Geschrieben am 26. November 2014 von für Bücher, Litmag

René Böll (HG): Heinrich Böll: Köln gibt‘s schon, aber es ist ein Traum. Ein Autor und seine Stadt

Böll_KölnDer Geruch des Rheines.

Eine Sammlung aus Texten, replizierten Originaldokumenten und Bildzeugnissen über das komplizierte Verhältnis von Heinrich Böll zu Köln animiert dazu, die Ansichten eines Literaturnobelpreisträgers mal wieder aus dem Bücherregal zu ziehen. Vor allem die Domstädter selbst könnten sich verwundert die Augen reiben. Von Bruno Arich-Gerz

Bei „Böll und Köln“, mutmaßte Werner Koch 1979 in einem Gespräch mit dem Literaturnobelpreisträger, das sich wiederabgedruckt in dem soeben erschienenen Text- und Bildband „Köln gibt‘s schon, aber es ist ein Traum findet, liegen die Dinge anders als bei „Grass und Danzig“ oder „Joyce und Dublin“ (81). Die Mutmaßung traf und trifft immer noch in mindestens zweifacher Hinsicht zu.

Zum einen hat Heinrich Böll Zeit seines Lebens (und selbst über weite Strecken der Kriegsjahre) in Köln und Umgebung gelebt: anders als Grass in der polnischen Ostseestadt oder der freiwillig aus Irland fortexilierte James Joyce. Und mehr noch, Böll hat die Stadt über Jahrzehnte hinweg und bis zu seinem Tod immer wieder beobachtet, hat kritisch auf sie reflektiert: von den Zeiten vor dem Krieg, denen er melancholisch nachsinnt, über die Kriegs- und Zerstörungsjahre, in denen er der Stadt das zuschreibt, „was das unzerstörte [Köln] nie hatte: Größe und Ernst“ (59), durch die Wirtschaftswunderjahre bis ins Restaurations-Köln der 1970er und 1980er Jahre, mit deren städtebaulichen Manifestationen er sarkastisch im Duktus einer Litanei fremdelt:

„St. WDR / der du für uns gebaut hast / heiliger Lärmkotzer / Vertreiber / Unruhestifter / ruhelos / himmelstrebig / auf St. Gerling hinschwenkend / wann werden eure Kräne sich endlich umarmen / in unersättlicher Zärtlichkeit“ (121).

Zum anderen hinkt der Vergleich mit Grass und Joyce, weil Böll nie vorhatte, seine Stadt in Form eines Opus Magnum zu verewigen. Es gibt keine ‚Kölner Trilogie‘ aus der Feder des einen deutschen Literaturnobelpreisträgers, wie es sie aus der des anderen gibt; die in dem von René Böll herausgegebene Band versammelten Texte sind eher Kölle-Miszellen. Formexperimentell-innovative Odysseen durch die Stadt am Rhein unternimmt Böll, anders als Joyce in seinem Ulysses, ebenfalls nicht. Wenn überhaupt, dann sind es einfache Odysseen des Alltags, die ein Anwohner des Stadtteils Müngersdorf (der Böll in den späten 1950er Jahren war) auf sich nehmen muss, wenn er an Heimspieltagen des 1. FC Köln in der nahegelegenen Radrennbahn in sein Domizil finden will – also

„ohne auf den Fußballkalender geblickt zu haben, am Samstagmittag etwas so Konformistisches, geradezu peinlich Normales wie nach Hause will […] – er sollte möglichst seine Autonummer verhängen, sich, alle Schilder und winkenden Arme mißachtend, durchschlagen, mit viel Disziplin, aber ohne Gehorsam, listig wie Odysseus, auf daß er bald der strickenden Penelope am Kamin, im belagerten Müngersdorf gegenübersitze“ (227).

(Non-)Konformismus: Böll und die Kölnkonsumenten

Aus der kleinen Alltagsbeobachtung über die „Heuschreckenschwärme“ (225) der FC-Fans und seiner eigenen, im Zweifel immer eher widerborstigen als zustimmenden Sicht auf das Phänomen Fußballbegeisterung lässt sich die Grundkonstante der (An-)Sichten und Einstellungen Bölls zu Köln herauslesen, die den gesamten von René Böll gelungen eingeleiteten und mit exakten Exkursen zur Topografie und Topoi-Werdung Kölns im schriftstellerischen Werk seines Vaters versehenen Band durchziehen.

Diese Konstante ist das Nonkonformistische, das selbst in der Rede vom Konformistischen noch durchscheint, oder besser: das gegen den Strom Schwimmen eines Intellektuellen, der sehr genau darauf reflektiert, dass er in puncto Herkunft und Sozialisation überaus durchschnittskölnisch ist – katholisch, als Sohn eines Bildhauers im handwerklichen Mittelstand verortet –, sich zugleich aber gegen jede Form von Mitläufertum, unkritischem Mitmachen und gegen jenes scheinbar majoritätsabgesegnete Gewese stellt, das in Köln manchmal Klüngel heißt und neuerdings, von der Fußballvereins- bis zur Presselandschaft, zu fast monopolartigen Bedingungen vonstattengeht.

