Geschrieben am 2. Februar 2013 von für Bücher, Crimemag

Julia Menzel über Jodocus Donatus Hubertus Temme

Hubertus_TemmeUnfälle, Zufälle, erste Fälle  Ein Criminalrichter in der Gartenlaube

Jodocus Donatus Hubertus Temme (1798–1881) gehört zu den „poetae minores“, die von Zeit zu Zeit wieder exhumiert werden, um irgendwelche Traditionen zu konstruieren oder zu begründen. Das ist schwierig, wenn ihr Schaffen kaum produktionsästhetische Relevanz für eine literarische Reihe o. ä. hat. Dennoch ist Temme ein interessanter Fall – weil seine Arbeit konzeptionell durch thematische Vernetzung mit einem extrem populären Medium seiner Zeit, der „Gartenlaube“, verknüpft ist und weil er den pädagogischen Eros implantiert hat, der später so heftig und nervtötend gerade in der deutschen Kriminalliteratur obwaltet. Ob das allerdings kausal zu sehen ist? Julia Menzel sichert erst einmal das Terrain.

„Ein Buch für Alle“, das „aus der Feder eines Fach-Mannes“ (einem Berliner Kriminaldirektor a.D. – wo sonst sollte das Verbrechen blühen?) stammt und neben wohligem „Grausen“ in „ansprechenden Bildern“ und „ausgezeichneter Weise“ dem interessierten Laien „wahre Thatsachen“ über das deutsche Kriminalleben präsentiert …

Nein, hier wird nicht Band 128 der Weltbild Sammler-Edition „Wahre Kriminalfälle“ beworben. Dabei haben wir es durchaus mit einem Profi der Verbrechensaufklärung zu tun. Jodocus Donatus Hubertus Temme ist eben nur rund 150 Jahre früher dran als seine Kollegen. Und scheint obendrein mit der Werbung für sein Buch „Deutsche Criminalgeschichten“ im Jahr 1858 Maßstäbe zu setzen, hinter die man im 21. Jahrhundert nicht mehr zurück will. Eines seiner vielen Jetztzeit-Pendants, Bernd Udo Schwenzfeier (ehemaliger Kriminalhauptkommissar in …? natürlich – Berlin!), lässt seinen „Mitternachtsmörder“ aus der erwähnten Sammler-Edition jedenfalls wie folgt bewerben: „Nichts ist spannender als die Realität! […] Selten wurde Fachwissen so spannend dargestellt! Doch menschliche Abgründe können schockieren.“

Ernst KeilNach einer Photographie von W. Höffert in Leipzig auf Holz gezeichnet von Adolf Neumannaus Die Gartenlaube von 1878, Seite 573 (Quelle: wikimedia commons, gemeinfrei)

Ernst Keil

Teilnehmende Beobachtung

Solche Schocks können Temmes Leser aber vermutlich ertragen. Schließlich begegnet ihnen der im Familienblatt Die Gartenlaube (Heft 43/1858) beworbene Autor dort nicht zum ersten Mal. Unter anderem als Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder“, vor allem aber durch insgesamt 10 Untersuchungsrichter-Geschichten aus den Jahren 1855 bis 1863 ist Temme dem Gartenlaube-Leser bestens vertraut. Ebenso mit dem Credo des „vorzüglich belehren durch Unterhaltung“.

Als einer der interessantesten, gleichwohl eher gering geschätzten Vertreter der deutschen Kriminalprosa des 19. Jahrhunderts kommt Jodocus Temme durch seine Berufslaufbahn mit authentischen Fällen in Berührung. Er strebt zunächst eine juristische Karriere an, wird 1839 Rat am Berliner Kriminalgericht, dann Direktor am OLG Münster und kehrt nach einer Strafversetzung wegen allzu liberaler Gesinnungen in die Staatsanwaltschaft Berlin zurück. Dort wird er Mitglied der Nationalversammlung und verpasst damit seiner juristischen Karriere den endgültigen Todesstoß  dem Amtsenthebungsverfahren folgt die Entlassung ohne Pension. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Journalist emigriert er in die Schweiz und macht dort sein bereits in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts entdecktes Schreibtalent zum Brotberuf. Dabei nutzt Temme seine Erfahrungen im Justizwesen. Es entstehen zahlreiche Kriminalerzählungen und Sammlungen von Rechtsfällen wie die 17-bändige „Criminalbibliothek“, die auf Niederschriften der Gerichte beruht und sich damit in die PitavalTradition stellt.

