte wohl einmaligen und zugleich megaerfolgreichen Mammutprojektes vor: In sechs Bänden und auf über 4.500 Seiten versucht er sein Leben in der ganzen unermesslichen Bandbreite ohne literarische Überhöhung und Fiktionalisierung niederzuschreiben: Er will nicht das „‘als ob‘ der Kunst, diese[n] Abgrund, der sie von der Wirklichkeit trennt“, sondern er will „versuchen, zum Rohen und Willkürlichen dieser Realität vorzudringen.“ Von Karsten Herrmann

Alle sechs Bände kreisen dabei auch um den strengen und stets missgelaunten Vater, der die Familie früh verließ und schließlich als Alkoholiker in Einsamkeit endete – ein Kapitel in seinem Leben, mit dem Knausgård nie wirklich abschließen kann. Daneben erzählt er über die sechs Bände hinweg von seinen Jugendfreundschaften, der ersten Liebe, dem ersten späten Onanieren, dem Studium am Literaturinstitut in Bergen oder über die Freude am Trinken, bis er sich vergisst und anderen dann vor den Kopf stößt. Und immer wieder geht es natürlich um Literatur, um Leseerlebnisse und den Kampf um das Schreiben, das ihm erst so gar nicht gelingen will.

Im sechsten Band stehen nun das Leben in der Familie mit seiner Frau Linda und den drei kleinen Kindern sowie die anstehende Veröffentlichung des ersten Bandes über den Tod des Vaters im Mittelpunkt. Er hat die Manuskripte an die darin vorkommenden Personen verschickt und wartet nun voller Furcht auf die Reaktionen – und tatsächlich überzieht ihn sein Onkel väterlicherseits mit wüsten Beschimpfungen und droht eine Klage an. Es droht eine Schlammschlacht in den Medien. Noch einmal gerät Knausgård ins Zweifeln über sein radikales autobiographisches Projekt und fragt sich, was er seiner Familie und seinen Freunden damit antut. Er martert sich mit der Frage, wie wahr seine Erinnerungen sind, wie trügerisch das Gedächtnis ist und wie viel Fiktion und Reduktion auch immer in einem noch so wahrhaftigen autobiographischem Schreiben steckt: „Ist die Welt etwas anderes, als unsere Vorstellung davon?“

In einem stetigen Wechsel zwischen den ganz kleinen Dingen des alltäglichen Lebens, der radikalen Selbstentblößung und einer stetigen literatur- und kulturtheoretischen Reflexion führt Karl Ove Knausgård sein autobiographisches Schreiben im ersten Teil des1280 Seiten umfassenden  „Kämpfen“ zur höchsten Vollendung und macht im Vergleich zu den ersten Bänden noch einen deutlichen Quantensprung. So erzählt er ebenso von Landschaften, Licht und Wolken wie vom Windelwechseln, Socken suchen, einkaufen gehen und kochen, ebenso vom vorzeitigen Samenerguss, vom besinnungslosen Saufen und einem tief bereuten Fremdgehen, vom Anschreien und Schütteln der Kinder wie auch von den für ihn so wichtigen Schriftstellern und Denkern von Shakespeare über Broch und Hamsun bis Handke. Es ist eine Poetik der Aufmerksamkeit für die kleinen und großen Dinge des Lebens, ein konzentrierter Akt der Vergegenwärtigung im zerstreuenden Nebel des Alltags.

Wie ein Meteorit schlägt in dieses Erzählen und seinem fast süchtig machenden Flow dann ein knapp 500 Seiten langer Essay ein, der von der Interpretation eines Gedichtes Celans ausgeht und über Hitlers „Mein Kampf“ (im Original heißen Knausgårds Bücher „Min Kamp 1 – 6“) zur Kartierung des geisteswissenschaftlichen Denkens zu Beginn des 20. Jahrhunderts übergeht. Es scheint, als würde Knausgård hier ein intellektuelles Vermächtnis und ein Gegengift gegen den immer wieder erhobenen Vorwurf eines banalen Alltagsrealismus in seinen Abschlussband einbrennen wollen.

Im dritten Teil des Bandes steht schließlich die manisch-depressive Erkrankung seiner Frau Linda und eine auch durch die erste Buchveröffentlichung ausgelöste Ehekrise im Mittelpunkt – ohne jedoch noch einmal diesen zwingenden Lesesog des ersten Teils  zu entwickeln. Am 2. September 2011 um 7.07 Uhr kann Knausgård seinen Roman endlich beenden und freut sich darauf zu „genießen, dass ich kein Schriftsteller mehr bin.“

Karl Ove Knausgårds sechsbändige Autobiographie und insbesondere der letzte Band ist eine radikale Selbstvergewisserung, eine einzigartige Meditation über das Leben in seiner ganzen Bandbreite sowie über die Frage, wie man dieses Leben und das Schreiben bedingungslos miteinander verbinden kann. Dieses Projekt der Wahrhaftigkeit erstarrt dabei nie zur Pose und immer bleibt der elektrisierende existentielle Kampf des Sohnes, Vaters, Ehemanns, Freundes und Schriftstellers Karl Ove Knausgård spürbar.

Karsten Herrmann

Karl Ove Knausgård: Kämpfen. Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg. Luchterhand 2017. 1280 Seiten. 29,90 Euro

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