Mega-Mania Adler-Olsen
„Das Alphabethaus“ ist ein Bestseller auf Biegen und Brechen … Krimi macht’s möglich: mit ollen Kamellen ganz nach vorn an der Wühltischfront. Nach dem fetten Erfolg seiner Kriminalromane prescht unser aller liebster Däne Jussi Adler-Olsen auch mit seinem nachgelieferten Debütroman „Das Alphabethaus“ an die Spitze der Verkaufscharts. Ein Buch wie ein Brikett, das aus den fernen Zeiten der Ofenheizungen erzählt; rückblickend in die Kriegs- und Nachkriegszeit. Schon zu seinen Debützeiten, also in den Neunzigern, hat Jussi Adler-Olsen auf Klotzen statt Kleckern gesetzt. Ulrich Noller, der „Das Alphabethaus“ für uns gelesen hat, fühlt sich erschlagen.
Manche Geschichten kommen immer wieder. Zum Beispiel die vom alliierten Piloten, der hinter den feindlichen Linien der Nazis abgeschossen wird. So wie jetzt wieder beim dänischen Erfolgskrimiautor Jussi Adler-Olsen, der in seinem frisch übersetzten Debütroman „Das Alphabethaus“ von zwei jungen englischen Soldaten erzählt, denen genau das passiert – und die sich mitten im Reich des Bösen in einen Verletztentransport durchschlagen, um sich schließlich als vermeintlich Kriegstraumatisierte in einer Nervenheilanstalt nahe Freiburg einzuquartieren.
Nun ist es ja sowieso schon kein Spaß, in einer NS-Klapsmühle zu landen, und für simulierende Engländer, die des Deutschen nicht mächtig sind, wird es so gesehen bald doppelt fies und kompliziert: Man muss bekloppt tun, aber so gegenwärtig sein, dass keiner Verdacht schöpft, und bei alldem darf man auf keinen Fall irgendwie zu erkennen geben, dass man einander kennt.
Ein Motiv, das Ihnen bekannt vorkommt? Ja ja, alles nur geklaut. Wahrscheinlich aus einem Nachkriegsthriller von Alistair MacLean. Oder so. Egal. Gefährliche Gefilde jedenfalls. Ein Himmelfahrtskommando in finstren (Seelen-) Landschaften, und die Frage ist: Kann so etwas überhaupt irgendeiner irgendwie überstehen?
Ein Himmelfahrtskommando ins Dritte Reich des Bösen
Aber es kommt noch dicker, denn James und Bryan, so legt Jussi Adler-Olsen noch einen drauf, sind in ihrer Abteilung nicht die einzigen, die simulieren. Und diese anderen Simulanten sind spannungsverschärfenderweise keine armen Irren, die dem Einsatz an der Front entgehen wollen, sondern richtig fies gefährlich: absolut skrupellose, sadistische, hundsgemeine und menschenverachtende Verbrecher, deren blutdurstige Gewissenlosigkeit selbst in so einem Dritten Reich des Bösen ihresgleichen sucht, sodass die SS-Sicherheits- und Simulationskontrollen am Tag im Vergleich zu den Nächten im Mehrbettzimmer unter „Freunden“ schon fast wie eine Kindergeburtstagsparty anmuten.
Denn die „Simulanten“ kontrollieren ihrerseits alle anderen und lassen jeden übers Messer springen, von dem sie glauben, er könne ebenfalls ein Simulant und deshalb später, nach dem absehbaren Ende des Hitlerreiches, für sie gefährlich werden. Dick aufgetragen? Nein, nicht doch! Mega-Mania Adler-Olsen halt … Kein Wunder jedenfalls, dass es eng wird für Bryan und James, und dass die Story später, im Nachkriegsdeutschland, noch ein erstaunliches Nachspiel haben wird …
Und so entsteht eine Geschichte, die auf einem erstaunlichen Kompositum erzählerischer Anleihen fußt: ein Viertel Abenteuerroman mit Weltkriegstouch, ein Viertel Irrenhausdrama, ein Viertel Psychothriller, ein Viertel zeitgeschichtliche Chronik. Als Klammer dient dem Ganzen die Struktur des Kriminalromans, die sich zum Ende hin immer stärker durchsetzt – bis hin zu einer Kaminzimmer-Auflösung mit Frankenstein-Touch.