Für seine Kriminalnovellen in der von Ernst Keil seit 1850 herausgegeben Familienzeitschrift Die Gartenlaube greift Temme auf ein besonderes Figurenpersonal zurück. Mit seinem Criminalrichter, der als Ich-Erzähler die Rekonstruktion einer Tat vornimmt und den Leser gleichsam durch diese führt, hält der erste Serienermittler Einzug in die deutsche Kriminalprosa. Serielles Erzählen findet hier in doppelter Weise statt. In Form des ermittelnden Serienhelden, der anhand von 10 unterschiedlichen Fällen Einblick in seine „Arbeitsstube“ und den Arbeitsalltag gibt, und als Fortsetzungserzählung, die zumeist am Beginn einer Wochenausgabe erscheint und den Fall in 4 bis 5 Abschnitte unterteilt.

Eugenie Marlitt

Eugenie Marlitt

Tagelöhner der Justiz

Was aber macht dieser literarische Fahnder in der Gartenlaube? Während Temmes übrige Romane, Fallsammlungen und Kriminalnovellen in diversen Zusammenstellungen in Buchform erscheinen, ermittelt der Criminalrichter nur hier und kann bis heute (!) nur im Familienblatt gemeinsam mit dem Leser „begierig auf die Lösung des Räthsels“ (Rosa Heisterberg, Heft 7/1858) sein.

Ohne Frage – für Temme bedeutet die Publikation seiner Geschichten in einer der damals meistgelesenen Zeitschriften Deutschlands ein erkleckliches Einkommen. In seinen posthum erschienenen „Erinnerungen“ (1883) bezeichnet er sich selbst als „Tagelöhner der Feder“. Es gilt, den Unterhalt einer mehrköpfigen Familie zu sichern. Außerdem druckt die Gartenlaube seit ihrem Erscheinen neben mehrteiligen populärwissenschaftlichen Artikeln zahlreiche Romane und Erzählungen in Serie (man denke an die „Starautorin“ Eugenie Marlitt!) und ist damit ein durchaus attraktives Medium für einen Serienhelden.

Temmes Criminalrichter allerdings ist mehr als ein trockener Sachwalter des Verbrechens in Fortsetzung. Er inquiriert! „War sie eine Schuldige?“ (Rosa Heisterberg, Heft 5/1858), „War das das ruhige, edle Vertrauen der Unschuld?“ (Der erste Fall im neuen Amte, Heft 27/1858), „War es eine neue Phase unmittelbar für die Untersuchung?“ (Rosa Heisterberg, Heft 9/1858). Fragen, die der Richter nur durch das Verhör, das Ansammeln neuer Erkenntnisse und durch die Auswertung von „Indicien“ zu lösen vermag. Ein durchaus komplizierter Wahrheits(er)findungsprozess. Allerdings keiner, den der Criminalrichter allein durchlaufen muss. Der Berichterstatter aus der Verhörstube nimmt einfach den geneigten Gartenlaube-Leser mit auf die Entdeckungsreise und bespricht sich mit ihm. „Aber woher denn Bedenken? fragt vielleicht mancher Leser von entschiedenem Charakter.“ (Der erste Fall im neuen Amte, Heft 28/1858).

Emil Adolf Roßmäßler

Emil Adolf Roßmäßler

Evidenz durch Koinzidenz oder: Wahrheitsfindung als Schnitzeljagd

Dabei organisieren weder Temme noch sein Criminalrichter allein die Wahrheitsfindung. Die Gartenlaube hilft aus bei der Schnitzeljagd.

Als Blatt „für’s Haus und für die Familie“ sollen die Leser „hinaus wandern an der Hand eines kundigen Führers in die Werkstätten des menschlichen Wissens“, um sich über Alles „was Ihr täglich seht und doch nicht kennt […] unterhalten und unterhaltend belehren“ zu lassen (Vorwort, Heft 1/1850). Diese Form der Unterhaltung umfasst ein wöchentliches Potpourri an Themen und Textsorten. Ein gedichtetes Morgenständchen folgt auf Ratschläge zur Baumveredelung Für Gartenfreunde. Nach dem Besuch im zoologischen Garten in Berlin widmet sich E.A. Roßmäßler in einem wissenschaftlichen Essay den Stein- und Braunkohlen. Und nach der medizinischen Belehrung über Die Erkältung und ihre Folgen verbringt man mit „Dr. A.“ Einige Stunden in der k.k. Irrenanstalt in Wien.
Auf diese Weise entsteht in jeweils 52 Wochen ein Hausbuch, das als Jahrgangsausgabe erhältlich ist und die Quadratur des Kreises schafft. Zwischen Nachrichtenblatt und enzyklopädischem Unterhaltungsbuch angesiedelt, wird zeitgenössisches Wissen hier in den unterschiedlichsten Formen an den Leser gebracht. Und hilft bei der Spurensuche!

