Geschrieben am 4. November 2015 von für Bücher, Litmag, News

LitBits: Besprechungen neuer Bücher, Oktober 2015.

Sammelrezension – diesmal mit Besprechungen von Tomi Ungerer („Incognito“), Kathrin Hartmann („Aus kontrolliertem Raubbau“), Gary Shteyngart („Kleiner Versager“), Claudia Erdheim („In der Judenstadt“), Cornelia Travnicek („Junge Hunde“), Niq Mhlongo („Way back home“), E.L. Doctorow („In Andrews Kopf“), Jakob Hinrichs, Hans Fallada („Der Trinker“), Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki („Tumor linguae“), Joe J. Heydecker, Johannes Leeb („Der Nürnberger Prozess“), Ronen Steinke („Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht“), Isabella Feimer („Trophäen“), David Signer (Hg.) („Grenzen erzählen Geschichten“) und Stefan Wimmer („Das große Bilderbuch der Vulkanvaginas“) – geschrieben von Alf Mayer (AM), Michael Höfler (MH), Karsten Herrmann (KH), Senta Wagner (SW), Jan Karsten (JK), Bruno Arich-Gerz (BAG), Andreas Pittler (AP), Tina Manske (TM), und Sebastian Knauer (SK).

Ungerer_incognitoTomi Ungerer, unbekannte Werke

(AM) Über 40 lieferbare Bücher von Tomi Ungerer listet der Diogenes-Verlagsprospekt. Klar, dass der Verlag nun einen großzügig gestalteten Katalog zur Ausstellung „Incognito“ im Kunsthaus Zürich (30. Oktober 2015 bis 7. Februar 2016) und dann im Museum Folkwang Essen (18. März bis 15. Mai 2016) herausbringt. Die nummerierte und signierte Vorzugsausgabe gibt es für 500 Euro bzw. 500 Franken. Die von Cathérine Hug kuratierte Ausstellung und das Buch präsentieren 150 Collagen und 18 Objekte, insgesamt 168 bisher unbekannte Ungerer-Werke. Für Fans gewiss eine gute Nachricht; ob jedoch der um Ruhm ja nie verlegene, 1931 geborene Ungerer damit neue Freunde gewinnen wird, halte ich für etwas fraglich. Denn hier herrscht die Methode Holzhammer.

Im Zeitalter von Photoshop und raffinierter Bildbearbeitung wirken Collagen von Zeitungs- und Illustriertenausschnitten oder Zeichnungen, in die Ausgeschnittenes eingesetzt wurde, vielleicht doch etwas krude. Lassen sich John Heartfield und George Grosz, die Toilettenbrillen des Dadaisten Jean-Hans Arp und die Montagen des Surrealismus ohne Brechung einfach so ins Heute weiterschreiben?

Ungerer zeigt viel rohes Fleisch und Fischköpfe; eine Frau, die einem Mann aus dem Hosenschlitz schaut; Mumien in einem Kochtopf, von einer jungen Frau mit Baskenmütze betrachtet; Kulis, die einen Straßenkreuzer ziehen; Lippenstifte und Raketen als „Lip Service“; eine „Beach Party“ mit erschossenen Kriegskindern; ein behaarter Venushügel vor dem Monument Valley als „Last Frontier“; ein Olympiaschwimmer, der auf eine splitternackte Frau als „The Bait“ zukrault; eine auslaufende Mayonnaisetube als Penis montiert; Der Spalt zwischen zwei Fingeransätzen als Nacktfoto, ein Arschgesicht; ein Männerkopf in einem Frauenslip als „Falling in Love“; zwei Spiegeleier als Brüste; ein High Heelabsatz mit zeichnendem Bleistift; zwei ausgemergelte afrikanische Hungergesichter und ein Hotdog als „I Had A Dream“; ein wucherndes Gehirn als „Nightmare“. Viele Varianten vom „Warten auf Godot“, nicht alle so witzig wie die Galerie von traurigen Hunden vor einem Kochtopf, nicht alle so schlüpfrig wie das Taxi vor den offenen Schenkeln einer Frau. Überhaupt ist der Ungerer-typische Schlüpfrigkeitsfaktor durchaus gegeben, wenn auch in Maßen. Bei den Objekten finden sich Frauentorsos und Dildomaschinen.

Kalau hat Mitspracherecht, etwa bei den wörtlich genommenen Fischnetzstrümpfen, auch der schlechte Geschmack und die Ungerer-Prise Chauvinismus (eine Frau mit Schimpansengesicht u.ä.). Für Zürcher Verhältnis beißend ist gewiss einiges zu Globalisierung oder Waffenlobby. Witzig sind die dünnen Pilze, die nach „Mehr Licht“ verlangen, ein „German Living Room“ mit zwei auf Sessel und Sofa fläzenden Würsten, Krieg und Frieden als Kartenhaus mit Panzer, die Hommage an Orson Welles (S. 298) oder halb geöffnete, bleichfarbene Sardinendosen als „The Ward“.

Der aus dem Elsass stammende Ungerer, der sich politisch bereits 1961 mit „Tomi Ungerers Weltschmerz“ äußerte, 1971 in „Poster Art“ und 1989 mit „Schnipp Schnapp“ die hier versammelten Techniken erprobte, war in jungen Jahren schwer beeindruckt vom spätmittelalterlichen Isenheimer Altar des Matthias Grünewald. Anlässlich der Verleihung des Jacob-Burckhardt-Preises sprach er 1983 darüber so: „Die krummnasigen, pestbeuligen Lumpenkerle von Grünewald sind nun schönheitsoperierte Ex-Gattinnen, von ihrer eigenen Wichtigkeit aufgeblasene Geschäftsleute, eine konsumsüchtige Gesellschaft, die in spektakulären Schlitten umherbraust …“

Tomi Ungerer: Incognito. Katalog zur Ausstellung im Kunsthaus Zürich (30. Oktober 2015 bis 7. Februar 2016) und im Museum Folkwang Essen (18. März bis 15. Mai 2016). Diogenes Verlag, Zürich 2015. Hardcover, Leinen. 424 Seiten, 168 Abbildungen. 49,00 Euro. Auch als limitierte und signierte Vorzugsausgabe, Preis 500,00 Euro, erhältlich.

