There Is a Light That Never Goes Out
Ein weiterer Klassiker in dieser CrimeMag-Ausgabe. Alexander Roth hat sich ihm ausgesetzt, möchte das Erlebnis nicht missen.
Das Dritte Reich ist in der Literatur längst zu einer Mythen- und Sagenwelt geworden. Das liegt vor allem daran, dass die meisten Romane, die über die Schrecken der NS-Herrschaft geschrieben wurden, das Ergebnis einer jahrzehntelangen Kultur der Aufarbeitung sind; das Ergebnis eines sich aus einer unendlichen Zahl von Texten und Paratexten speisenden Reflexionsprozesses, der es Autorinnen und Autoren erlaubt, sich mit gebührendem Abstand diesem Dämon zu nähern, ohne ihm dabei jemals direkt in die Augen sehen zu müssen. 1943 war das noch nicht möglich. Zu einer Zeit, in der US-amerikanische Flugzeuge Bomben über Hitlerdeutschland abwarfen und die Wehrmacht Niederlage nach Niederlage erlitt, erschien beim traditionsreichen Londoner Heinemann Verlag ein kleines Büchlein mit dem Titel The Dead Look On (Die Toten schauen zu). Mit 70 Jahren Verspätung erscheint der Roman nun erstmalig in deutscher Sprache.
Der Alptraum und sein Schöpfer
Die Geschichte ist so simpel wie erbarmungslos: In der damaligen Tschechoslowakei wird ein hochrangiger SS-Mann von einem Motorradfahrer auf offener Straße erschossen. Daraufhin setzen die Deutschen für jede Information, die zur Aufklärung dieses Skandals beiträgt, eine Belohnung von 800.000 Reichsmark aus. Es dauert natürlich nicht lange, bis die ersten Hinweise eintreffen. Der vielversprechendste kommt aus der Umgebung eines kleinen Dorfes namens Dudicka, wo man das Motorrad des Täters gefunden haben will. Versteckt er sich möglicherweise dort? Heinz Horner, ein unterkühlter, äußerlich unauffälliger SS-Offizier, soll dieser Frage im Auftrag der Gestapo auf den Grund gehen.
Anna sagte: „Gott weiß, dass ich dich liebe, also wirft er Blumen herab.“ Sie spürte, wie Max seine Arme anspannte. Dann sagte er: „Gott weiß auch, dass ich dich liebe. Aber das sind keine Blumen. Das sind Fallschirme.“
Gerald Kersh hat mit seinem Heinz Horner bereits zur Zeit des Zweiten Weltkrieges eine Figur geschaffen, die später systematisch für fiktionale Literatur über jene Ära werden sollte. Horner ist ein emotionsloser, analytischer Nazi-Bösewicht, dessen Entscheidungen der erbarmungslosen Logik einer Ideologie folgen, deren finale Konsequenz er verkörpert: Den entmenschlichten Menschen. Wo Hitler und Goebbels „wild wiehern“ müssen, um Angst und Schrecken zu verbreiten, reicht bei Horner eine Bewegung des Kiefers, und sein Gesicht sieht aus wie ein „Zimmer […] in dem ein Verbrechen verübt worden war“. Wo andere mit Panzern anrücken, um den Feind zu besiegen, bewaffnet er sich lediglich mit Block und Bleistift. Als eine Art pervertierter Ökonom sieht Horner in den Menschen und ihren Besitztümern nicht mehr als Ressourcen, die er nach Belieben abschöpfen kann. Kirchendach? Munition. Gebrauchte Kondome? Autoreifen. Wie eine „phantasmagorische Kreuzung aus Fließband und Satan“ zerlegt er Dudicka und seine Bewohner systematisch in Einzelteile – bis nichts mehr übrig ist, was noch gebraucht werden, nichts, was davon Zeugnis ablegen könnte, dass hier einmal ein Dorf stand.
Unverwüstliche Erinnerung
Dudicka heißt in der Realität Lidice und liegt etwa 20 Kilometer westlich von Prag. Nach einem Attentat auf Reinhard Heydrich im Jahre 1942, das dessen Tod zur Folge hatte, geriet das kleine Dorf in den Fokus der Besatzer. Man vermutete, die Bewohner würden den Attentätern Unterschlupf gewähren. Die „Männer“, das heißt alle männlichen Dorfbewohner über 15, wurden ohne Ausnahme erschossen. Die Frauen kamen ins Arbeitslager. Die Kinder wurden von ihren Eltern getrennt, und wer für eine Umerziehung im „germanischen Geiste“ nicht geeignet schien, wurde vergast. Wenn es angesichts einer solch grausamen Geschichte überhaupt Trost gibt, dann ist es der, dass es den Nazis nicht gelungen ist, Lidice von dieser Erdoberfläche zu tilgen. Heute leben in dem kleinen Dorf wieder etwa 500 Menschen. Und die Erinnerung an das, was geschah, bleibt mit ihnen lebendig.