Konsequenterweise findet Heinrich Böll umgekehrt an Köln gerade das reizvoll, was seinen Zeitgenossen von damals und erst recht den Kölnkonsumenten von heute kaum als Allererstes in den Sinn käme. Dem gotischen Dom zieht er die viel älteren romanischen Kirchen vor. Am Karneval betont er das „Drei-Tage-Ventil“ (43) gegen preußischen Obrigkeitsdünkel von unten, verdammt dagegen ungewöhnlich kraftausdrücklich den heute so durchorganisierten wie durchbourgeoisierten „Mißbrauch der Drei-Tage-Freiheit, die […] sich immerhin ursprünglich gegen die Mächtigen richtete“ (44). Zur Mentalität der Kölner zählt für Böll – zugegeben den Heinrich Böll des Jahres 1953 – gerade nicht die Fähigkeit zur blinden Anhängerschaft, die Auswärtige ihnen schon mal gerne unterschieben, wenn sie meinen, dass Kölner doch schnell zu begeistern seien und dazu neigten, immer der lautesten Kapelle hinterher zu rennen:

„sie sind die am wenigsten fanatische Rasse, die ich kenne, und es ist gewiß kein Zufall, daß Hitler sich in keiner Stadt so wenig wohl gefühlt hat wie in Köln; die Souveränität der Bevölkerung liegt so sehr in der Luft, daß kein Tyrann, kein Diktator sich in Köln wohlfühlen kann“ (32).

Schließlich ist da der Rhein, die „schmutzige Majestät“ (25 und 263), dem Böll in seiner schweigenden, mächtigen und nicht postkartentauglichen grauen Präsenz in drei ausdrucksstarken Texten aus den Jahren 1957, 1960 und 1965 ausgiebig huldigt. Möglich, dass nur Mitkölner nachvollziehen können, was Böll meint, wenn er von dem markanten und tatsächlich unverwechselbaren „Geruch des Rheines“ spricht, der für ihn „so bedeutsam ist wie der Dom“ (31):

„bleibt der bleibende: der Rhein / kühl immer floß er vorbei / abweisend / war immer sich selbst genug / schluckte ungerührt / Trümmer Staub Wracks Bomben / gestürzte Brücken / den gesamten Kitsch / tausendjährigen Schwindels / hielt nie zur Besichtigung an / manchmal im Zorn / wenn er anschwillt / dringt er grimmig in sie ein / stellt der Stadt seinen Humor vor“ (270).

Bölls Kölns

Die Kontrafuge der böllschen Köln-Charakteristika hat Substanz, Hand und Fuß. Besondere Tiefe und eine gänzlich eigene Dimension der Wahrhaftigkeit erlangen Bölls Einwürfe jedoch vor allem dann, wenn er sich Köln erinnernd erschließt. Die Rückblicke geraten dabei umso emphatischer, je weiter die verschwundenen „Kölns“ (87) zurückliegen; Böll spricht 1976 von einer „melancholischen Optik“ (88) und nimmt sogar das Wort „heimatlich“ in den Mund, wenn es in seinen Ausführungen um „das Vorkriegsköln zwischen Raderthal und Chlodwigplatz, zwischen Vorgebirgsstraße und Rhein, dazu noch die Südbrücke und die Poller Wiesen“ und „das zerstörte Köln, in das wir 1945 zurückzogen“ (73) geht.

Dass sich in diesen Reflexionen die Stadtwahrnehmung der heute Hundertjährigen abbildet, macht diese Einwürfe zu wertvollen Zeugnissen einer Generation. Sie nobilitieren den Bild- und Textband Köln gibt’s schon, aber es ist ein Traum umso mehr, weil hier nicht für ein Philologenpublikum gesammelt, neu editiert, kommentiert und zusammengestellt worden ist, sondern für die (auch) vergangenheitsinteressierten Kölnkundigen.

Ein besonders aussagekräftiges Beispiel für die Generationenstimme, die Böll mit seinen Kölnansichten und -reminiszenzen auch ist und verkörpert, findet sich in einer Unterredung vom 18. November 1984. Gesprächspartner ist Wolfgang Niedecken, der von nicht wenigen als eine Art legitimer Böll-Nachfolger gesehen wird, was das biografisch unterlegt Sprachrohrhafte aus, für und gleichzeitig kritisch gegen Köln betrifft. Bei aller konstruierter Kontinuität stehen jedoch die generationalen Unterschiede im Vordergrund: Bölls zerstörtes Köln ist spürbar ein anderes als Niedeckens zerstörtes Köln – in seiner Zerstörung ernst und groß eben, und deswegen für den Literaten nicht nur als Memorabile bewahrenswert. Denn

„das wieder aufgebaute, dynamische Köln […], das passt nun überhaupt nicht. Köln zu dynamisieren ist schrecklich. […]. Die Leute werden aus der Stadt vertrieben in diese elenden Vororte, und ich habe die Zerstörung der Zerstörung eben systematisch miterlebt. Der Wiederaufbau, der sogenannte. Aber für Sie muß das eine ganz andere Erinnerung sein. Das erste Köln ist das zerstörte …“ (80).