Hartmann_RaubbauBlick hinter die Fassade des scheinbar sauberen Biokonsums

(MH) Es gibt viele Möglichkeiten, sich seinen Konsum trotz des Wissens um die Endlichkeit des „ewigen“ Wachstums schönzureden. Die wohl populärste heißt Bio. In einer Welt, in der alles käuflich ist, lässt sich freilich auch der Anschein von Umweltverträglichkeit kaufen. Dafür werden Zertifikate und Preise erfunden, mit denen sich die Lebensmittelkonzerne über eigens gegründete Testinstitute selbst Sorgfalt im Umgang mit Natur und Mensch bescheinigen. Von Michael Höfler

„Aus kontrolliertem Raubbau“ beginnt damit, dass Autorin Kathrin Hartmann die Verleihung des „Deutschen Nachhaltigkeitspreises“ besucht, den 2012 der weltweit größte Hersteller von Palmöl, Unilever, in der Kategorie „Deutschlands nachhaltigste Zukunftsstrategie (Konzern)“ gewonnen hat. Hartmann ist für ihr Buch mehrmals nach Borneo gefahren, wo angebaut wird, was viele Lebensmittel und Kosmetika so geschmeidig macht, wie wir Konsumenten es gerne haben. Doch die „Nachhaltigkeit“ beim Palmölanbau präsentiert sich ihr als trostloses Land aus Schlamm und Baumstümpfen. Dazwischen Menschen, die ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden.

Hartmann reist in weitere Gebiete der Landnahme des „grünen Katastrophenkapitalismus“, wo Biosprit, Bioshrimps und Tütensuppen erzeugt werden, wo Bauern durch Saatgut in ewige Abhängigkeit genötigt werden, wo Gentechnik industriegemachte Probleme lösen soll, und wo statt der Natur die Armut als „nachwachsende Ressource“ gepflegt wird. Je größer eine Sauerei, so das Buch, umso größer der Aufwand, sie durch Vereinnahmung von Politik und gar Umweltorganisationen wie Greenpeace „grün zu waschen“.

All dem liegt laut Hartmann der Irrglaube zugrunde, man könne weiterhin beliebig viel von überall her konsumieren, so es sich nur um Bio handle, was aber nicht funktionieren könne, wenn alle Bio konsumierten. Neue Strategien sollen uns das Gegenteil glauben machen und dürften in ihrer Perfidität die Leser überraschen. Und für die Probleme, die gar nicht wegzureden seien, gebe es noch die Illusion einer bald entwickelten, ressourcenfreien Supertechnologie. Bis dahin jedoch richteten Erzeugnisse wie Biosprit noch viel größere Schäden an als Konventionelles.

Obendrein erfährt der Leser, wie Bill Gates mit seiner Stiftung Macht über die WHO gewonnen hat und damit zunehmend bestimmen darf, um welche Krankheiten sich die Gesundheitsorganisation der Weltgemeinschaft kümmert.

Kathrin Hartmann blickt weit hinter die Fassade des scheinbar sauberen Biokonsums, trifft Dutzende Opfer und Kritiker (die Kritisierten waren wenig gesprächsbereit) und nimmt die Mechanismen hinter dem Irrsinn gründlich auseinander. In ihrem eiligen, oft parteiischen Schreibstil blitzt mitunter der Furor auf, der sie antreibt. Der befruchtet ihre Arbeit, dürfte als Stilmittel der Polemik jedoch Leser, die nicht ohnehin schon auf ihrer Seite stehen, Anlass geben, das Buch mit bequemer, falscher Logik abzutun („wer polemisch schreibt, hat Unrecht!“). So könnte das Buch auf ähnliche Weise Ablehnung erfahren, wie die Illusion des unbegrenzten Biokonsums genährt wird. Und da Argumentverdrehung derzeit so hoch im Kurs steht, noch zur Sicherheit der Hinweis: Das Buch sagt nicht aus, dass Bio grundsätzlich falsch sei.

Kathrin Hartmann: Aus kontrolliertem Raubbau. Wie Politik und Wirtschaft das Klima anheizen, Natur vernichten und Armut produzieren. Blessing Verlag 2015. 448 Seiten. 18,99 Euro.

shteyngat_versagerAmüsantes interkulturelles Lehrstück

(KH) Schon in seinen ersten drei hochgelobten Romanen verarbeitete der im Alter von sieben Jahren aus Russland in die USA emigrierte Gary Shteyngart viele seiner eigenen Erfahrungen und Erlebnisse zwischen Ost und West auf hochamüsant-hintergründige Weise. Nun lüftet der 43jährige mit seiner Autobiographie die „Matrojschka der Erinnerung“ vollständig und bereitet dem Leser auch damit wieder ein kurzweiliges Lesevergnügen.

Geboren wurde Gary Shteyngart 1972 als Sohn jüdischer Eltern im damaligen Leningrad und heutigen St. Petersburg. Aus dem allgegenwärtigen Mangel und der Repression wandert die Familie mit dem kränklichen und überbehüteten Gary Ende der 70er Jahre über die Stationen Wien und Rom in den New Yorker Multi-Kulti-Stadtteil Queens aus. Es war eine abrupte „große Entwurzelung aus Sprache und gewohnter Umgebung“ und mit Witz beschreibt Shteyngart die überall lauernden interkulturellen Missverständnisse und Fallstricke. Schnell wird Gary in der Schule zum Außenseiter und erst als er schon früh anfängt Science Fiction-Geschichten zu schreiben und über den Fernseher seiner Großmutter die amerikanische Pop-Kultur aufzusaugen, steigt er im Ansehen seiner Mitschüler ein paar Stufen höher.

In der Highschool-Zeit engagiert Gary sich in Bushs Wahlkampteam und pflegt seine Ressentiments gegen Farbige, Hispanos und gegen alle, die es noch schlechter als er selber haben: „Auf andere herabzusehen hat mich jahrelang über Wasser gehalten“. Auf dem linken Oberlin-College orientiert er sich dann aber schließlich in Richtung der Freaks und verbringt seine Tage zunehmend mit Trinken, Kiffen, Lesen und Schreiben. Er gibt sich als „junger Flaneur mit Ziegenbart, verzweifelt urban, besessen von allem, was nach Orwell und Dos Passo riecht.“ Endgültig wird er in den Augen seiner aufstrebenden und ehrgeizigen Eltern zur Enttäuschung und als der titelgebende „failurtschka“ (Kleiner Versager) tituliert. Doch mit 28 Jahren kommt mit seinem „Handbuch für russische Debutanten“ schließlich der literarische Durchbruch.

„Kleiner Versager“ ist eine äußerst geistreiche, amüsante und ungeschminkte Immigranten-Autobiographie. Bis zum äußersten treibt Gary Shteyngart hier das Spiel der Selbstironisierung und begegnet der erfahrenen Entfremdung und Demütigung in der neuen Heimat mit der spitzen Waffe des (Galgen-)Humors. Pointiert und an unzähligen alltäglichen Details zeigt er, was es bedeutet, seine Wurzeln zu verlieren, zwischen den Welten zu leben und seinen Weg dennoch zu finden. Gerade in den heutigen Zeiten, in denen Hunderttausende ihre Heimat auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben verlassen, kann das Buch daher auch als ein interkulturelles Lehrstück dienen.

Gary Shteyngart: Kleiner Versager (Little Failure. A Memoir). Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt. Rowohlt 2015. 474 Seiten. 22,95 Euro.

