Einschusslöcher
von Katja Bohnet
Ich liebe Western. Das Lakonische, Männer auf Pferden, Staub. Weniger Bud Spencer als Charles Bronson, Henry Fonda, Clint Eastwood, Claudia Cardinale, Hailee Steinfeld und später auch kongenial Javier Bardem. Weniger „Winnetou“ als „Spiel mir das Lied vom Tod“, „No Country for Old Men“ oder „True Grit“. Vor und nach allem Cormac McCarthy mit „All die schönen Pferde“ in der Literatur. Extreme Temperaturen und extreme Grausamkeit in einem Land, das sich selbst und die Welt im Konflikt zerreißt. Das in jeder noch so abgelegenen Ecke seiner Landesgrenzen ein Kammerspiel der großen gesellschaftspolitischen Themen inszeniert. Das sich nicht nur im neunzehnten Jahrhundert Boden und Völker untertan macht. Sich recht- und gesetzlos nimmt und danach Recht und Ordnung zu finden versucht und etabliert. Das um die Zivilisation ringt.
Die USA, der Wilde Westen oder Geschichte, die sich wiederholt.
Die Winter Family ist eine Gruppe von Gesetzlosen, die ihr Heil auf jeder Seite suchen, die skrupellos mordend Geld verdienen. Sie kämpfen während des Sezessionskriegs für die Nordstaaten gegen den Sklavenhandel, später werden sie zu Helfern des Ku-Klux-Klans, in Chicago unterstützen sie die Republikaner bei der Wahl. Angeführt werden sie von August Winter, und der ist mysteriös. Hellhäutig mit bernsteinfarbenen Augen gleicht er einer Wildkatze, die eigene Wege geht. Winter ist härter, irrwitziger, brutaler als alle anderen, weil ihm moralische Standards nichts mehr bedeuten. Kommen die anderen nicht mit, reist er allein. Die anderen Mitglieder der bunt zusammen gewürfelten Truppe brauchen, verehren und fürchten ihn gleichermaßen. Warum erträgt man als Leser einen Helden wie August Winter? Weil er sich seiner selbstgewählten Familie gegenüber loyal verhält: Er beschützt diejenigen, die zu ihm stehen. Weil er mit Gewalt groß wurde, misshandelt von einem Vater, der als Reverend predigte und prügelte. Winter wendet sich gegen jede Doktrin, gegen jede Autorität, weil er an nichts mehr glaubt.
Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise durch die Zeit: 1864, Georgia. Sechsunddreißig Jahre und fünfhundert Seiten verbringen wir mit der Winter Family, waten mit ihr durch Schlamm und Blut. Durch Nebraska, Kansas, Mississippi, von Mexiko bis nach Oklahoma. Es ist Krieg, amerikanischer Bürgerkrieg. Unzählige Menschen sterben qualvoll. Der Tod kennt keine Vorlieben: Er rafft Ureinwohner, Siedler, Sklaven und Einwanderer dahin. Soldaten der Konföderation und der Union. Demokraten und Republikaner. Er trifft Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen. Es wird geschossen, gehackt, skalpiert. Aber ein Schuss bedeutet nicht unbedingt den Tod. Beachtlich, was ein Outlaw alles wegstecken kann.
Längen im Mittelteil, und keine Frauen.
Längen gibt es im Mittelteil, bei dem der Roman mit einem großen Figurenpersonal aufwartet. Die Handlung mäandert zwischen den verschiedenen Parteichargen der Demokraten und Republikaner in Chicago hin und her. Wie wichtig und faszinierend Wahlen sind, verliert sich auf fast zweihundert Seiten zusehends wie bei der Spätabendberichterstattung der ARD. Man wünscht sich Männer auf Pferden zurück oder ein ordentliches Gefecht. Clifford Jackman arbeitet nicht nur als Autor, sondern auch als Rechtsanwalt. Mit diesem Sendungsbewusstsein umschreibt er, wie Politiker Kriminelle instrumentalisieren, wie und warum Recht und Ordnung in einer gesetzlosen Welt entstehen. Die großen Kapitel schließen mit geschichtlichen Erläuterungen, erklären Jahre und Zusammenhänge im Zeitraffer. Manchmal halten Figuren Plädoyers, für oder gegen Geld, Macht und Zivilisation. In guten Momenten werden Fragen nach dem Einzelnen in der Gesellschaft aufgeworfen. Sind nicht alle anderen August Winter gleich? Oder wird der Mensch erst in Gesellschaft zum Tier? Auch hier bildet sich das Große im Kleinen ab. Ein Apache sagt: „Ihr Weißen seid wie die Ameisen. … ganze Ströme, wie ein riesiger Fluss, ohne Heimat, ihr esst einfach alles auf, was ihr seht.“ Die Ackermann’schen Heuschrecken stehen in dieser Tradition.
Die Winter Family erscheint als Spitzentitel in der Heyne Hardcore Reihe. Clifford Jackman erzählt von einer faszinierenden Epoche, in welcher die Zivilisation den wilden Westen zähmt. Halb Western, halb Geschichtsroman, der ein Abbild unserer eigenen Zeit entwirft, oder zumindest ein Fragment davon. Eine unstillbare Sehnsucht bleibt zum Schluss, ein Blutfleck auf weißer Weste, ein Einschussloch von der Größe Nordamerikas: dass dieser Roman auskommt ohne eine einzige Frau.
Katja Bohnet
Clifford Jackman: Winter Family (The Winter Family, 2016). Aus dem Amerikanischen von Robert Brack. Heyne Hardcore. 512 Seiten. 14,99 Euro.