Geschrieben am 14. Dezember 2011 von für Bücher, Litmag

LitMag-Quickies

Kurzrezensionen – diesmal mit einer Haiku-Rezension über David Mazzucchelli (Friederike Moldenhauer) und neuen Büchern von NJ Stevenson, Bora Ćosić, Schwarwel, Julio Llamazares, Eva Illouz und Nikola Madzirov; besprochen von Christina Mohr (CM), Brigitte Helbling (BH) und Carl Wilhelm Macke (CWM).

(FM) Haiku-Rezension

Grafischer Roman
Architekt stellt Sinnfrage
super gestaltet

David Mazzucchelli: Asterios Polyp (Asterios Polyp 2009). Graphic Novel.  Aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger. Durchgehend zehnfarbig, Halbleinen. Eichborn Verlag 2011. 344 Seiten. 29,95 Euro.

Krinolinenröcke auf Fesselballongröße

(CM) Frei nach Oscar Wilde behaupten wir, dass nur sehr oberflächliche Menschen dem äußeren Erscheinungsbild keine Bedeutung zumessen. An der Bekleidung lässt sich vieles über ihre/n Träger/in ablesen: gesellschaftliche Stellung, stilistisches Gespür, finanzielles (Un-)Vermögen und nicht zuletzt die politische Haltung. Thor Steinar-Klamotten trägt man schließlich nicht, weil sie so schick und bequem sind, oder? Man muss sich aber nicht in derart hässliche Untiefen begeben, um den historischen und kulturellen Stellenwert der Mode zu verstehen: Die britische Stylistin und Modejournalistin NJ Stevenson stellt in ihrem rundum empfehlenswerten Buch „Die Geschichte der Mode“ nicht nur „Stile, Trends und Stars“ vor, wie es der Untertitel verspricht, die Autorin zeichnet anhand des „chronologischen Laufstegs“ ein umfassendes Bild der Textilkunst vom späten 18. Jahrhundert bis heute.

Stevenson porträtiert herausragende Designer und Stilikonen, wobei sie sich nicht auf die sattsam bekannten Namen verlässt, sondern auch in Vergessenheit geratene TextilkünstlerInnen wie Elsa Schiaparelli und Jeanne Lanvin vorstellt. Dank zahlreicher Abbildungen und erklärender Texte erkennt man en passant, was die jeweilige Mode über ihre Zeit aussagt. Ein Beispiel: während der Herrenanzug im mittleren 19. Jahrhundert immer lässiger und einfacher wurde, steckten die Damen in Vogelkäfig-ähnlichen Gestellen, die ihre Krinolinenröcke auf Fesselballongröße brachten. Komfort und schnelle Fortbewegung: Fehlanzeige. Ein Paradigmenwechsel nicht nur in punkto Silhouette war dringend angesagt; Reform- und Tenniskleider, Hosenanzüge, Jazz-Ära und wilde Flapper-Girls trugen aber erst gute fünfzig Jahre später zur Emanzipation der Frauen bei.

Beobachtungen wie diese lassen sich in Stevensons Buch tausendfach machen: welche gekrönten Häupter hatten den stärksten modischen Einfluss auf ihre UntertanInnen, wer war Beau Brummel und wer schneiderte das erste kubistische Gewand? Was trug die patriotische Engländerin während des Zweiten Weltkriegs? Wie lange brauchte Mary Quandts Minirock, um sich flächendeckend durchzusetzen und wie sahen die Männer in den sechziger Jahren aus? Und heute: woraus zieht Lady Gagas Designerstab die Inspiration und wie werden wir in zwanzig Jahren herumlaufen? NJ Stevenson zeigt all das und noch viel mehr und wer nach Lektüre dieses Buches Mode noch immer für nutzlosen Tand hält, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.

NJ Stevenson: Die Geschichte der Mode: Stile, Trends und Stars. Haupt Verlag 2011. Gebunden. 288 Seiten. 29,90 Euro. Zur Leseprobe.

Wohin verschwindet das Licht?