Die_Gartenlaube_(1866)_p_001Parallelarchiv des kriminologischen Wissens

So leistet der Publikationsort Gartenlaube einen ganz besonderen Beitrag für Temmes Criminalrichter-Geschichten und wird zum Medium der Evidenz für ein Genre, dessen Gelingen maßgeblich vom Beteiligungskonzept des Vor-die-Augen-Führens abhängt. Indem Diskurse, die die Kriminalgeschichte nur anzitiert, in anderen (Sach-)Texten des Jahrgangsheftes ausgefaltet werden, entsteht ein Parallelarchiv des kriminologischen Wissens, das den Leser zum Augenzeugen macht und ihn zum „Inquirien“ geradezu einlädt. Denn: Während der Zufall bei der Ermittlungsarbeit des Criminalrichters zugunsten seiner Verhörkunst ausgehebelt wird, ist der zufällige Zufall der thematischen Vernetzungen in der Gartenlaube  eines Jahrgangs dann doch etwas allzu zufällig …

Der erste Fall im neuen Amte

Der erste Arbeitstag ist selten leicht. Für Temmes Criminalrichter wird Der erste Fall im neuen Amte (Heft 27-31/1858) aber gleich richtig schwierig. Konfrontiert ihn der berufliche Wechsel von Berlin nach Hannover doch nicht nur mit der kriminellen Energie verliebter Pärchen an der Landesgrenze, sondern vor allem mit einer Leichenöffnung aufgrund von Gerüchten.

Frau Metzgermeister Mahlers plötzliches Verscheiden löst derartige Spekulationen im Ort aus, dass Amtsarzt und Criminalrichter zur Tat schreiten und sich an die „Feststellung des objektiven Thatbestandes“ (Der erste Fall im neuen Amte, Heft 28/1858) machen. Der, also der Tatbestand, gibt den Gerüchten Recht: „Vergiftung durch Arsenik“ (ebd). Nur – „War nicht in dem eigenen Manne der Vergifteten der Thäter bereits ermittelt?“ (ebd.).

Nein, ganz so leicht macht es sich der Criminalrichter nicht, sondern beginnt mit seinem Alltagsgeschäft, dem Verhör. Metzgermeister, Bruder, Dienstmädchen, Nachbarin. Sie alle werden befragt und ergebnislos entlassen. Der Metzgermeister allerdings nutzt das Gespräch für sich und teilt nur zu gern seine „sonderbaren Gedanken“ (ebd.) zur Nichte seiner verstorbenen Frau mit. Dieses Mädchen „hat eine Bekanntschaft mit einem schlechten Menschen […]. Der Mensch ist ein Verbrecher. Er hat auch das Mädchen auf schlechte Wege gebracht; schon hier, als sie bei mir im Hause war.“ (Der erste Fall im neuen Amte, Heft 29/1858).

Sippenhaft der besonderen Art. Und so wird natürlich auch die Nichte Gretchen einbestellt, die die Tante im Streit verließ und obendrein von einer Erbschaft im Fall des Todes profitiert. Allerdings: „War sie denn wirklich eine Verbrecherin, eine Mörderin, das frische, fröhliche Kind?“ (Der erste Fall im neuen Amte, Heft 30/1858).

