Geschrieben am 2. November 2016 von für Bücher, Litmag

Roman: Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

ferrante_freundinHanni und Nanni im Fordismus

–Eine Rezension über ein über alle Maßen gepriesenes Fortsetzungswerk zu schreiben, ist eine Herausforderung. Wenn ein Buch sowohl von Bestsellerlisten als auch von kritischen Kritikern und Literaturkennern gleichermaßen anerkannt wird, scheint es erstmal vor allem den Nerv der Zeit zu treffen. Dennoch, oder gerade deshalb, frage ich mich, warum sich nirgendwo ein kritischer Geist mit Einwänden regt? Von Elfriede Müller

Ich habe den ersten Band – den Eingeweihte als den schwächsten von vier guten beschreiben – mit Vorfreude und gerne gelesen, auch wenn mich die ausufernde Begeisterung des ferrante-fevers nicht ergriff. Als ich zum ersten Mal von Freunden über den Vierteiler einer Frauen-Freundschaft hörte, ging ich davon aus, dass es sich um eine Frauenliebe handele. Aber nicht einmal das: beide Frauen sind klassisch heterosexuell orientiert und entsprechen in ihrem Begehren und ihrer begrenzten Neugier auf die Welt vielen aufgeweckten Zeitgenossen der fordistischen Ära. Vielleicht macht sie aber gerade diese Gefälligkeit so beliebt.

Lila und Elena wachsen im Nachkriegsitalien in einem armen Viertel Neapels auf, dem Rione, geprägt von Camorra, Postfaschismus, Machismo, geistigem und sozialem Elend. Bevor wir in die Fünfzigerjahre versetzt werden, als alles anfing, wird im Prolog auf das Verschwinden der sechsundsechzigjährigen Lila hingewiesen, das Elena dazu bewegt, ihre gemeinsame Geschichte aufzuschreiben. Eine Geschichte von gut und böse und von der Möglichkeit, sich über seine Verhältnisse zu erheben, die die damalige Zeit geboten hat. Die psychische Disposition vorausgesetzt.

Eines der Geheimnisse des Erfolgs dürfte die angebotene Identifikation mit der/den Heldin/Heldinnen sein, deren Qualen und Freuden alle Heranwachsenden im Postfaschismus auf die eine oder andere Art erlebt oder erfahren haben, auch wenn das Stadtviertel Rione ein besonders harter Ausdruck davon sein mag. In der genauen Beschreibung dieses harten Viertels liegt die Stärke des Buches.

In harten Zeiten gibt es nichts Wichtigeres als Freundschaft, sie bietet Schutz und Geborgenheit. Ferrante unterstreicht diese Beziehung mit symbolischen Handlungen, wie einer in den Keller des gefährlichsten Mannes aus dem Rione geworfenen Puppe, die die beiden Mädchen gemeinsam suchen, ohne sie zu finden: „und als ich zu ihr kam, griff sie nach meiner Hand. Das änderte alles zwischen uns, für immer.“ Das Buch ist voll von diesen bedeutungsschwangeren Sätzen und Erlebnissen, die jeweils als Übergang in die nächste Alters- oder Entwicklungsphase eingesetzt werden.

Die beiden Mädchen verbindet eine tiefe Zuneigung und trennt wiederum alles. Die eine will lernen und raus aus den engen Verhältnissen, der anderen fliegt alles zu und sie will die Verhältnisse nicht verlassen, sondern sie beherrschen und steigt im Laufe der Handlung des ersten Teils zu deren Königin auf.

