Geschrieben am 6. April 2011 von für Bücher, Litmag

Konrad Lorenz: Rohrkrepierer

Huck Finn auf dem Hamburger Kiez

Der obere Saal im Literaturhaus Hamburg ist überfüllt, den hinteren hat man zusätzlich aufgemacht, und der ist auch voll. Der Anlass: Eine Lesung des Hamburger Autors Konrad Lorenz aus seinem Roman Rohrkrepierer. Das Kapitel, das Lorenz gerade liest, könnte man (fahrlässig) so zusammenfassen: Wir waren jung, wir waren dumm, und Huren gehörten bei uns zum Straßenbild. Von Brigitte Helbling.

Und wer wollte bei diesem Auftritt auch nicht dabei sein?  In Rohrkrepierer beschreibt der 69-jährige Lorenz seine Jugend im Hamburger Rotlichtviertel St. Pauli als Roman. Beim Publikumsgespräch mit dem Autor stellt sich dann heraus, ein Drittel der Anwesenden war dabei – nicht in der Freundesbande von Held „Kalle“, sondern auf dem Kiez kurz nach dem Krieg. Eine ältere Dame erinnert sich, wie ihr Vater sie aufklärte: „Das sind alles Schauspielerinnen!“ sagte er, als sie wissen wollte, wer die Frauen am Straßenrand seien. Ein Herr meldet, er sei am Hein-Köllisch-Platz 11 aufgewachsen: „Herr Lorenz, das muss direkt bei Ihnen um die Ecke gewesen sein. Wo haben Sie damals gelebt?“ „Bei Kaiser!“ ruft eine Zuhörerin ganz vorne statt des Autors. Bei Kaiser (oder Keyser?) – ach so! „Und ich“, ruft eine andere, „bin die Lieselotte!“ – eine Figur aus dem Roman.

Nachts schlafen Ratten nicht

Unsereins, nicht im richtigen Alter und nicht in Hamburg aufgewachsen, begegnete die Stadt als Kriegs- und Nachkriegs-Trümmerhaufen einst in einer Erzählung von Wolfgang Borchert, die in unsern Lesebüchern abgedruckt war und von einem neunjährigen Knaben erzählte, der den Leichnam seines toten kleinen Bruders unter Schutt bewacht und dennoch bereit ist zu glauben, Ratten würden nachts schlafen. Das redet ihm ein krummbeiniger Mann ein, der zufällig vorbei kommt. Dieses verlogene Schriftstück sollte uns vermutlich vom Guten im Menschen trotz Kriegswirren berichten, tatsächlich lernten wir daraus nur, dass die Erwachsenenliteratur keine Ahnung von der Welt hat. Hat lange gedauert, bis das Vorurteil sich legte. Geben wir dem pädagogischen Dienst die Schuld! Der könnte seinen Fehler jetzt gutmachen und nachwachsenden Generationen Rohrkrepierer in die Hand drücken. Zumindest in einzelnen Kapiteln.

Rohrkrepierer beginnt ebenfalls mit einer Rattenjagd, die dann jedoch abgebrochen wird, weil Weihnachten ist. Den Jungen, die hier zwischen Trümmern spielen, könnte niemand weismachen, dass Ratten nachts schlafen. Ohnehin wird bald klar, dass in dieser Hamburger Nachkriegswelt nicht Ratten das größte Problem sind – sondern die Väter, die beschädigten, verkrüppelten, alkoholkranken Heimkehrer aus Krieg und Gefangenschaft. Die sich hin und wieder in „Werwölfe“ verwandeln, wenn sie zuviel gesoffen haben, und Familien wie diejenige von Kalles Kumpel Freddy in Angst und Schrecken versetzen.

„So viele Väter sind im Krieg gefallen, warum nicht auch dieser Scheiß … Scheiß-Werwolf?“

Eingelegte Bandwürmer und Indianer

Kalles Vater mit Kalle

Kalle, der Protagonist von Rohrkrepierer, fragt sich zuweilen, ob er da nicht Glück hat. Sein Vater ist im Krieg verschollen, untergegangen auf einem Minensucher, auf den er beordert wurde, weil einer verraten hat, dass er auf der Werft vor dem Krieg bei den Kommunisten war. Gekannt hat der Junge ihn ohnehin kaum. Er wächst mit Mutter und Großmutter in einer kleinen Wohnung am Paulsplatz (später Hein-Köllisch-Platz) auf, die beiden Frauen ein unruhiges Duo, das sich oft in den Haaren liegt und dann vom Kind verlangt, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Gut, dass zumindest tagsüber keiner nach Kalle schaut; wenn er nicht in der Schule ist, rennt er mit seinen Freunden durch das Viertel. Vom eingelegten Bandwurm im Fenster der Apotheke zu dem zerbombten Haus, wo mit Blick auf die Mädchen – Lieselotte! – Kunststücke auf hohen Mauern vorgeführt werden, zum Spielzeugladen mit den Indianern und den Bandenkriegen mit Jungen aus den Straßenzügen nebenan. Es ist eine Erich-Kästner-Welt, die hier auf St. Pauli ausgebreitet wird, und Kästner, das muss man ihm lassen, hat sich ebenfalls nie gescheut, die größeren sozialen Kontexte der Erwachsenen als Kulisse für seine Jugendgeschichten zu nutzen.