Erdheim_JudenstadtGlanz und Elend

(SW) Vierhundert Jahre her das Ganze, na und? Hierwurde einfach ordentlich abgestaubt. Versiert und lebhaft, durchsetzt von zahllosen jiddischen Begriffen, weiß Claudia Erdheim in ihrer Erzählung „In der Judenstadt“ vom Schicksal der Wiener Juden in der Zeit von 1625 bis 1670 zu erzählen. Schlecht ging es denen ja irgendwie immer. Ghettoisierung, Armut, Steuerlast, Krankheiten, schlechte Geschäfte, alles ein großer Jammer. Und zu allem Überfluss, die Donau. Immer wieder stand die Judenstadt (die heutige die Wiener Leopoldstadt) unter Wasser. Lauter „Verhängnisse des Himmels“ und Schrecken: „Da behüte uns Gott davor!“ Doch Lena und ihre Mischpoche geben sich wehrhaft und wendig bis zum Schluss und sorgen für manchen Glanz in der Stadt und manches Schmankerl. Erdheims Sprache passt sich dem tagtäglichen Überleben an, ist flott, zierdelos, protokollartig, stets im Präsens, die Figurenreden nur mit lapidaren Spiegelstrichen abgesetzt – großartig.

Claudia Erdheim: In der Judenstadt. Erzählung. Wien: Czernin Verlag 2015. 144 Seiten. 18,90 Euro. E-Book: 14,99 Euro. Adaptiert vom Hotlistblog.

Travnicek_junge hundeErwachsenwerden (mit Bienen)

(JK) Cornelia Travniceks prägnanter Erstling „Chuck“ erzählte vom Erwachsenwerden und vom Abschiednehmen, mal rotzig, mal humorvoll, immer poetisch. Das war großes Kino – und wurde gerade verfilmt. Auch Travniceks zweiter Roman „Junge Hunde“ handelt vom Abschied, von der Vergänglichkeit – aber auch vom Ankommen. Es ist ein Roman übers Erwachsenwerden, aber mehr noch übers Erwachsen-sein – allerdings eines, das erst ganz am Anfang steht.

Wir beginnen zu lesen, die Sprache kreiselt vor sich hin; es ist ein fast selbstgenügsamer Text, der angenehm unaufdringlich daherplätschert. Und es dauert eine Weile, bis man merkt, wie durchkomponiert das gesamte Gebilde doch eigentlich ist. Es geht um zwei junge Erwachsene, so Anfang zwanzig, Freunde seit Kindertagen. Und um ihre sozialen Beziehungen und Familien, die, wie wir bald ahnen, mehr verbindet, als es zu Beginn den Anschein hat.

Die beiden sind an einem Punkt in ihrem Leben, wo die alten Gewissheiten zerfallen und die neue und eigene Identität sich gerade erst entwickelt. Der eine, Ernst, ein Adoptivkind, fährt nach China, um seine leibliche Mutter aufzuspüren. Dort beginnt er, auf der Suche nach seinen Wurzeln, sich immer weiter zu verlieren. Travnicek findet starke Bilder für die Entwurzelung des jungen Mannes, für sein „fehlerhaftes Chinesischsein“, wenn sie ihn verloren durch ein Land irren lässt, in das er sich zwar äußerlich einblenden kann, in dem aber die Kommunikation so gut wie unmöglich ist, weil kaum einer sein offenbar selbst angelerntes Chinesisch versteht.

Im zweiten Handlungsstrang kommt es für Ernsts Jugendfreundin Johanna knüppeldick. Ihre Mutter lebt schon längere Zeit als Auswanderin in Peru, Ihr Jugendfreund Ernst durchstreift das andere Ende der Welt, ihr Hund stirbt, im Studium läuft es suboptimal, ihr dementer Vater zieht ins Altersheim – nun sitzt sie dort in ihrem Elternhaus, das längst kein zu Hause mehr ist und bereitet die Haushaltsauflösung vor. Doch damit nicht genug: Die letzten Gewissheiten zerfallen, als sie eine Postkarte findet, die belegt, dass ihr Vater gar nicht ihr leiblicher Vater ist, der damit zum „Lebensabschnittsvater“ wird. Das alles (und noch viel mehr) ist schwer zu verdauen und „schon befällt sie die Angst, sie könnte zerfasern, ganz wie der Vater.“

Wie Johanna damit kämpft Verantwortung zu übernehmen und schließlich übernimmt, wie es am Ende dann zu einem fast romantischen Happy-End kommt, das erzählt Travnicek lakonisch, poetisch, melancholisch, in einem ganz eigenen Ton. Und als strenge Komposition bis fast ins kleinste Bild und Motiv hinein.

An einer Stelle erwähnt die Studentin Johanna ein Buch aus ihrem Semesterapparat, es heißt „Die Bewältigung jugendtypischer Entwicklungsaufgaben im Kontext der Familie. Ein Vergleich adoptierter und nicht adoptierter Jugendlicher“. Eine ironische Kommentierung des Romans, denn sowas ähnliches ist es, was wir hier haben. Nur nicht als Lehrbuch, sondern als literarisches Experiment. Das ist dann manchmal ein wenig starr, ein wenig zu durchkomponiert. Da wäre vielleicht ein Schuß mehr jugendliche Wildheit schön gewesen.

Großartig wie immer aber: die Bienen. Ernsts Adoptivvater nämlich ist Hobbyimker. Und jedes Kapitel beginnt mit einem Fun-fact oder mit einem Hinweis auf die Gesellschaftsorganisation der Bienenfamilien, als Kommentar oder Bild für das Geschehen im Buch. Wir erfahren etwa, wie wohl behütet eine Biene heranwächst. Eine Bienenlarve bekommt nämlich etwa zweitausend Mal Besuch von einer Pflegerin, bevor sie schlüpft. „Und Ernst versuchte sich die hilflosen weißen Larven vorzustellen, von denen ihm sein Vater erzählt hatte, wie sie da schliefen, in ihren sechseckigen Zellen aus Wachs, darauf wartend, zu erfahren, welche Art von Leben vor ihnen lag“.

Ein Buch, in dem schlafende Bienen auf ihr zukünftiges Leben zu träumen, kann kein schlechtes Buch sein. Das fanden auch die Zuhörer in Klagenfurt: Für einen Ausschnitt aus Ihrem Roman erhielt die Autorin den Publikumspreis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur.

Cornelia Travnicek: Junge Hunde. Roman. DVA 2015. 240 Seiten. 14,99 Euro.