Die Reaktion Niedeckens ist leider nicht (mehr) abgedruckt; wahrscheinlich stimmt(e) der heute Dreiundsechzigjährige dem beinahe hundertjährigen Böll zu. Wie sich überhaupt bei der Lektüre des Bandes dermaßen viele Verbindungslinien zwischen den Böll-Ansichten und den Songtexten des BAP-Frontmanns ausfindig machen lassen, dass eine intertextuelle Studie förmlich danach schreit, verfasst zu werden.

Böll und die Kölner von heute

Der Band ist aber nicht nur für vergangenheitsinteressierte Kölnkundige und Niedeckenphilologen eine Fundgrube. Er bietet auch den am zeitgenössischen Köln Interessierten Stoff – zugegeben hypothetischen, ‚hochgerechneten‘ Stoff –, die bereit sind, sich einzuhören und aufzunehmen, wenn und wie ein unbequem-kritischer Geist wie Heinrich Böll knapp dreißig Jahre nach seinem Tod seine Stadt im besten Sinn heimsuchen würde.

Die Monopole Kölns, die sich in den drei Jahrzehnten mehr und immer deutlicher herausgebildet haben, von der Dumont-Schauberg-Presse im Verbund mit Lokalfernsehkanälen bis zum Internetprovider, die alles neben sich verdrängungswettbewerben und dennoch in puncto journalistischer Qualität nur selten überregionales Format erreichen, wären ihm mit Sicherheit ein Dorn im Auge. Auch auf anderen Feldern als dem publizistischen Nordkorea, zu dem Köln verkommen ist, herrscht Mangel an Vielfalt: monistisch, um nicht zu sagen monotheistisch hängt alles am längst mittelmäßigen FC, der seine Mitgliederzahl seit den Zeiten Bölls vervielfacht hat auf inzwischen mehr als 60.000, während der auf seine Weise ambitioniertere Fußball längst (wieder) in Köln-Zollstock gespielt wird, bei der Fortuna, oder in Höhenhaus. Daneben hat es die konformistischen, Zweifel, Ambivalenz oder gar Kritik nicht mehr zulassenden Appelle von Stadtimagemachern („Liebe deine Stadt“). Und auf Kapuzenpullovern oder Autoaufklebern wird einem die wenig behagliche Rückbesinnung auf Semantiken anschaulich, bei denen sich bereits der Faschismus ausgiebig bedient hatte. In Runenschrift prangt in der Schriftformvariante des lokalen Dialekts „Kölsch Bloot“ auf den Klamotten und Karren: ‚kölsches Blut‘ als Erbgutträger und Rheinlandausweis seines Eigentümers.

Auf sowas wäre Heinrich Böll losgegangen, keine Frage, auch wenn die Style-Manager von Kölsch Bloot natürlich betonen, dass sich alle Kölner angesprochen fühlen dürfen, egal welcher Nationalität. Über die typografische wie diskursive Nazi-Anspielung würde Böll sich aufregen, und vielleicht einen Bogen spannen zum Breslauer Platz vor ein paar Wochen, wo viertausend Hooligans die Stadt, ihre vielgerühmte Toleranz und, im doppelbödig-hintergründigen Sinn, ihre Akzeptanz austesteten.

Wäre, würde: natürlich ist das alles hypothetisch und spekulativ. Doch gelangt die Lektüre des Bandes auch auf Umwegen zu den Gegenwartsphänomenen wie ‚Kölsch Bloot‘ – jedenfalls wenn man möchte. So etwa über das Gelenk der Stellen, in denen Böll aus seiner sehr persönlichen Flüchtlingserfahrung heraus auf das für ihn wesentliche Charakteristikum von Dialekten zu sprechen kommt: dass sie (auch) Instrumente der Exklusion sein können, dass sie allen leutseligen Bekenntnissen von wegen „Mir sin alles Kölsche“ zum Trotz abweisend wirken können: „Dialekte haben etwas von einem freiwilligen Ghetto, das andere ausschließt. Und dieses Ausschließen […] hat auch etwas Unoffenes. Diese manchmal pseudo-folkloristische Ausdrucksweise schließt zu viele Menschen aus“ (109). Zum Beispiel alle, die ‚kölsch Bloot‘ weder in sich pulsieren fühlen, noch die Rede davon überhaupt verstehen.

Fazit

Ohne eine gewisse Böll-Affinität kommt man bei der Lektüre von Köln gibt‘s schon, aber es ist ein Traum nicht aus, das sei eingestanden. Nicht nur Rheinländer und Domstädter werden, wenn sie diese Affinität besitzen, jedoch belohnt mit einem prächtig aufgemachten, sorgfältig edierten und zum Nach- und Querdenken anregenden Kompendium an kurzen Prosa- und Lyrik-Arbeiten des in Akademien, Verlagsprogrammen und Buchhandlungen längst (und verdient) einer Wiederentdeckung harrenden Literaturnobelpreisträgers.

Bruno Arich-Gerz

Heinrich Böll: Köln gibt‘s schon, aber es ist ein Traum. Ein Autor und seine Stadt. Herausgegeben von René Böll. KiWi 2014. 14,99 Euro.

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