(CWM) Bora Ćosić erinnert sich an seine frühe Kindheit in Zagreb – Erinnerungen an die eigene Kindheit zu schreiben, gehört zu den beliebtesten Genres in der Literatur. Die Zahl einschlägiger Romane, Erzählungen und biographischen Erinnerungen ist entsprechend unüberschaubar. Und nicht alle Erinnerungen sind es wert, gelesen zu werden. Die Gefahr, hier in einem Meer von Anekdoten und für andere belanglose Geschichtchen zu ertrinken ist groß. Dass aber ein Schriftsteller versucht, sich in das Kind hineinzuvertiefen, das er einmal vor vielen Jahren gewesen ist, ist schon seltener anzutreffen.

Marcel Proust und Walter Benjamin sind hier die ganz großen Vorbilder. In deren Tradition stehen auch die Erinnerungen an eine nur kurze Kindheit in Agram von Bora Ćosić. So wie auch heute Agram nicht mehr existiert (sein heutiger Name ist Zagreb), so ist auch die Welt, die der Autor hier beschreibt längst untergegangen. Mit einem sehr großen Einfühlungsvermögen und einer bezaubernd poetischen Sprache versucht Ćosić sich noch einmal als ein kleines Kind zu sehen, das sich mit riesiger Neugierde Schritt für Schritt und Gegenstand für Gegenstand die Welt anzueignen versucht.

Foto: © Bogdan Pedović

Wie hat das Kind Bora das Zählen, das Schreiben, die Sprache oder die Bedeutung des Lichts erlernt. „Ich verstehe nicht, wie es sein kann, dass das Tageslicht allmählich verlischt und sich die Welt plötzlich verdunkelt. Wohin verschwindet es, wo versteckt es sich?“ Wie entsteht „Lesewut‘, warum ist die Welt ohne Buchstaben „unvollständig“?

Dem Autor ist hier auf relativ wenigen Seiten eine ganz wunderbare Kindheitserinnerung gelungen, der man eine große Leserschaft wünscht. Auch wenn man wie der Rezensent nicht die serbische Originalsprache des Autors versteht, hat die deutsche Übersetzung einen ganz eigenen Ton gefunden. Der Autor wie die Übersetzerin haben uns hier ein kleines literarisches Juwel geschenkt.

Bora Ćosić: Eine kurze Kindheit in Agram. Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co. 2011. 157 Seiten. 18,95 Euro. Foto: © Bogdan Pedović

Humor als Waffe

(BH) Jedes Mal, wenn unser Monats-Cartoon „Mauli“ in einer Zeitschlaufe hängenbleibt und zum Beispiel noch bis Anfang Dezember seinen Halloween-Kürbis von Ende Oktober umarmt, wissen wir, dass sein Schöpfer Schwarwel entweder (unwahrscheinlich) von Aliens entführt worden oder (wahrscheinlicher) in fünf Trickfilm und Comicprojekten gleichzeitig abgetaucht ist. Schwarwels weitere Existenz auf unserem Planeten ist für uns dann einzig noch aus den Cartoons ablesbar, die der Meister aus Leipzig ohne Fehl sechs Mal die Woche produziert.

Wie viele andere Erleuchtungssucher beginnt Schwarwel sein Tagwerk mit einer Meditation, nur meditiert er mit Papier und Zeichenstift über dem Hier und Jetzt und das Ergebnis sind Cartoons, die in Publikationen vom Handelsblatt und Financial Times Deutschland über Cicero und Hamburger Abendblatt bis hin zum Evangelischen Sonntagsblatt zu finden sind.

Wer sich mit den Holzmedien nicht mehr abgeben mag, kann die Befunde zur Weltlage auch täglich auf Schwarwels Website lesen. Hier arbeitet ein wacher Geist mit Humor als Waffe gegen den Unbill einer Welt, in der die Reichen und Mächtigen davon auszugehen scheinen, dass der Flachgang ihres Unwesens schon keinem auffallen wird. Aber erstens: Ist das Bildungssystem in diesem Land durchaus noch nicht soweit runtergerockt, dass die Menschen nicht für sich selbst zu denken verstünden und zweitens: Sprechen Schwarwels Bild-Analysen auch für lesefaule Betrachter eine klare Sprache.

„Empört euch!“ ist als Subtext in viele der Weltbetrachtungen eingeschrieben, bisweilen geht es um leisere Vorgänge. Etwa Schwarwels Abschied von Loriot: Kann man diesen Verlust angemessener und rührender darstellen? Für die, die weder täglich klickmachen mögen noch unentwegt Zeitungen aufschlagen, gibt es seit neustem den Sammelband: „Die Bändigung des Kapitalismus“ versammelt Karikaturen & Cartoons aus 2010 und 2011 und darf als Einstiegsdroge in Schwarwels Nachrichten-Blick auf die Welt genommen werden.