Einige Wochen vor der Lesung im Literaturhaus liest Konrad Lorenz vor ganz anderem Publikum in der Makrele Bar auf St. Pauli: Hier sind es die Kinder und Enkel seiner Generation, die den Geschichten lauschen. Auch in der Makrele ist der Raum überfüllt. Auch hier wird geraunt und gelacht, nicht nur, wenn es um die Herbertstraße geht. Einzigartig ist nicht, was Lorenz erlebt hat – das zeigt das informelle Klassentreffen im Literaturhaus –, einzigartig ist aber, was er daraus geschaffen hat: eine schöne, flüssige, thematisch und spannungstechnisch pointierte Erzählung, die von jenem trockenen Humor durchsetzt ist, den der Hamburger vollendet beherrscht. Um seine Geschichte so in Szene zu setzen, brauchte der Ex-Seemann, der später als Ingenieur arbeitete, mehr ein halbes Leben – Zeit, die Borchert nicht hatte, und damit lassen wir jetzt den armen Leberkranken in seinem Grab in Basel ruhen.

Bild aus: Michael Fackelmann, Hamburg schwarz-weiß

Väter: eine vom Aussterben bedrohte Tierart

Irgendwann habe er damit angefangen, die Geschichten aufzuschreiben, erzählt der 1942 geborene Lorenz, der seit 1960 Kurzgeschichten und Fantasyromane verfasst – und das Erstaunliche sei gewesen, dass mit einem Mal die Stimmen alle da waren: Die Stimmen seiner Freunde, die mit ihm reden, die Stimme der törichten, unternehmenslustigen Mutter und die kluge, erdige Stimme seiner Oma Bertha, die ihm den Krieg und alles andere erklärt.

„Deine Mutter und ich, wir waren ja so was von blöd damals. Politik hat uns nicht die Bohne interessiert. Dabei war das eine Politik, Heil Hitler!, die uns um unsere Söhne, unsere Töchter um ihre Männer und euch um eure Väter gebracht hat. Und es ist immer noch nicht überstanden.“

Nicht lange nach Beginn des Romans kommt unverhofft doch noch die Stimme des Vaters dazu. Der hat überlebt, war in französischer Kriegsgefangenschaft und kehrt jetzt heim in den Frauenhaushalt, in dem für ihn kein Platz mehr ist.

„Als mein Vater endlich aus der Gefangenschaft kommt, ist er wunschlos, wunschlos unglücklich. Er streicht durch die Wohnung wie eine vom Aussterben bedrohte Tierart.“

Und so wird in diesem Rückkehrerhaushalt um ein einzelnes Bord gekämpft, auf dem der Vater seine Habseligkeiten aufbewahren möchte – es wird um den Sohn gekämpft, dem der Vater bloß nichts vom Krieg erzählen soll –, und es wird vor allem um den Platz im Familiensystem gerungen, den der Gatte zurückerobern muss, von einer Position der Verlorenheit heraus. Auch dieser Vater säuft, für den Sohn aber wird er zum Verbündeten und Helden, eine Zeitlang zumindest, und mit dem Krieg hat das wenig zu tun.

Eher noch mit den Indianern. Die besuchen Vater und Sohn gemeinsam auf dem Dom, dem Hamburger Jahrmarkt, und mit ihnen freunden sie sich, ein wahr gewordener Kindertraum, für die Dauer eines Nachmittags an. Da hat der Vater schon wieder auf einem Schiff angeheuert, und als Seemann kennt er das perfekte Rezept gegen Heimweh. Grog! Als die Indianer auftreten sollen, sind sie alle besoffen. Kein Problem, erklärt Kalles Vater.

„Es gibt da einen alten Indianertrick. Sie werden kurz vor der Aufführung die Namen ändern und mit den falschen Namen den Dämon des Feuerwassers irreführen. Uns hat er vorsichtshalber auch neue Namen mitgegeben. Ich heiße: Three-stiff-grogs…“

Konrad Lorenz

Dreiviertel autobiografisch

Auf „60 bis 70 Prozent“ schätzt Lorenz den autobiografischen Anteil in seinem Roman. Gehen wir davon aus, dass die Indianergeschichte zum größeren Teil zu den 30 Prozent Erfindung gehört. Das macht nichts, im Gegenteil. Es ist gerade der literarisch versierte Anspruch, mit der Lorenz über sein Material verfügt, der diesen Roman zum Erlebnis macht; die Bereitschaft, Erinnerung zu strukturieren, effektsicher zu inszenieren und damit für jeden Leser lebbar zu machen. Genretechnisch sind es im Grunde zwei Formen, die in Rohrkrepierer zusammen kommen. Da ist einmal die Kästner-Linie, Tom Sawyer und Huck Finn auf dem Hamburger Kiez. Und da ist irgendwann auch – ein fließender Übergang – eine Coming-of-Age-Geschichte im Stil von Eissturm oder Adrian Mole.