Mhlongo_homeA looter continua

(BAG) Seit der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison und ihrem Roman „Beloved“ (deutsch: „Menschenskind“) zählt der Konnex zwischen vergangener Unterdrückung und gegenwärtiger Heimsuchung durch die Geister der unterdrückten Subjekte zu den etablierten Topoi einer nicht nur in den USA praktizierten (und verlegten) écriture postcoloniale. Auch die Literatur des südlichen Afrika hat den Topos aufgegriffen und in den vergangenen zwei Jahrzehnten einige bekannte und zahlreiche weniger bekannte (dafür sehr lesenswerte) Erzählungen dieser Art hervorgebracht. So verknüpfte Brian Harlech-Jones‘ Roman „A Small Space“ (1999) über die geisterhafte Figur der Cornelia die präkolonialen 1860er Jahre mit der kaiserdeutschen Kolonialvergangenheit und den Geschehnissen rund um die Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1989. Als eine der jüngst erschienenen Erzählungen nimmt Niqs Mhlongos 2013 in Kapstadt erschienener und nun von Gunther Geltinger für die von Indra Wussow herausgegebene Reihe ‚Afrika Wunderhorn‘ ins Deutsche übersetzter Roman „Way back home“ die dunklen Seiten der südlich-afrikanischen Befreiungsbewegungen in den Blick.

Augenfällig werden die Nachwirkungen des im Kampf gegen das Apartheid-Regime begangenen Unrechts an Kimathi Fezile Tito. Kimathi verkörpert den ehemaligen „Comrade“, der sich in der Erzählgegenwart als stereotypische fat cat präsentiert: einen zu Reichtum und Wohlstandbauch gelangten Nutznießer der Rainbow Nation. Als Bauunternehmer zieht er dank gut funktionierender Netzwerke Aufträge an Land, die ihm einen mehr als gehobenen Lebensstandard ermöglichen. Eine gescheiterte Ehe ist dabei ebenso inklusive wie jede Menge teuren Whiskys, schicke Autos und Prostituierte.

Für Kimathi geht mit anderen Worten der Widerstandskampf von damals in gründlich transformierter Form weiter, und aus dem Slogan der Revolutionäre (A luta continua) wird die Parole der Plünderer des neuen Südafrikas: „A looter continua“. Ein reines Gewissen hat die dicke Katze allerdings nicht mit in die Gegenwart gebracht: Alpträume und Wahnvorstellungen plagen ihn, die schließlich ganz handfeste Folgen zeitigen. Einer Klinikeinweisung folgt der Versuch, die ihn verfolgenden Geister zu befrieden, der ihn zusammen mit einem traditionellen Heiler und den Eltern eines der Opfer des Anti-Apartheid-Kampfes zurück an die Stätte seines 1980er Jahre Exils nach Angola führt.

Effektiv durchtaktet Mhlongo diesen Hauptstrang seines Romans mit Rückblicken auf die vergangenen Geschehnisse an ebendiesem Ort. Dass dort unter Folter falsche Geständnisse und Selbstbeschuldigungen herausgepresst wurden, wirft ein besonderes Licht auf die politischen Bewegungen, aus deren militärischem Widerstand das neue Südafrika (mit) entstanden ist – und die bis heute kaum öffentlich gemacht wurden, geschweige denn zu juristischen Untersuchungen geführt haben. Weniger in der Skizze des exemplarischen Nutznießers der neuen Ära und viel mehr in der Sensibilisierung für dieses Unrecht liegt die große Leistung von „Way back home“. Niq Mhlongo zeigt sich nicht nur als literarisch talentierter, sondern auch als gesellschaftspolitisch hochsensibler Autor.

Niq Mhlongo: Way back home. Aus dem Englischen von Gunther Geltinger. Verlag Das Wunderhorn 2015. 280 Seiten. 24,80 Euro.

Doctorow_Andrews KopfJenseits von Gut und Böse

(AP) Das Leben kann einem übel mitspielen, und damit muss man erst einmal fertig werden – oder auch nicht. Andrew z.B. hat in seinem Leben ganz schön was mitgemacht. Zuerst zerbricht seine erste Ehe an der fatalen Tatsache, dass die gemeinsame Tochter an einer Fehlmedikation stirbt, für die Andrew die Verantwortung trägt und die Martha, die Ehefrau, in ihren Grundfesten so erschüttert, dass sie in Depressionen verfällt und arbeitsunfähig wird. Dann, als Andrew Briony, eine junge, hübsche Frau, kennenlernt und vermeintlich mit ihr eine zweite Chance erhält, verliert er auch diese Verbindung, da Briony just am 11. September 2001 bei den Twin Towers joggt. Zurück bleibt er mit der sechs Monate alten Tochter aus der Beziehung zu Briony, und da er sich nicht anders zu helfen weiß, fährt Andrew just zu Martha, um sie zu überreden, sich des Sprösslings der Nachfolgerin anzunehmen.

Keine Frage, der Mann ist überfordert. Und da er auch noch Amerikaner ist, lautet der Ansatz zur Lösung seiner mannigfachen Probleme: Therapie. Und so kommt es, dass Andrew einem Psychiater von seinem Schicksal berichtet und die zahlreichen Baustellen seines Lebens mit Hilfe des Freud-Jüngers aufzuräumen gedenkt. Die private Seite ist da ja schon schräg genug. Die eine Frau tot, die andere voller (Selbst)Vorwürfe, dazu der zweite Ehemann von Martha, der Andrew aufrichtig hasst, weil er ihn für Marthas Elend verantwortlich macht. Ein Kind, das er begraben musste, ein anderes, von dem er nicht weiß, wie es aufwachsen wird.

Doch wenn man denkt, diese Untiefen würden schon für veritable Seelenpein reichen, sieht man sich getäuscht. Wie es der Zufall so will, war Andrew als Student Zimmerkumpan von einem reichlich doofen Texaner, dem er mehr als nur einmal den Arsch rettete. Und obwohl der Spross reicher Eltern buchstäblich keinen Fettnapf ausließ, findet er sich eines schönen Tages an einer noblen Adresse in Washington wieder – als 43. Präsident der USA. Und weil er ein veritables Interesse daran hat, dass Andrew sich hinsichtlich der Vergangenheit von George W. nicht versehentlich verplaudert, überträgt er diesem ein einträgliches Amt, das ihm gleichzeitig umfassende Verschwiegenheit auferlegt. Andrew muss also während seiner Therapie scharf aufpassen, was er erzählen darf und was nicht, was für den Erfolg der Therapie, nun, nicht gerade förderlich

Edgar Lawrence („E.L.“) Doctorow galt hierzulande schon früh als echter Kultautor. Vor allem seine Romane „Ragtime“ (1975) und „Billy Bathgate“ (1989), beide nicht minder erfolgreich verfilmt, katapultierten Doctorow in eine Liga mit Autoren wie James Ellroy, William S. Burroughs oder Jerome Charyn. Fast alles, was Doctorow literarisch aufgriff, hatte Tiefgang und Format. So war „Welcome to Hard Times“ (1960) eine Satire auf die Fortschrittsgläubigkeit seiner Zeitgenossen, „Big as Life“ (1966) ein verspielt-tiefsinniger Science-Fiction-Roman und „The Book of Daniel“ (1971), eine literarische Verarbeitung der US-amerikanischen Hexenjagd auf tatsächliche oder auch nur vermeintliche Kommunisten. Alle diese Bücher wurden zunächst kaum beachtet, weder Kritik noch Publikum schenkten Doctorow besondere Aufmerksamkeit. Das änderte sich erst, als „Ragtime“ von Milos Forman auf die Leinwand gebracht wurde und sich plötzlich alle um den bislang geschmähten Autor rissen.