Schwarwel: Die Bändigung des Kapitalismus. Karikaturen & Cartoons 2010/2011. Leipzig: Glücklicher Montag 2011. 104 Seiten, 12,90 Euro. Erhältlich im Schwarwel-Shop.

Aus einer anderen Zeit

(CWM) Julio Llamazares reist zu spanischen Kathedralen – Wie schreibt ein erklärter Agnostiker über Orte, die nur und ausschließlich zur größeren Ehre Gottes errichtet wurden? Zieht er alle Register der antiklerikalen Polemik? Macht er sich lustig über Gläubige, die eine bröckelnde Steinstatue anbeten? Klagt er über die Verschwendung von Geldern, die für die Linderung von sozialer Not vielleicht besser ausgegeben wären? Von alledem ist auch in den Aufzeichnungen von Julio Llamazares etwas zu lesen, aber es steht nicht im Mittelpunkt dieses Buches. Vor allem und von Seite zu Seite mehr steigt das Staunen des Autors über die Grandiosität der Kathedralenkultur in seinem Heimatland Spanien. Ich habe nie eine der von Llamazares beschriebenen Kathedralen gesehen, aber jetzt nach der Lektüre dieses Bandes, möchte ich sofort aufbrechen, um die großen sakralen Festungen in Burgos, Salamanca, Leòn, Santiago de Compostela, Oviedo, Tudela, Àvila und Barcelona einmal aus der Nähe wahrzunehmen. Llamazares beschreibt sie so unglaublich plastisch, so sinnlich, dass man manchmal glaubt, man stehe neben ihm und blicke selber auf die monumentalen Eingangsportale, über denen die großen Erzählungen der Bibel in filigranen Kunstwerken wiedergegeben werden. Immer wieder stößt man auf eine Begeisterung über das Gesehene, die in Worten kaum wiederzugeben ist. „Was für eine Schönheit, was für ein überwältigender Raum!“

Gerade weil Llamazares nicht als gläubiger Christenmensch die Kathedralen erkundet, ist seine Leidenschaft für die Kunst dieser sakralen Bauten auch so authentisch, ja manchmal sogar ergreifend. Das Spanien, über das Llamazares hier am Beispiel seiner monumentalen Kirchenbauten nachdenkt, gibt es nicht mehr. Spätestens wenn er über die durch die Kathedralen herumpolternden Touristemassen oder über die Reiseandenkenindustrie schreibt, ist man wieder angekommen im heutigen Spanien. Aber es gab einmal eine andere Zeit, in denen die Menschen eine andere Vorstellung vom Leben und seinen Werten hatten als heute.

Julio Llamazares verklärt diese Zeit nicht, er ruft sie uns nur am Beispiel der Kathedralenkultur noch einmal in Erinnerung. „Diese Bücher (der Kathedralen) zu entziffern, diese herrlichen Rosen zu entblättern, die unzählige Gefühle und Geheimnisse in sich bergen, und gleichzeitig die Wege und Städte eines Landes zu erkunden, in dem ich geboren und aufgewachsen bin und das ein weiteres phantastisches Buch aus Träumen und Landschaften darstellt, ist das Anliegen dieses Buches“.

Julio Llamazares: Rosen aus Stein. Spanische Kathedralen von Santiago bis Segovia. Übersetzt von Astrid Böhringer. Carl Hanser Verlag 2011. 174 Seiten. 14,90 Euro.

Konsumistisch gesteuerte Gefühle

(CM) Die israelische Soziologin Eva Illouz kommt in ihrem neuen Buch „Warum Liebe weh tut“ zu einem so frappierenden wie desillusionierenden Fazit: dass „die Liebe“ so kompliziert und häufig schmerzhaft ist, liegt an der zunehmenden Individualisierung des modernen Menschen, die wiederum mit dem Siegeszug des Kapitalismus begann. In früheren Zeiten waren Paare/Partner essenziell aufeinander angewiesen und mussten „funktionieren“, damit das familiäre Gefüge nicht zerbricht. Für individualistische Strömungen blieb keine Zeit. Das ist heute völlig anders, jede/r strebt nach Selbstverwirklichung – und nach Illouz kommen Männer mit dieser Veränderung besser zurecht als Frauen. Denn Frauen sehnen sich – angeblich – nach festen und monogamen Beziehungen, Männer – als die Jäger und Sammler, die sie seit Urzeiten sind – prahlen dagegen gern mit häufigen und wechselnden Sex-PartnerInnen.

