Geschrieben am 15. April 2016 von für Bücher, Crimemag, News, Non Fiction

Reportage: Óscar Martínez – Eine Geschichte der Gewalt

Martinez_Geschichte derGewalt_5.inddIm Land der letzten Dinge

von Jürgen Neubauer

In einem Kapitel seines neuen Buchs Eine Geschichte der Gewalt: Leben und Sterben in Zentralamerika beschreibt der salvadorianische Journalist Óscar Martínez, wie die Anwohner einer ärmlichen Straße von San Salvador aus ihren Häuschen fliehen. Panisch zerren sie Matratzen und Tische aus ihren schmalen Türen und verladen sie auf Pritschenwagen, um sich zu Verwandten in anderen Stadtteilen zu flüchten. Die Szene wird live im Fernsehen übertragen, und vor laufenden Kameras erklären einige verschreckte Anwohner den Grund ihrer Flucht: Einige Wochen zuvor waren vier Frauen der Bande „Barrio 18“ in ein Haus in der Straße gezogen. Nach einigen Beschwerden hatte der Vermieter den Frauen gekündigt, und weil sie nicht freiwillig gingen, hatte er eines Tages in ihrer Abwesenheit geräumt. Als die Frauen ihr leeres Haus vorfanden, verständigten sie ihre Freunde. Die gingen von Tür zu Tür und erklärten den Anwohnern, sie hätten 24 Stunden Zeit, um ihre Häuser zu verlassen, sonst müssten sie mit dem Schlimmsten rechnen. Das war am Abend zuvor passiert. Die Anwohner nahmen die Drohung ernst, denn erst vor wenigen Monaten hatten Angehörige der Bande an der Hauptstraße des Viertels einen Bus mit über dreißig Insassen in Brand gesteckt und die fliehenden Fahrgäste erschossen.

Inzwischen trifft die Polizei in der Straße ein. Sie fordert die Anwohner zum Bleiben auf und drängt die Fernsehreporter zurück. Óscar Martínez, der sich auch unter den Journalisten befindet, duckt sich in einen Türeingang und wird Zeuge, wie der Einsatzleiter die Nachbarn überreden will, dass sie unter dem Schutz der Polizei stehen. Als das nicht fruchtet, fordert der Beamte die Nachbarn auf zu beten.

Berichte von der Front

Óscar Martínez kommentiert die Szene nicht, aber die Botschaft ist klar: El Salvador ist in der Hand der Banden, der Staat hat die Lage nicht unter Kontrolle, die Polizei sowieso nicht, die Menschen leben in Angst und Schrecken – da hilft nur noch Beten. Mit 105 gewaltsamen Todesfällen pro 100.000 Einwohner war El Salvador 2015 das gefährlichste Land der Welt – sogar noch gefährlicher als Honduras, wo die Quote zuletzt bei 90 lag. Das sind Zahlen, die man sonst nur aus Kriegsregionen kennt. Aber El Salvador ist im Krieg. Honduras ist im Krieg. Ganz Zentralamerika ist im Krieg. Und Óscar Martínez ist ein furchtloser Frontberichterstatter, der beeindruckende Porträts mitten aus dem Kriegsgebiet sammelt.

Über Óscar Martínez (Jahrgang 1978) kann man eigentlich nicht mehr sprechen, ohne sein erstes Buch zu erwähnen, das 2010 unter dem wenig spektakulären Titel Los migrantes que no importan erschien, und zwei Jahre später in englischer Übersetzung als The Beast. Für dieses Buch machte sich Martínez, der für die salvadorianische Onlinezeitung El Faro schreibt, mit den Migranten aus Zentralamerika auf den Weg von Mexiko in die Vereinigten Staaten. Auf dem Zug la bestia begleitete er sie von Chiapas nach Norden, und dort angekommen, fuhr er die 3000 Kilometer lange Nordgrenze Mexikos von Tijuana nach Matamoros ab. Zwei Jahre lang beobachtete er, wie Migranten vom Zug verstümmelt, von Schleppern verkauft, von der Polizei verraten, von Banditen überfallen, von Drogenbanden verschleppt, vergewaltigt, versklavt und ermordet, und (wenn sie es denn über die Grenze schaffen) von der Border Patrol aufgegriffen und deportiert werden. Es ist „eines der unerträglichsten Bücher, die je über Mexiko geschrieben wurden“, wie die Zeitschrift Letras Libres konstatierte, ein monumentales Buch, das ein Einzelner eigentlich gar nicht schreiben, und ein verstörendes Buch, das man als Leser nicht mehr aus der Hand legen kann. Oder wie es der Schriftsteller Francisco Goldman so schön anerkannte: „Wie kommt es, dass dieser Arsch so gut schreibt?“

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Leben und Sterben in Zentralamerika

Martínez‘ neues Buch Eine Geschichte der Gewalt: Leben und Sterben in Zentralamerika, das jetzt im Verlag Antje Kunstmann erscheint, ist eigentlich das Prequel zu Los migrantes, weil es zeigt, warum inzwischen eine halbe Million Menschen pro Jahr diese unmögliche Irrfahrt von Zentralamerika in den Norden auf sich nehmen. Dieses neue Buch ist eine Zusammenstellung von vierzehn Reportagen, die zwischen 2011 und 2014 in El Faro erschienen und einen Eindruck vom Ausmaß der Katastrophe in El Salvador, Honduras, Nicaragua und Guatemala vermitteln.