„Wir wuchsen mitten auf St. Pauli auf, aber im Grunde hatten wir keine Ahnung“, erinnert sich Lorenz. Ab einem bestimmten Alter geht es Kalle und seinen Freunden dann aber doch um die eine, drängende Frage der Adoleszenz: Wie kommen wir an die Mädels ran? Nicht die Damen des Gewerbes (obwohl die im Notfall einen ersten Einstieg bieten könnten), sondern die Gleichaltrigen, die von Ferne verehrten, die nun mithelfen sollen, die Jungen von ihrer lästigen Jungfräulichkeit zu befreien.

Es ist dieser Teil, der es dem pädagogischen Dienst, dem ich das Buch andienen möchte, nicht gerade leicht macht. Was Bravo, Fernsehserien und Internet unverblümt ansprechen können, sollen Bücher im Schulzusammenhang, da sind besorgte Eltern vor, doch bitte eher vermeiden. Vermeiden tut Lorenz aber gar nichts, im Gegenteil. Als sein Kalle der schönen Anna Achtern Diek von ennet der Elbe in Finkenwerder (eine „Jenseitige“ also) verfällt, ist das Mädel mehr als bereit, ihn von seinem Notstand zu befreien. Und bleibt ihm treu, zumindest eine Zeitlang. Mit der Maschinenbau-Lehre erweitert sich der Horizont, ein Jazzklub in Winterhude wird aufgemacht, über andere Lehrlinge kommt Kalle nach Ottensen oder Eidelstedt. Weite Wege! Und am Wochenende mit Anna dann ins Hotel: „Schon in dem Moment, in dem die Tür hinter uns zuschlägt, fallen wir übereinander her …“ Was die Eltern über Kalle nicht wissen, weiß Tante Hermine aus Kalles Stammkneipe bis ins Detail: St. Pauli, in Lorenz’ Beschreibung, funktioniert nicht anders als ein Dorf.

Hamburg ca. 1960. Bild: Michael Fackelmann

„Ich habe lange mit meiner Geschichte gehadert“, sagt Lorenz, „mit dieser ‚Welt’ – das war für mich St. Pauli – was war das denn für eine Welt, in der wir festsaßen!“ Sein Kalle befreit sich vom Viertel und dem ihm unerträglich gewordenen Elternhaus, indem er zur See fährt. Als er zurückkommt, ist Anna selbst erwachsen geworden und hat ihn für keinen geringeren als Wolfgang Neuss verlassen. Der Roman endet nicht mit diesem Bruch, sondern richtigerweise, sinnigerweise mit dem Tod des Vaters an Herzinfarkt. In der Folge zerstreiten sich Mutter und Großmutter endgültig und ziehen auseinander. Vom Sohn, vom Enkel wird noch einmal verlangt, dass er Partei ergreift.

„Wie immer hülle ich mich in Betroffenheit und Schweigen. ‚Starke Isolation’, höre ich meinen Vater wieder sagen, ‚mordsgefährlich!’“

Erinnerung ist das eine. Das andere, zu der eigenen Geschichte zurückzufinden, den Leser dabei mitzunehmen und ihn, St. Pauli hin oder her, regelmäßig zu verblüffen: Zum Beispiel mit diesem Satz, zum Ende hin, vielleicht die ungewöhnlichste Aussage, die ich je in einem Roman von einem männlichen Autor gelesen habe: „Eines weiß ich: Ich möchte niemals, NIEMALS so werden wie meine Mutter!“

Brigitte Helbling

Konrad Lorenz: Rohrkrepierer. Eine Jugend auf St. Pauli. Roman. Bremen: Edition Temmen 2010. 356 Seiten. 12,90 Euro. Zur Homepage des Verlags Ed. Temmen.
Michael Fackelmann, Hamburg schwarz-weiß, Straßenfotografie 1960-64 inklusive DVD. Bremen: Edition Temmen, 2009, 160 Seiten, 24,90 Euro.
Die nächsten Lesungen von Konrad Lorenz in Hamburg sind im Speicherstadtmuseum (29.4.2011), im Ottenser Bistro Roth (2.5.2011) und in Cosma Shiva Hagens Sichtbar (25.5.2011).

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