Leider wird nicht ersichtlich, ob diese geschlechtsspezifischen Unterschiede Zuschreibungen der Autorin sind oder auf Untersuchungen beruhen – was aber für die Aussage des Buchs letztlich unerheblich ist. Wie in ihren vorherigen Büchern „Der Konsum der Romantik“ und „Die Errettung der modernen Seele“ erklärt Illouz ihre Thesen mit den Auswirkungen des Kapitalismus bis in die privatesten Bereiche hinein, weshalb auch Gefühle wie Eifersucht, Liebeskummer und Sehnsucht konsumistisch gesteuert sind. Das schmerzt in der Tat und wird Christiane Rösinger gefallen, die ja schon lange davon überzeugt ist, dass die „RZB“ (=romantische Zweierbeziehung) nichts weiter als ein Konstrukt ist.

Eva Illouz: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Suhrkamp Verlag 2011. Gebunden mit Schutzumschlag. 467 Seiten. 24,90 Euro. Eine Leseprobe finden Sie hier.

Wenn die Zeit aufhört – Gedichte von Nikola Madzirov

(CWM) Nikola Madzirov wurde 1973 in Mazedonien, einem im heutigen Europa sehr an den Rand gedrängten Land, geboren. Dass in dem ansonsten gewohnt gut präsentierten neuen Band der Münchner „Edition Lyrik Kabinett“ keine weitere biographische Information geliefert wird, nimmt man mit Erstaunen zur Kenntnis. Wenigstens eine Fußnote zum Autor hätte man sich doch gewünscht. Steht in vielen Neuerscheinungen die Biographie des Autors zu sehr im Mittelpunkt, findet man hier das Gegenteil einer vollkommenen „De-Personalisierung“ der Literatur. So wird der Leser gezwungen, nur die Gedichte eines bislang im deutschen Sprachraum unbekannten Lyrikers zu lesen.

Und dann stößt man auf ganz wunderbar leichte Gedichte, von denen man einzelne Verse auswendig lernen möchte, um sie immer bei sich zu haben. „Sei allein, aber nicht einsam,/ damit dich der Himmel umarmen kann./ Damit du die einsame Erde umarmen kannst.“ Überhaupt ist in einigen Gedichten immer wieder von „Umarmungen“ die Rede mit denen der Autor der Welt begegnet. Aber es sind keine Gesten des Einverständnisses mit der Welt so wie sie ist, sondern Öffnungen zu anderen Sichtweisen des uns bekannten Alltags. „An der Umarmung hinter der Ecke wirst du erkennen,/ daß jemand fortgeht, irgendwohin. So ist es immer…Mein Herz faßt mehr und mehr Menschen, weil sie nicht mehr da sind.“

Immer wieder schimmert auch Zeitgeschichte durch in seinen Gedichten, die so still daherkommen und so vieles zu sagen haben. „Ein Überbleibsel eines anderen Jahrhunderts sind wir./ Wie Wölfe im Visier der ewigen Schuld/ ziehen wir uns in die Landschaften/ der gezähmten Einsamkeit zurück“ (aus dem Gedicht „Wenn die Zeit aufhört“).

Und dann ein Vers, in dem sich die „große Geschichte“ kreuzt mit der „kleinen Geschichte“ des Autors: „Europa vereinte sich,/ bevor wir geboren wurden, und das Haar/ eines Mädchens breitete sich ruhig/ über die Oberfläche des Meeres aus“. Dieses Europa, an das uns der Autor hier erinnert, wünschen wir uns auch und nicht nur das Europa der hetzenden Börsenmakler, der kühlen Spekulanten und trickreichen Politiker.

Nikola Madzirov: Versetzter Stein. Aus dem Mazedonischen von Alexander Sitzmann. Edition Lyrik-Kabinett bei Hanser 2011. 58 Seiten. 14,90 Euro.

Tags : , , , , ,