Zwischen PS, Poetik und Revolution
– Mit vielen Vorschusslorbeeren der amerikanischen Literaturkritik versehen und gelobt von Kollegen wie Jonathan Franzen oder Colum McCann, ist Rachel Kushners voluminöser Roman „Flammenwerfer“ jetzt auch auf Deutsch erschienen. Eines kann vorweg genommen werden: Er ist alles andere als ein typischer amerikanischer Roman nach den erprobten Erfolgsrezepten aus den Creative-Writing-Laboren. Von Karsten Herrmann.
Die 1968 in Oregon geborene Rachel Kushner erzählt in ihrem Buch die Geschichte von Reno, die ebenfalls aus dem tiefen Westen und aus einer armen, „draufgängerischen, unsentimentalen Familie“ stammt. Ihre Passionen sind das Zeichnen und die Geschwindigkeit, am liebsten auf einer italienischen Moto Valera. Als junges, eigenwilliges Landei kommt sie in den 1970ern nach New York, wo sie in die von Aktionen und Performances geprägte Kunstszene SoHos eintaucht. Sie freundet sich mit Giddle an, deren Performance als Kellnerin so nahe am Leben ist, dass sie keiner als solche erkennt und lernt den schon älteren Künstler Sandro kennen. Er ist der Sohn der Motorrad- und Reifendynastie Valera, die in der italienischen Wirtschaft und Politik eine zentrale Rolle spielt. Auch wenn Sandro sich von der von seinem Bruder geführten Firma distanziert, besorgt er Reno eine brandneue 77er-Valera. Mit ihr bricht sie in die Salzwüsten Nevadas auf, wo sie an einem Landhochgeschwindigkeitsrennen teilnimmt und diese mit ihrer Bolex-Filmkamera dokumentiert: „Ich wollte die Dimensionen der Flats spüren“.
In einmontierten Rückblenden erzählt Kushner parallel auch die Geschichte von Sandros Vater, der bei den italienischen Futuristen und ihrer Sehnsucht nach „Geschwindigkeit und Wandel“ Geschmack am Motorradfahren fand und im Motorradbataillon der Arditti in den ersten Weltkrieg zog. Als genialer Ingenieur entwickelt er später das Moto Valera und kommt mit einer Reifenfabrik zu moralisch nicht einwandfreiem Reichtum. Ein Besuch von Sandro und Reno in der Sommerresidenz der Fabrikantenfamilie in Bellagio endet in einem Fiasko und Reno findet sich urplötzlich in Rom inmitten gewalttätiger Proteste und im Umfeld der Roten Brigaden wieder, die die Valeras ins Visier genommen haben.
Rachel Kushner erzählt ihren komplex angelegten Roman mit futuristischem Furor, mit unüberhörbarer Begeisterung für Maschinen, Geschwindigkeit und die wirbelnde Energie der Metropole New York. Zwischen den Koordinaten von Liebe und Vertrauen, Kunst und Rebellion, Gewalt und Revolution schickt sie ihre Protagonistin auf eine wilde Reise, die sich primär an den Zeichen und Oberflächen der Welt orientiert und nur wenig in psychologische Tiefen vordringt. Ihre Prosa gleicht dabei phasenweise der freien Improvisation eines Jazzmusikers, der beim Entwickeln seiner Themen lustvoll abschweift und sich zuweilen ganz seinem Assoziationsfluss überlässt. „Flammenwerfer“ ist in diesem Sinne auch ein Roman des Fragmentarischen, Vorläufigen, und Versuchenden, der den Leser packen und mitreißen, mitunter aber auch irritieren kann.
Karsten Herrmann
Rachel Kushner: Flammenwerfer (The Flamethrowers, 2013). Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt Verlag, 2015. 560 Seiten. 22,95 Euro.