Darüber freilich war Doctorow jedoch erhaben. Er suchte sich, unbeirrt von den Moden des Feuilletons, seine Themen und arbeitete sie nach eigenen Gesetzen auf. Bis zuletzt – Doctorow starb kurz nach der Veröffentlichung von „In Andrews Kopf“ im Alter von 84 Jahren.

Der letzte Roman Doctorows erschließt sich nicht so ohne weiteres. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Art Dialog zwischen Andrew und seinem Therapeuten. Aber da ist auch noch der Ich-Erzähler, von dem man annehmen kann, es sei Andrew. Doch ist das nicht etwas vorschnell? Und auch die Therapie-These steht alsbald nicht mehr auf solider Basis, denn es gibt Hinweise, die darauf schließen lassen, dass es sich in Wirklichkeit um eine Verhörsituation handelt und Andrew, zumal gegen seinen Willen, an einem ihm unbekannten Ort festgehalten wird. Und da sind dann noch die Stimmen anderer, Einsprengsel in Andrews Erzählungen. Handelt es sich um reale Statements, Zeugenaussagen quasi, mit denen Andrew konfrontiert ist, oder nur um Ausgeburten seiner eigenen Phantasie? Fragen über Fragen, auf die der Leser nur wenig Antworten findet – fast wie im wirklichen Leben.

Doctorow ist mit seinem Vermächtnis noch einmal ein großer Wurf gelungen. Ein faszinierendes Spiel mit Wahrheit und Lüge, mit Wirklichkeit und Fiktion, mit Vorstellung und Verstellung. Und weil sich alles quasi nur im Kopf des Protagonisten abspielt, gelangen wir niemals zu einer wirklich gesicherten Faktenbasis. Wir sind bis zuletzt darauf angewiesen, Andrew zu glauben – oder eben nicht. Wie im Leben eben!

E.L. Doctorow: In Andrews Kopf (Andrew’s Brain, 2014). Übersetzt von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2015. 208 Seiten. 18,99 Euro.

Fallada_Der TrinkerExpressives Lebensbild

(TM) In seiner Graphic Novel „Der Trinker“ verquickt der Zeichner und Erzähler Jakob Hinrichs die Biographie Hans Falladas mit einer von dessen berühmtesten Geschichten. Der Fall des Kaufmanns Erwin Sommer, der durch Alkoholsucht und -exzesse alles verliert, ist ein oft bearbeiteter Stoff (unvergessen Harald Juhnke in der entsprechenden Fernsehrolle). Die Parallelen zum tragischen Leben des Schriftstellers Hans Fallada sind nicht zu übersehen. Fallada verbrachte viele Jahre seines Lebens in Gefängnissen und Nervenheilanstalten, schon als Jugendlicher, nachdem er bei einem missglückten Doppelselbstmord seinen besten Freund erschossen hatte.

Den „Trinker“ schrieb Fallada in der Nervenheilanstalt Neustrelitz, wohin man ihn geschickt hatte, nachdem er betrunken im Streit fast seine geschiedene Frau erschossen hätte. Es wird eine Art Abrechnung mit dem eigenen Leben.

Hinrichs erzählt diese beiden Geschichten in einer sehr expressiven Manier und in greller Farbigkeit. Lediglich die Passagen, in denen Fallada selbst auftritt, sind in kühlem Blau gehalten, ansonsten dominiert der bunte Farbkasten. Aber es gibt auch eine lesenswerte Geschichte in der Geschichte, namentlich der „Sachliche Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein“, den Fallada im Jahr 1925 verfasste und der hier in aggressivem Rot gehalten ist. Der Pinselstrich erinnert wie auch im Rest des Buches an das kühne Expressivum des Linoleumschnitzers, was beim Lesen sowohl enerviert als auch fasziniert. Gelobt sei an dieser Stelle ganz generell der Verlag Metrolit, der aus seinen Büchern regelmäßig kleine Kunstwerke macht.

Jakob Hinrichs: Hans Fallada: Der Trinker. Graphic Novel. Metrolit 2015. 160 Seiten. 25,00 Euro.

korrespondenzen_cover_tkaczyszyn-dycki_tumor_linguae_kleinEin einziges langes Lebensgedicht

(SW) Das Wort Tumor sagt zunächst nichts über gut oder böse aus. Gewebe ist da, das wuchert, unkontrolliert sich ausbreitet. Im Fall der vorliegenden 101 Gedichte von Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki mit dem Titel Tumor linguae nehmen wir es als Bild für die Potenz der poetischen Sprache, gleichzeitig zeigt sich darin die Skepsis ihr gegenüber. Im Titelgedicht (LXV.) heißt es in der dritten Strophe: „mal im dunklen zimmer unten mal oben / je nach situation seit ich mich erinnere hab ich / kein verhältnis herrschaften zum geschrieben / fertigen gedicht auf wiedersehen meine liebste.“
Von der ersten bis zur letzten Buchseite erstaunt die Modellhaftigkeit der Form, ihre optische Homogenität, jedes Gedicht besteht aus gerade einmal zwei bis vier Strophen mit jeweils vier Versen oftmals gleicher Länge, von den Gedichtzyklen abgesehen. Darin insistiert eine Stimme auf ganz bestimmten Themen und Motiven, den Besuchen in „freudenhäusern“, den lust- und leidvollen Erinnerungen an den Geliebten, den Tod, den vielen Toten der Familie („knochen“), den zerstörten polnisch-ukrainischen Grenzlandschaften der Kindheit, der Schizophrenie der Mutter („krank im kopf“; übrigens auch Homosexualität galt im kommunistischen Polen als „Krankheit“). Besondere Anklänge in den Gedichten gibt es an die Ortlosigkeit der Menschen, Bindungsverluste oder auch an das „Getriebensein“.
Weil die Themen immer und immer wieder aufgenommen und nuanciert werden, zeigt sich, dass etwas gewuchert ist – die Reprisen ziehen sich verstreut über einzelne Verse sowie ganze Strophen durch den gesamten Band –, als ob der Kosmos des Dichters aufgeblättert würde, den er seit seinem Lyrikdebüt 1990 in nunmehr neun Bänden bannt. Die vorliegende textgenetische Auswahl durch die Übersetzer ist ein Best-of aus den ersten acht Büchern und nimmt sich der „dunklen und obsessiven Seiten des Werkes“ an, das die „Peripherien und die Randzonen des Seins erkundet“. Wenngleich auch lichte und überaus anmutige Texte zu finden sind.