Die Eltern der beiden Mädchen sind Kleinbürger, der eine Pförtner, der andere Schuster, ängstliche Menschen und Gefangene ihrer Verhältnisse, die ihre Töchter schnell durchschauen. Lila ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit, so hochbegabt wie wunderschön, also im Rione völlig fehl am Platze, was sie umso mehr erstrahlen lässt. Elena eine von uns, den Heranwachsenden voller Selbstzweifel und Zögerlichkeiten, die sich mit Lila verbunden fühlt, um ihre Zuneigung und Anerkennung buhlt und mit unseren Augen erstaunt auf Lilas Entwicklung und Entscheidungen blickt: „Lila war für jeden zu viel.“

Das Leben der Mädchen ist von Gewalt durchzogen, im eigenen Haushalt, auf der Straße, Gewalt von Männern gegenüber Frauen, Großen gegenüber Kleineren, Reichen gegenüber Ärmeren. Lila ist stark genug, dieser Gewalt zu widerstehen, auch mit Gegengewalt zu antworten. Das heißt, sie kann sich im Rione behaupten und wird zum Vorbild für Elena, durch deren Augen die Leser sie wahrnehmen.

Die Geschichte von Lila und Elena ist die Geschichte des Nachkriegsitaliens, stellvertretend für das westliche Nachkriegseuropa, wo es für viele auch ohne grundlegende Gesellschaftsveränderung möglich war, aus nichts alles zu werden. Aus einem armen kleinen Schuster- oder Pförtnermädchen eine Schriftstellerin zum Beispiel. Die starke Lila, die sich vielleicht doch als die schwächere erweist, hat es Elena ermöglicht, sich aus ihren Verhältnissen – dem Rione, der für alles miese, zurückgebliebene steht – zu befreien. Um den Preis, Lila erstmal dort zurückzulassen.

Elena tritt den Marsch durch die Institutionen an und erreicht es durch Fleiß und Aufmerksamkeit, zur besten Schülerin der Grundschule zu werden und danach aufs Gymnasium, das sich selbstverständlich nicht im Rione befindet, zu wechseln. Lila, die außerhalb der Schule alles schnell lernen kann wie es ihr gerade gefällt und auch wunderbar schreibt, pfeift auf die Institutionen bis auf eine: die Ehe. Da alle sie haben wollen, nimmt sie denjenigen, der sie am wenigsten zu unterdrücken scheint, den braven Lebensmittelhändler von nebenan. Einer ihrer vielen Verehrer – Pasquale – ist Kommunist und klärt die beiden Freundinnen über die politischen Verhältnisse hinter der Gewalt auf. Doch bleiben diese politischen Verhältnisse sehr schemenhaft und spielen zumindest im ersten Band kaum eine relevante Rolle, außer dass die Bösesten entweder Faschisten waren oder zur Camorra gehören.

Liebe im Rione hat Tauschwertcharakter und macht im besten Fall unglücklich, in der Regel spielen Gefühle eine geringe Rolle. Elena verliebt sich ernsthaft, als sie sich schon aus dem Rione befreit hat. Lila nutzt ihren Glanz, um ihrer Familie Sicherheit und ein Auskommen zu gewähren. Auch wenn sich die Vorstellung von Reichtum und Ruhm mit dem Alter stark verändern, so prägt das Streben danach doch auf unterschiedliche Art die Verhaltensweisen der beiden Heldinnen.

Der erste Band spielt in einer Zeit, in der es ökonomisch und sozial möglich war, sich zu verbessern, der Armut zu entfliehen und jemand ganz anderer zu werden. Dass diese Zeiten heute vorbei zu sein scheinen und die Lebensverhältnisse sich weltweit gerade nicht unbedingt zum Besseren wenden, erklärt vielleicht die Begeisterung für diese Bücher.

Bei Hanni und Nanni ging immer alles gut aus. Trotzdem und vielleicht auch deshalb habe ich sie als Jugendliche gerne gelesen. Mit einer gewissen Lebenserfahrung ausgestattet, weiß ich nun, dass nie alles gut ausgeht, ganz im Gegenteil. Auch deshalb möchte ich wissen, wie es sich bei Lisa und Elena verhält und werde die anderen drei Bände gleich bestellen.

Elfriede Müller

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag 2016. 423 Seiten. 22,00 Euro.

Tags :