Das Buch beginnt harmlos genug mit einer Reportage über El Niño, einen ehemaligen Killer der Bande Mara Salvatrucha, der als Kronzeuge gegen einen Mara-Anführer namens Chepe Furia aussagt. Chepe Furia war vor einigen Jahren aus Los Angeles nach El Salvador zurückgekommen und hatte in einer Kleinstadt an der Grenze zu Guatemala eine Gang aufgebaut, die sich in Drogen- und Waffenschmuggel, Schutzgelderpressung, Entführung, Menschenhandel, Zwangsprostitution, Raub, Diebstahl und Mord betätigt, Krieg gegen verfeindete Banden führt und die gesamte Gegend terrorisiert. Chepe Furia knüpfte seine Kontakte in die örtliche Polizei, bekam eine Stelle in der Stadtverwaltung und operierte unter der schützenden Hand der Bürgermeisterin. Als ihn die Bundespolizei verhaftete, weil sie ihm mit der Aussage von El Niño die Beteiligung an einem Mord nachweisen konnte, setzte ihn ein Richter des Ortes unter einem Vorwand innerhalb von 24 Stunden wieder auf freien Fuß.

Schon in diesem ersten Kapitel gibt Óscar Martínez eine Probe seiner Kunst. Seine Reportagen beginnen meist mit einem Detail – einem Drogenschmuggler, einer Schießerei, einem Brunnen voller Leichen. Geduldig geht er seiner Geschichte nach, und mit jedem Gespräch, jeder Begegnung, jeder neuen Wende weitet sich das Panorama und es wird deutlich, wie tief sich die organisierte Kriminalität in die Gesellschaften Zentralamerikas hineingefressen hat. Als Leser hat man das Gefühl, Schritt für Schritt in die Hölle geführt zu werden.

In anderen Kapiteln schildert Martínez zum Beispiel, wie die mexikanischen Zetas in Guatemala, einem Hauptumschlagplatz für Kokain auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, mit grausiger Gewalt die alteingesessenen Drogenklans verdrängen, während der Staat Scheinmaßnahmen ergreift und seinen Frieden mit den neuen Machthabern macht. Wie Drogenbanden in den Naturschutzgebieten von El Petén an der Grenze zu Chiapas unbehelligt Pisten für ihre Drogenflugzeuge in den Urwald schlagen, während die Bauern als vermeintliche Drogenhändler vertrieben werden. Wie Regierungen auf Druck der Vereinigten Staaten hin und wieder einen mittelgroßen Fisch ausliefern, während der Drogenhandel in seiner Struktur unangetastet bleibt. Jede Reportage ist ein Puzzlesteinchen, und nach und nach fügt sich das Bild einer Region zusammen, die von organisiertem Verbrechen, Korruption und Terror von innen heraus aufgefressen wird.

Im Korridor des Todes

Es sind Ausnahmereportagen. Óscar Martínez ist immer nah am Detail, er hat einen scharfen Blick und eine mindestens ebenso scharfe Feder. Er verliert sich nie in Kommentaren und Spekulationen, sondern lässt seine Geschichten für sich sprechen. Dabei schreibt er mit höchstem Einsatz – lateinamerikanische Journalisten haben keine hohe Lebenserwartung.

Eine der besten Reportagen stammt aus der honduranischen Urwaldprovinz Copán. Es ist der „Korridor des Todes“ an der Grenze zu Guatemala, der fest in der Hand des organisierten Verbrechens ist. Hier feiern mexikanische Drogenbosse ihre Fiestas, hier sind Polizei und Verwaltung der verlängerte Arm der Narcos, hier herrschen die Bürgermeister wie mächtige Könige. Martínez fragt in Tegucigalpa an, ob er diese Region besuchen kann, und der zuständige Polizeichef „El Tigre“ Bonilla will ihm beweisen, dass er die Lage im Griff hat. Allerdings stattet er für die Pressereise gleich einen schwer bewaffneten Polizeikonvoi aus. Auf der Fahrt durch ein Dorf nimmt El Tigre einen Bürgermeister fest, weil der illegale Schusswaffen im Auto hat, und lässt ihn einsperren.

„Mir kann man nicht mit irgendwelchem Scheiß kommen“, tönt El Tigre. Doch dann klingelt sein Telefon. Erst will der Polizeichef von Copán wissen, warum der Bürgermeister festgenommen wurde. Dann der Minister für innere Sicherheit. Schließlich ein Abgeordneter. Vom Beifahrersitz aus beobachtet Martínez den schwitzenden Tigre. Auch ihm hilft vermutlich nur noch Beten.

Óscar Martínez, Eine Geschichte der Gewalt: Leben und Sterben in Zentralamerika, Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein, Verlag Antje Kunstmann, München 2016, 300 Seiten, 24,95 Euro

Jürgen Neubauer (Homepage des Autors) war Buchhändler in London, Dozent in Pennsylvania, Sachbuchlektor in Frankfurt und arbeitet heute als freiberuflicher Übersetzer in Mexiko. Nach Jahren in Mexiko-Stadt, Malinalco und Xalapa lebt er heute in Querétaro. Er ist Autor von Máximo Líder und Mexiko. Ein Länderporträt und schreibt zur Zeit an einem neuen Buch über Mexiko.

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