Die Kleinschreibung des Polnischen wurde in der Übersetzung schlicht beibehalten, allein Eigennamen und geografische Namen werden groß geschrieben. Eine Zeichensetzung gibt es, abgesehen von wenigen Klammerzusätzen und Zitaten in Anführungszeichen, nicht, das braucht es für dieses eindringliche Sprechen auch gar nicht, genauso wenig wie Reimformen. Die zahllosen Zeilen- und Strophensprünge binden die Lesenden an eine genaue Lektüre. So ist in allen 101 Gedichten Tkaczyszyn-Dyckis Gestus der Emphase erkennbar, um Worte für die „Zumutungen der Wirklichkeit“ zu ringen. Dies tun sie auf eine ganz eigene anziehende Weise, ebenso keusch und dezent wie unkeusch und wüst.

Der Gedichtband war einer der zehn Titel der Hotlist 2015.

III.

meine schwester Wanda bringt eine lilie vom spaziergang
und ich schreibe ein gedicht über den tod
und ich beginne dieses gedicht von neuem
kann es nicht beenden

oder mittendrin aufhören damit es zittert
wie die lilie todesnah wenn ich für sie
das einzige echte wort suche
statt einen becher wasser

(zitiert aus dem Band)

Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki: Tumor linguae. Gedichte. Polnisch/Deutsch, übersetzt von Michael Zgodzay und Uljana Wolf. Wien: Edition Korrespondenzen 2015. 224 Seiten. 22,00 Euro. Adaptiert vom Hotlistblog.

Heydecker_nürnberger ProzessStandardwerk, wiederaufgelegt

(AM) 70 Jahre her ist es jetzt, dass am 20. November 1945 im Justizpalast an der Fürther Straße in Nürnberg der gewiss denkwürdigste Prozess der deutschen Geschichte begann. 24 führende Größen der Nazi-Diktatur mussten sich vor dem Internationalen Militärgerichtshof als Kriegsverbrecher verantworten. In 218 Tagen wurden 240 Zeugen gehört und 16.000 Protokoll-Seiten erstellt. Am 1. Oktober 1946 wurden die Urteile verkündet. Zwölf der 24 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, sieben zu langjährigen Haftstrafen, drei freigesprochen. Es war die Abrechnung der Alliierten (und der Weltgemeinschaft) mit dem Nationalsozialismus, angeklagt war ein verbrecherisches System.

„Der Nürnberger Prozess. Bilanz der tausend Jahre“ erschien zuerst 1957 als reportagehafte Fortsetzung und reichbebilderter Dokumentenbericht in der „Münchner Illustrierten“, wurde 1958 als Buch aufgelegt und ist wieder als Taschenbuch erhältlich. Der Journalist Joe J. Heydecker war einer der wenigen deutschen Berichterstattern in Nürnberg gewesen, schrieb dieses Werk zusammen mit dem 1932 geborenen Journalisten Johannes Leeb. Die Wiederauflage ist verdienstvoll, leider aber hat sich der Verlag Kiepenheuer & Witsch ein Nachwort gespart, das zum Beispiel von der Rezeptionsgeschichte dieses Buches erzählen könnte – oder von Joe Julius Isaak Philipp Heydecker und dessen hochinteressanter Biographie. Nur in Auszügen: In Nürnberg geboren, 1933 in die Schweiz emigriert, dann nach Wien, zur Wehrmacht eingezogen, heimlich das Warschauer Ghetto fotografiert und die Gräuel der Ostfront, darüber 1947 im Radio berichtet, ebenfalls 1947 eine Weltliga gegründet, surrealistische Bilder gemalt, in Deutschland nicht wieder heimisch geworden, 1960 nach Brasilien ausgewandert.

Zehn Jahre vor Heydeckers und Leebs Buch – auch dies findet sich nicht als Hinweis – gab es 1948 bereits das Prozessbuch eines anderen deutschen Beobachters, nämlich das des aus dem englischen Exil heimgekehrten Karl Anders. Der Titel: „Im Nürnberger Irrgarten“. Anders suchte sich unter den 24 Angeklagten die zwölf heraus, die für ihn das Nazi-System repräsentierten, schilderte ihre Taten und Verbrechen und ihr Prozessverhalten, legte ihnen je die Kapitel vor, diskutierte mit ihnen darüber – stellte sie zur Rede – und ließ dies in den Text einfließen. Ein Zeitdokument erster Güte. Nach dem Vorbild seines Freundes Victor Gollancz suchte der anglophile Karl Anders dann seinen Krähen-Verlag mit dem Herausbringen von Kriminalromanen zu finanzieren. So kamen Hammett, Chandler, James M. Cain und andere erstmals nach Deutschland. Aber das ist eine andere Geschichte …

Joe J. Heydecker, Johannes Leeb: Der Nürnberger Prozess. Neuausgabe zum 70. Jahrestag. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015 (und 1958). Taschenbuch. 768 Seiten. 16,99 Euro.

Steinke_Fritz bauerZeitgeschichte, lebendig

(AM) Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse werden heute noch von gewissen Kreisen als „Siegerjustiz“ bezeichnet. Die Geschichte der eigenen, der deutschen juristischen Aufarbeitung der Verbrechen der Nazi-Zeit ist eine qualvolle. Einer, der die Deutschen zum Hinsehen zwang, war Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen, der, vielen Anfeindungen ausgesetzt, in einem daran wenig interessierten Westdeutschland maßgeblich am Zustandekommen der Frankfurter Auschwitzprozesse beteiligt war. Am 20. Dezember 1963 wurde das erste Verfahren in Frankfurt eröffnet.

In Lars Kaumes aktuellem Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ wird diese Zeit wieder lebendig. Wer eine knappe und prägnante, gut geschriebene Darstellung sucht oder sein historisches Wissen nicht nur aus Filmen speisen will, trifft mit Ronen Steinkes jetzt als Taschenbuch erhältlichem Buch eine gute Wahl.

Zudem ist Fritz Bauer in diesen Wochen, in denen sich in Deutschland wieder die Frage nach Werten und Menschlichkeit stellt, keine schlechte Lektüre. Etwa dieses, 1962 von ihm in Anlehnung an Lessing vorgetragene kleine Zitat:

„Bewältigung unserer Vergangenheit heißt
Gerichtstag halten über uns selbst,
Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte,
nicht zuletzt über alles, was hier inhuman war;
woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten
in Vergangenheit und Gegenwart ergibt.“

Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht. Piper Verlag, München 2015. Taschenbuchausgabe. 348 Seiten. 10,99 Euro. Mehr hier und hier.

