Geschrieben am 2. November 2016 von für Bücher, Litmag

Roman: Jan Brandt: Stadt ohne Engel

brandt_stadt-ohne-engelReportagen zwischen Paradies und Hölle

Nach seinem preisgekrönten Debut „Gegen die Wand“ von 2011 und seinem sich selbst und den Literaturbetrieb ironisierenden „Tod in Turin“ ist Jan Brandt mit „Stadt ohne Engel“ nun im Genre der Reportagen gelandet – nicht zuletzt wohl auch, weil sein großer geplanter Amerika-Auswandererroman ins Stocken geraten ist.

Ausgangspunkt des neuen Buches ist ein Stipendium in der Künstlerresidenz „Villa Aurora“ in Los Angeles, die während der Nazi-Diktatur von Lion Feuchtwanger bewohnt und zu einem Zentrum der deutschen Exilschriftsteller wie Bertold Brecht, Thomas Mann oder Franz Werfel wurde.

Das erste, was Jan Brandt im Sonnenstaat Kalifornien auffällt, „ist das Licht. Diese alles durchdringende Helligkeit.“ Doch das vermeintliche Paradies wird ihm, der hier seinen Roman voranbringen will, schnell zur Hölle, denn: „Mir fällt nichts ein.“ Stattdessen macht er sich mit einem Leihauto daran, den sagenhaften Moloch Los Angeles und seine Menschen zu erkunden. Auf seinen Streifzügen trifft er so zum Beispiel auf eine ganz und gar erstaunliche 14jährige Auftragsdichterin, auf eine hoffnungsvolle Schauspielschülerin oder auf einen deutschen Caterer und Currywurst-Imbiss-Betreiber. Dramatisch wird es im sich gentrifizierenden Schmelztiegel Echo-Park, wo Gangs, Freaks und Hipster zusammentreffen und Jan Brandt fast Zeuge eines Mordes wird – und dem Opfer und seinen Freunden ein eindrucksvolles Porträt widmet.

Jan Brandt nimmt sich in seinen Reportagen viel Zeit für die Menschen, die ihm begegnen, trifft sich immer wieder zu Interviews mit ihnen, begleitet sie bei der Arbeit und lässt sie selber sprechen. Und immer wieder stößt er bei ihnen auf diesen „American Spirit“, auf „dieses Selbstbewusstsein, diese Zweifellosigkeit, den grundsätzlichen Optimismus.“

Ergänzt werden diese einfühlenden Porträts und Beobachtungen durch intensive Internetrecherchen über Geschichte(n) der Stadtviertel, über Zahlen, Kunst- und Kulturbezüge und übergreifende Zusammenhänge. Und letzteres ist ein entscheidendes Movens für Jan Brandt und weitet sich zu einer panoramatischen Gesellschaftsanalyse aus:  „Ich will herausfinden, wie alles zusammenhängt: Hollywood und Google, Silicon und Venice Beach, die Freaks, die Nerds und die Hippies, Technikhörigkeit und Spiritualität […], steigende Mieten und  sinkende Absicherung, Erfolgsdruck, Depression und die Sehnsucht nach einem alternativen Dasein.“

Doch eben dieses alternative Dasein scheint gar nicht mehr möglich zu sein und die Spiritualität des New Age nur einer Selbstoptimierung im Dienste des Kapitalismus zu dienen. Jan Brandt erkennt im sonnigen und von Träumen und Mythen umwobenen Kalifornien eine Kultur, „in der alle Widersprüche aufgehoben sind, weil es kein Außen, keine Alternative zum bestehenden System mehr gibt.“

Karsten Herrmann

Jan Brandt: Stadt ohne Engel. Wahre Geschichten aus Los Angeles. Dumont 2016. 380 Seiten. 22,99 Euro.

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