Krach, Tätäräta und Tamtam im Kaminzimmer
Eines muss man Jussi Adler-Olsen lassen: Der Plot seines Debütromans aus dem Jahr 1997 hat schon was, zumindest im Groben und Ganzen. Wie die verschiedenen Perspektiven gegeneinandergesetzt sind und wie die Geschichte sich in der Nachkriegszeit vollendet, das ist keine schlechte Idee. Gut gedacht, intelligent konstruiert. Leider stehen dem aber ein paar typische, störende Charakteristika Adler-Olsenschen Schreibens gegenüber: kurios überzogene Figurenpsychologien, hanebüchene Plausibilitätsprobleme sowie Ärgernisse in der sprachlichen Umsetzung.
Sagen wir so: Sprachlich ist „Das Alphabethaus“ für halbwegs anspruchsvolle Leser eine echte Herausforderung, und in Kombination mit all diesen überdrehten Megamanien auf der inhaltlichen Ebene kann sich bald so ein 1990er-Cineplex-Blockbustergefühl der totalen Popcorn-Cheeseburger-Sinnentleertheit einstellen: Hier wird so brutal so viel Krach und Tätäräta und Tamtam geschlagen, dass man den ambitionierten Ansatz bei Thema und Story garantiert vergisst. Denn eigentlich geht’s ja um Aufklärung: Jussi Adler-Olsen, Sohn eines Psychiaters, der weite Teile seiner Jugend im Umfeld psychiatrischer Anstalten verbracht hat, informiert über den Wahnsinn der Psychiatrie in Zeiten des Krieges im Dritten Reich.
Die Frage ist, ob man dieser speziellen Facette der Banalität des Bösen mit solch einer blöden Banalität gerecht werden kann, wie sie Jussi Adler-Olsen mit seinem Angang letztlich praktiziert: hier die Helden, da die Bösen, dort die Monster. Also: die monströs NS-infizierten, total linientreuen, absolut faschistoiden Deutschen, die voll und ganz und bis in die letzte Faser ihres Seins dem Hitlerismus verfallen sind. (Einzige Ausnahme ist eine Krankenschwester, die sich in James verliebt, aber auch sie verkörpert bloß den Typus des Mitläufers, der mehr Mittäter als Gezwungener ist und so doch nicht weniger Mitschuldiger.)

Adler-Olsen (Quelle: wikipedia)
Der böse, böse, BÖSE Deutsche
Gut und böse, schwarz und weiß – und nichts dazwischen: Ansonsten wird kein Deutscher im Handlungskontext etabliert, der irgendwie für ein differenziertes Bild stehen könnte. Also zum Beispiel ein Kommunist oder ein Sozialdemokrat, Vertreter einer anstaltsinternen Widerstandsgruppe, der ebenfalls sein Irresein simuliert und der so zwischen die „guten“ und die „bösen“ Simulanten geraten könnte. Da würde es interessant werden, weil komplex und realistisch, und das ohne Spannungsverlust. „Das Alphabethaus“ präsentiert dem gegenüber eine Konstellation, in der, überspitzt formuliert, jede Menge danish dynamite zu stecken scheint: Böse, böse, BÖSE Deutsche! Und zwar ausnahmslos! Mit Ausrufezeichen! Und Popcorn!
Auf der Ebene der Zeichen erinnert „Das Alphabethaus“ so gesehen vielfach an zweitklassige Spionageromane aus den Achtzigern, bloß argumentiert Jussi Adler-Olsen noch simpler.
Dass so etwas möglich ist, also den NS-Wahnsinn differenziert und trotzdem mit den Mitteln der Unterhaltungsliteratur zu erzählen, ist schon seit 60 Jahren bekannt. Erich-Maria Remarque veröffentlichte damals den KZ-Roman „Der Funke Leben“, der gerade aus seiner Differenzierung die Energie schöpfte, dem Thema gerecht zu werden und zugleich fassungslos zu machen.
Interessant übrigens, dass der ungemütliche Erfolgsschriftsteller Remarque mit seinem Manuskript jahrelang einen Verlag suchen musste und mit dem Buch schließlich keine Leser fand – während Jussi Adler-Olsens Versuch verkaufstechnisch direkt ganz oben reüssiert. So haben sich die Zeiten geändert, so mächtig sind heute die Fürsten der Kriminalliteratur.
Ulrich Noller
Jussi Adler-Olsen: Das Alphabethaus (Alfabethuset, 1997/2007). Roman. Deutsch von Hannes Thiess und Marieke Heimburger. München: dtv Premium 2012. 589 Seiten. 15,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.