TrophaenHereinspaziert in die verkehrte Welt

(SW) So schön eine Liebesgeschichte zwischen zwei namenlosen Sonderlingen sein könnte, sie Nachtwächterin eines angestaubten Hotels, er ein Tierpräparator und Künstler, so kompliziert ist die Sache. Denn schwer wiegen die unaussprechlichen und ungelösten Geschichten von inneren Verletzungen und Grausamkeiten, die sie und auch er mit sich herumtragen. Erst müssen Schatzkisten geöffnet, Tiere präpariert, ja, den konservierten Geschichten eine Stimme gegeben werden. Traumwandlerisch finden die beiden auf diesem Weg immer wieder zusammen.

Isabella Feimer bewegt sich in ihrem dritten Roman „Trophäen“ auf höchst kunstvollem, vielschichtigem und formbewusstem Erzählniveau. Sie ist achtsam im Umgang mit der Sprache wie der Präparator mit seinem Tier, sie bearbeitet, modelliert und rhythmisiert, hier schillert jedes Wort an seinem Platz. Tatsächlich wirkt der Text wie eine lyrische Gesamtkomposition. Weil vieles verknappt bleibt, erwartet die Lesenden ein weiter Imaginationsraum. Die Welt der „Zwischenorte“ in dem Roman ist eine der Dämmerung, der Dunkelheit, der Kälte, der Träume und der Stille, vor allem eine der Schatten. In ihr findet Märchenhaftes ebenso Platz wie Schauriges. Inspirationsquelle der Autorin ist der Film noir, die ihren Roman schlicht ein Wintermärchen nennt.

Monster, Schatten, Taggespenster,
Wunden heilen, sage ich,
sagst du mir deinen Namen?, fragt er,
ja, sage ich, beuge mich zu ihm,
er lacht, vielleicht war es doch ein Spiel,
ich sage,
lüge, lüge nicht,
war kein Spiel, ist vielleicht Liebe.

Isabella Feimer: Trophäen. Wien: Braumüller Verlag 2015. 251 Seiten. 21,90 Euro. E-Book: 18,99 Euro. Adaptiert vom Hotlistblog.

signer_GrenzenGrenzziehungen, sehr anschaulich

(AM) Eine schöne Idee, in diesen Zeiten, in denen in Europa wieder Zäune hochgezogen werden, die Mauer zurück gewünscht wird, Katalanen, Schotten und andere nach geographisch abgezirkelter Autonomie lechzen und das Thema Grenzen und deren Überwindung in aller Munde ist. Eine produktive Idee, aus Zeitung etwas über den Tag hinaus Bleibendes zu machen, das ist dieses Gemeinschaftswerk von Redakteuren, Auslandskorrespondenten und Mitarbeitern der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ): 44 Grenzen erzählen Geschichten, die erhellen, erstaunen, verwundern, empören oder belustigen. Die Idee ist so simpel wie pfiffig, die Umsetzung ansprechend. Je eine Karte und ein ausgefeilter Text erzählen jeweils von der trennenden Linie, wir erfahren Details und Hintergründe. Das auf knappem Raum. In 44 Miniaturen. Auch so kann Zeitung sein. Mit Lesebändchen, schönem Papier, die Bindung Halbleinen.

Es sind allesamt seltsame Grenzverläufe, rund um den Globus, Exklaven und Enklaven, Zwergstaaten und Zipfel, Korridore, Pufferzonen, Kuriosa, zweigeteilte Inseln und Städte, Atolle, Stadtstaaten, umstrittene Territorien, weltpolitische Brandherde. Die Exkursionen führen unter anderem auf die Seychellen, nach Brunei, Jerusalem, Gambia, Bosnien, Tirol, Gibraltar, Patagonien, Kaschmir oder Angola, in die Westsahara, die USA, die Arktis und Antarktis, Finnland und Schweden. Und auch zum Ärgernis Büsingen zwischen Deutschland und der Schweiz.

David Signer (Hg.): Grenzen erzählen Geschichten. Was Landkarten offenbaren. NZZ Libro, Zürich 2015. Halbleinen. 136 Seiten, 50 farbige und s/w-Illustrationen. 29,00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch hier.

Wimmer_BilderbuchDer Reigen der Frauen

Der Münchner Journalist und Autor Stefan Wimmer lässt in seinem Werk seine persönliche Damenwelt aus mehreren Jahrzehnten Revue passieren. Das kann eigentlich nicht gut gehen. Geht es aber.

Intime Tagebücher über den Austausch von Körperflüssigkeiten gehören in den meisten Fällen in die unterste Schublade der heimischen Kommode und nicht auf den deutschen Buchmarkt. Anders bei Wimmer. In seinen sprachlich ausgefeilten Personen-Porträts des ewigen – oder eben auch auf einen One-Night-Stand befristeten Weiblichen – geht es zwar vorwiegend um das Eine. Aber es geht auch um das Andere, was Frauen und Männer zusammenbringt oder trennt, und das macht das Buch – jedenfalls für Heteros – zu einem vergnüglichen Handbuch. Erkenntnisgewinn: Genau, stimmt, so jemand kenn ich auch. Schonungslos mit sich selbst, ehrlich auch mit Niederlagen und im ironischen Macho-Sound geschrieben, kommt hier ein neuer Wimmer-Knaller für alle, die schon immer der Paartherapie misstraut haben.

Bei manchen Büchern ist es erhellend erst die Danksagungen und Widmungen zu lesen: Stefan Wimmer würdigt die Mithilfe von rund einem Dutzend männlicher Freunde und etwas weniger Frauen – von Eva, Marylin, Gina bis zu Vanesa oder Angie, die alle „dem Reich der Finsternis trotzen“. Wimmer, Jahrgang 1969, gehört eigentlich der Generation Golf an, die heute eher BMW 3er, Bausparverträge und Bambi-Preise pflegt. Aber der Autor weiß sich von schwachbrüstigen Poppern, Retros, Hipster und anderen Markenbotschaftern abzugrenzen. Nein, ein bayerischer Bukowski wolle er nicht sein, schon eher sehe er seine Vorbilder bei den der Gesellschaftssatire verpflichteten Ludwig Thoma, Denis Diderot oder auch dem kürzlich verstorbenen Regisseur Helmut Dietl. „Die Farce ist mir näher“, sagt Wimmer über sein Werk.

