Geschrieben am 6. Mai 2017 von für Bücher, Litmag

Roman: Andreas Kollender: Von allen guten Geistern

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Von Anne Kuhlmeyer

Ludwigs Mutter tötet sich in den Folterkellern, denn Krankenhaus kann man diesen Ort nicht nennen, von St. Georg in Hamburg. Demente, psychisch Kranke, Verwirrte, Schwule, Behinderte oder auch unliebsame Zeitgenossen werden von den „Normalen“ separiert, Gewalt und Verwahrlosung ausgesetzt, damit ihnen der „Unsinn“ ausgetrieben werde. In Andreas Kollenders Roman treffen wir auf alle Schaurigkeiten, die die Geschichte der Psychiatrie aufzuweisen hat. Er erzählt sie an der Person des Ludwig Meyer (Psychiater) entlang.

Die rasanten wissenschaftlich-technischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und deren ökonomischen Folgen zündeten nicht nur das Feuer der 1848er Revolution, an der Meyer teilnimmt, sondern entfesselten auch den Streit zwischen Somatikern und Psychikern in der Medizin, der bis heute albern aufflammt. Sein Futter bezieht er aus Kausalitätsfragen. Zieglgänsberger (Max-Planck-Institut München) erklärte die Rolle von Psyche und Körper bei der Entstehung von Schmerz (z.B.) einmal so: Ihre rechte Hand ist der Körper, die linke die Psyche. Klatschen Sie in die Hände. Und nun sagen Sie, welche Hand den Schall gemacht hat. Heißt: Systemisch, nicht kausal denken. Inzwischen kann man mit der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) in den Kopf gucken.

Davon hat Ludwig Meyer – Irrenarzt, Forscher, Humanist – geträumt. Den Leuten in den Kopf gucken, damit man erkenne, was darin verkehrt ist, oder vielmehr, was die Menschen leiden macht. Auch er denkt in Kausalzusammenhängen, wie wohl die meisten von uns. Die Frage nach dem Warum scheint uns inne zu wohnen wie der Wunsch nach göttlichem Schutz. (Dort endet sie ja auch.) Meyer quält sie nach dem Tod der geliebten Mutter und treibt ihn an. Er lernt, studiert mit preußischer Disziplin. Aber wie kann die Ordnung etwas so Unordentlichem wie dem Wahnsinn beikommen? Bei seinen Studien stößt er auf John Conollys No-restraint-Prinzip (keine Zwangsmaßnahmen) und ist begeistert. Freiheit für alle! Gleichgültig welcher Geist sie be- oder entseelt.

1864 gründet er die erste moderne Heil- und Irrenanstalt in Hamburg. Eine Bibliothek, eine Werkstatt, ein Konzertsaal werden eingerichtet. Die Irren dürfen im Garten wandeln und arbeiten, und so irre sein, wie sie wollen. Meyer begegnet ihnen mit Freundlichkeit und Respekt. Er redet mit ihnen, lange, geduldig, angemessen. Dass diese Haltung zu Konflikten mit Staatsbeamten und Neidern führt, liegt auf der Hand. Meyer kämpft weiter. Gegen Dummheit, Bosheit und Ignoranz. Julia, seine Schwester, steht ihm mit ihrer stabilen Heiterkeit zur Seite, denn auch die Liebesbeziehung zu der Schauspielerin Fanny Nielsen ist fragil. Dem strengen Vater verzeiht er nicht, dass er seine Mutter ins Irrenhaus brachte.

Einfühlsam erzählt Kollender von der Ahnungslosigkeit, von Gehorsam, von Hilflosigkeit der kranken Frau gegenüber, die des Vaters Entscheidung begründeten. Dem Autor gelingt es, die Atmosphäre jener Zeit, den Aufbruch, die Konflikte, die Zwänge sichtbar zu machen, er lässt sie außerordentlich modern erscheinen. Facettenreich und lebendig sind seine Charaktere, reich bebildert seine Schilderungen der Umstände. An verschiedenen Stellen des Romans scheint die Frage auf: Was ist normal? Gerade an den Kanten gesellschaftlicher Umbrüche stellt sie sich, im Schatten des deutsch-dänischen Krieges zum Beispiel, der wie alle Kriege jede Menge Kriegszitterer und Versehrte produzierte.

Sehr aktuell bleibt die Fragestellung nach dem Grund des Wahnsinns. Bis heute ist keiner dahinter gekommen. Oliver Schubbe (Traumainstitut Berlin) sagte einmal in etwa: Schau dir den Sternenhimmel in der Wüste an. So viele Sterne du siehst, so viele Hirnzellen gibt es. Die sind alle miteinander vernetzt. Keiner kann die Hirnfunktionen erfassen, nicht mit Neurobiologie und nicht mit PET. Es ist völlig unmöglich, die Unendlichkeit aufzuklären.

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Der Reformer Ludwig Meyer war von der Erkennbarkeit der Welt und des Irrsinns in ihr überzeugt. Er wäre fast daran zerbrochen, hätte er nicht auch noch Demut gelernt, dem Leben gegenüber, auch seinem eigenen. Mit dieser wünschenswerten ärztlichen Haltung, mit Mut und Ausdauer verändert er die Psychiatrie seiner Zeit. In Andreas Kollenders Roman werden Vorurteile gegenüber dem Anderen, dem Unbekannten, dem Ver-rückten seziert und kritisch beleuchtet. Und das in einer lebendigen Geschichte.  

Anne Kuhlmeyer

Andreas Kollender. Von allen guten Geistern. Roman, Pendragon Bielefeld 2017, 435 Seiten, 17,- Euro

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