Aber flüchten wir uns zurück in die Fiktion. Horner betritt also Dudicka, und mit ihm bricht die Dunkelheit herein. Seine Truppen greifen sich das schwächste Glied der Kette, einen Mann mit ebenso wenig Ansehen wie Selbstbewusstsein, und quetschen ihn aus, bis sie alles über das Dorf und seine Bewohner wissen. Dann werfen sie ihn weg und wüten unter dem Rest. Doch die Menschen von Dudicka, die in der Lage sind Gläser anzufertigen, die seufzen können, die Märchen schreiben, mit denen sich das Unfassbare begreiflich machen lässt, leuchten umso heller, desto düsterer die Nacht wird. Sie verglühen vor unseren Augen mit einer Anmut, gegen die – und man entschuldige mir an dieser Stelle das Wortspiel – kein Kraut gewachsen scheint.
Der Soldat Friedrich Betzendorfer biss die Zähne zusammen und sah hinunter auf seine Stiefel, um nicht Augenzeuge zu werden.
„Für den Kampfgeist aller, die am Leben sind […]“
Es gibt genau einen Grund, warum es trotz all der Grausamkeiten möglich ist, dieses Buch zu Ende zu lesen, und es ist derselbe, der es zu einem ganz großen Stück Literatur macht: Die Prosa von Gerald Kersh. Die Wärme, die uns aus seinen Sätzen entgegenstrahlt und die rührende, ja im Grunde genommen väterliche Fürsorge, die er „seinen“ Dorfbewohnern auch im Tod noch entgegenbringt, sind in der von ihm beschriebenen Welt so fehl am Platz, dass es einen zu Tränen rührt. Die Toten schauen zu ist der Roman eines Schriftstellers, dem die Jahre, die er im Krieg verbringen musste und die Tatsache, dass einige seiner Verwandten im Konzentrationslager umkamen, seinen Glauben an die Menschheit nicht nehmen konnten. Und das, man kann es einfach nicht oft genug sagen, im Jahr 1943. Würde man das jetzt alles in einem Satz zusammenfassen wollen – er klänge etwa so: Ein jüdischer Brite schrieb vor langer Zeit ein Buch, in dem es um die systematische Auslöschung eines ganzen Dorfes während einer der dunkelsten Stunden der Menschheitsgeschichte geht, und wenn es je so etwas wie einen Funken Hoffnung gegeben hat, dann entsteht er, während man dessen Seiten umblättert.
Wäre man vor einem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse gewesen und hätte Frank Nowatzki am Stand von Pulp Master nach diesem Buch gefragt, hätte man sofort gemerkt, dass es sich um ein Herzensprojekt handelt. Er hätte einem gesagt, dass der Titel, der auch zu diesem Zeitpunkt schon angekündigt war, etwas länger brauche, da er sprachlich so anspruchsvoll sei, dass sich die Übersetzung hinziehe. Man wäre darüber vielleicht etwas verstimmt gewesen. Heute möchte man ihm danken. Dafür, dass er diesen Autor, der lange Zeit selbst im englischsprachigen Raum vergriffen war, der trotz einer Vielzahl von mal mehr, mal weniger erfolgreichen Romanen und Kurzgeschichten am Ende bettelarm starb, nach Ouvertüre um Mitternacht und Nachts in der Stadt bereits zum dritten Mal ins Programm geholt hat. Man möchte dem Übersetzerduo Ango Laina und Angelika Müller danken, die diesen bildgewaltigen Text gebändigt und in unsere Sprache übertragen haben, ohne ihn dabei seiner Strahlkraft zu berauben. Und klammheimlich möchte man sich auch selbst ein wenig gratulieren – denn eine intensivere Leseerfahrung wird man dieses Jahr wohl nicht mehr machen.
Gerald Kersh: Die Toten schauen zu (The Dead Look On, 1943). Aus dem Englischen von Ango Laina und . Mit einem Nachwort von Angelika Müller. Taschenbuchausgabe. Pulp Master, Berlin 2016. 200 Seiten, 12,80 Euro. Mehr zu Buch und Autor auf der Verlagsseite. Und ein wunderschönes Empfehlungsschreiben des US-amerikanischen SciFi-Autors Harlan Ellison hinterher.