Aha, der Mann leidet offenbar an einer unheilbaren Vagina-Fixierung, hat offenbar aber genug Freunde, die für ihn da sind, wenn die Vulkane ausbrechen. Und das passiert bei Wimmer, der offenbar immer wieder dem „Duft der Frauen“ folgen muss, recht häufig. Wimmer dazu befragt: „Das ist Zufall, dass da mehr Männer drunter sind. Die Frauen, die meine Freunde sind, sind fast alles Ex-Freundinnen – insofern wäre das ein Beweis, dass es auch harmonisch geht.“

So handelt das offenbar stark autobiographische Buch unter anderem von Biene (22), der Jüngsten; von Maggie (30), „Journalistin mit Fieberbllck“; von Michelle mit den Korkenzieherlocken, lebenserfahrene, Orgasmus-starke Mulattin ohne Altersangabe und mexikanische Geliebte. Oder Sigrun aus Stuttgart, (21), heiße Bekanntschaft von einem Fest der Technischen Universität („ich möcht` dass du mi` jetzt in Grund und Bode `figgst!“) und beim ernüchternden Wiedersehen ohne Ficken mit 36 Jahre die Älteste, sowie einer Reihe weiterer ganz unterschiedlicher Frauen.

Gewidmet hat Frauenkundler Wimmer das Buch einem rätselhaften „Snàropaz“, einem literarisch veredelten Schürzenjäger verbunden mit dem Filmklassiker „Stadt der Frauen“ von Federico Fellini. Um die fremdartigen Zeichen und Codes zu verstehen, wenn Männer im Frauenkosmos unterwegs sind, bedankt sich Wimmer auch brav bei seiner Schwester, die er, wie er ergänzt, früh verloren hat. Privat strebt Wimmer trotz seiner polygamen Grundansichten nach wie vor eine ganz feste Beziehung an. „Dreimal stand ich kurz davor zu heiraten“, berichtet er. Aber wie er schon in seinem ebenfalls gelungenen Mexiko-Buch „Die 120 Tage von Tulum“ sowie „Der König von Mexiko“ (beide Eichborn-Verlag) gestand, waren es „außerordentlich schwierige Umstände, das soziale Chaos, die ungleiche Verteilung der Bodenschätze, die Kontinentaldrift und das sinntrübende Ethanol“, das eine Verehelichung verhindert habe.

In den „Vulkanvaginas“ stellt Wimmers Ich-Erzähler dagegen am Isarufer während einer sommerlichen Party kurz entschlossen einen Antrag auf Blitzheirat mit einer attraktiven Skateboard-Fahrerin, die „selbstbewusst wie eine römische Jagdgöttin“ daherkam.
„Wann packen wirs`s mit der Heirat?“
„W-a-a-as“, stotterte das Mädchen, „wie kommst denn auf sowas?“
„Ich mein`s ernst. Kuschelige, kleine Wesen zeugen, die herumtollen, in die Windeln kacken und uns Glück bereiten! Keine Lust?“
Lilly, so der Name der Jagdgöttin, jagte später einem anderen Mann und Abenteuern in Thailand hinterher, nachdem sie mit dem eigentlich Heiratswilligen ausreichend wilden Sex von hinten auf der engen WG-Toilette genossen hatte.

Die so portraitierten Frauen, so Wimmer, seien in der Regel keineswegs böse mit dem Autor. Im Gegenteil, viele, so Wimmer, fänden seine Bücher sogar „ziemlich lustig“ und würden sie „aus freien Stücken kaufen“.

Entlang dieses weiblichen Personals selbstbewusster Frauen erzählt Wimmer farbig, detailreich und kritisch auch aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus – von den halbwüchsigen Italienerinnen, die Wimmers Schul-Clique einer altsprachlichen, bayerischen Bildungsstätte in einem Hotel in Rimini entjungferten. Von dem etwas prolligen Arbeiterkind und „Pasinger Königin“ Natascha, die ihn nach der elften Klasse mit Penisvergleichen in die Thematik einführte. Bis hin zu der reichen und gelangweilten Erbin der Münchener Schickeria, die er zu teuren, desaströs verlaufenden Restaurantbesuchen einlädt.

Wimmer schöpft aus dem Vollen, und man merkt, dass er am liebsten darüber schreibt, was er selbst erlebt hat. Das rein fiktionale Schreiben und Konzipieren von Handlungen „nicht existenter, ausgedachter aber naturgetreuer Menschen“ findet er nach eigenem Bekunden „unglaublich schwer“. Da dies in der Belletristik häufig zu „Klischees oder Konstrukten“ führe und ihn diese „Gemachtheit“ beim Lesen „abschreckt“, würde er inzwischen auch lieber Sachbücher lesen. Zudem lebte er mehrere Jahre als freier Journalist für, wie er sagt, „Busenmagazine“, im lebenssatten Mexiko. Das prägt.

Eine örtliche superreiche Latino-Schöne, die den deutschen Dichter aber vor ihrer Familie aus Standesgründen verheimlicht, bringt ihn dazu, mit der konkurrierenden Mulattin Michelle, die mit den Korkenzieher-Locken, in einen schrägen Badeort zu fahren. Dort wird in der salzigen Luft, nach den aufputschenden Mojitos und Koks-Gaben und dem Duft gegrillten Fischs gevögelt was die Hütte hält. „In der Mittagszeit lagen wir auf dem Bett, Michelle hatte meinen Schwanz zwischen ihren Fingern und rubbelte ihn an ihrem Kitzler. ‚Komm!‘, sagte sie. ‚Spritz mir auf die Schamlippen!’“.

Nicht immer führt der Wimmersche Reigen der Frauen und ihrer Vaginas zu einem solchen Happy-End. So möchte er seine schwäbelnde Sexbombe Sigrun wieder treffen, mit der er vor fünfzehn Jahren so schöne Erinnerungen sammelte. Dank einer bekannten Suchmaschine gelingt dieses digitale „cherchez la femme“. Doch die Begegnung mit der inzwischen mehr einem muskulösen Zuhälter oder einer „Aufseherin in einem Frauengefängnis“ ähnelnden Ex und Liebhaberin von Sado-Maso-Praktiken endet in der traurigen Melancholie, dass die Erinnerungen an bestimmte Menschen manchmal besser dort bleibt wo sie ist – im Reich der Fantasie.

Wer hat denn nur diesen behämmerten Titel für das Taschenbuch aus dem Münchener Blond Verlag erfunden? „Ich finde ihn eigentlich ganz lustig, sagt Wimmer. Denn, wie er im „König von Mexiko“ schreibt: „Ich musste einfach nur meine Fingerspitzen aneinander legen und an einige Frauen denken, die ich in meinem Leben gekannt hatte…. Frauen mit einer Ausstrahlung wie Jeanne Moreau, Monica Vitti und Anouk Aimée… Frauen, bei denen nicht nur die Gesichter, sondern auch die Geschlechtsteile beseelt waren mit Eigenleben, Charakter, Charme und Witz… Frauen mit Vulkanvaginas.“

Ok, verstanden. Der Tanz auf dem Vulkan geht weiter, lebenslang.

Stefan Wimmer: Das große Bilderbuch der Vulkanvaginas. Blond Verlag, München, 320 Seiten. 15,99 Euro.

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