Verknüpfung …

Eine Frage, deren Beantwortung auch der Gartenlaube-Leser dieser Jahresausgabe übernehmen kann. Während der Criminalrichter angesichts des frisch blühenden, hübschen Gesichtes der Verdächtigen ob seiner Zweifel fast verzweifelt, erhält der Leser der Aerztlichen Strafpredigten für Frauen und Mütter (Heft 21 /1858) durchaus Hinweise zu Gretchens möglicher Schuld. Carl Ernst Bock warnt eindringlich vor den Folgen mangelnder mütterlicher Durchsetzungsfähigkeit: „Nicht genug, daß die Mütter an dem zeitigen Sterben und häufigen Kranksein der Kinder und Erwachsenen die meiste Schuld tragen, auch auf die geistige und moralische Entwicklung des Menschen üben sie in der Regel einen nachtheiligen Einfluß und zwar insofern aus, als sie gerade die ersten Lebensjahre des Kindes, wo der richtige Grund und Boden für das spätere geistige Wachsen und Gedeihen gelegt werden muß, nicht blos unbenutzt vorübergehen lassen, sondern hier sogar schon die Keime zum Bösen legen […]. So lange die unglückliche Idee bei den meisten Müttern, daß, ’wenn nur erst beim Kinde der Verstand kommt’, dieses sich schon noch bessern werde, fortbesteht, bleibt auch die moralische und geistige Erziehung im Argen […].“

Das genau diese Erziehung bei Gretchen „im Argen“ liegt, hat die ermordete Tante zu verantworten. Als „Tochter eines verkommenen und in Armuth gestorbenen Bruders“ (Der erste Fall im neuen Amte, Heft 29/1858) ohnehin moralisch gehandicapt, trifft sie auf eine Tante, die „schwächlich“ (ebd.) ist und dem zu sich geholten Kind den „eigensinnigen und etwas trotzigen Charakter“ (ebd.) nicht auszutreiben vermag. Im Gegenteil. Das Mädchen, das „hart, roh gegen […] ihre Tante und Wohlthäterin“ (ebd.) war, holt sie nach einer Auseinandersetzung über deren als unpassend empfundenen Auserwählten wieder ins Haus zurück und behält sie „dennoch lieb“ (ebd.). Eine Milde, die mit Mord bestraft wird?

… und mehr Verknüpfung

Mitnichten. Entsprechend dem Criminalrichter, dem trotz Indizienlage „ein Fall von so vollendeter Bosheit, wie er hier vorliegen müßte, […] bis jetzt fremd geblieben“ (ebd.) ist, findet sich im Feuilletonteil der Blätter und Blüthen (Heft 10/1858) Ein unerwarteter Zeuge, der Gretchens Freispruch en passant miterledigt.

Diese Schilderung eines (realen!) Kriminalfalls aus Übersee entspricht in erstaunlicher Weise dem Setting der ersten Amtshandlung. Während bei Temme der Tod der Metzgersfrau aufgeklärt werden muss, geht es in „Deepwoods“ um den Mord an einem ehrbaren Kaufmann. Der Angeklagte, ein junger Mann, „Waise“ und der Neffe des Ermordeten, verfügt über einen derart „zarten Wuchs“ und weitere einnehmende physiognomische Merkmale, dass der hier berichtende Korrespondent sofort von seiner Unschuld überzeugt ist. Er hat ihn „lieb gewonnen“. Dennoch ist die Indizienlage erdrückend. Sich gegen seinen Onkel auflehnend, will Edward Demarton die Eheschließung mit der vom Onkel missbilligten Geliebten vollziehen und verlässt nach einem Streit dessen Haus. Weniger später ist der Onkel tot. Nicht allerdings, ohne vorher Edward Demarton gesprochen zu haben und ihn in „seinen Dienst zurückkehren“ zu lassen. Wieder ein zu weiches Herz?

Demarton kommt frei. In buchstäblich letzter Sekunde vor der Verurteilung – „der Richter hatte resumirt und die Zeugenaussagen gegen den Gefangenen geschärft und die Geschworenen wollten sich eben zurückziehen“ – erhält der Gerichtssaal Nachricht vom titelgebenden unerwartete[n] Zeuge[n]. Der Ermordete lebt! „Er sei aus seiner Lethargie erwacht, hätte sein Bewußtsein wieder erlangt, und wolle den befugten Beamten sagen, wer ihn angefallen und ermordet habe.“ Das tut er dann auch, bringt Harold, einen „wüsten Gesellen […] mit düsteren, rauhen Zügen […] ganz wie ein Schurke“, hinter Schloss und Riegel und stirbt am folgenden Nachmittag erneut. Diesmal für immer.

Frau Metzgermeister Mahler kehrt nicht mehr zurück. Dennoch wird auch hier die Unschuld der „kleinen, hübschen, außerordentlich behenden“ (Der erste Fall im neuen Amte, Heft 27/1858) Waise, die die Verwandte ermordet haben soll, bewiesen. Und die Schuld des wahren Mörders, des Metzgermeisters Mahler, festgestellt.
Temmes Criminalrichter setzt ebenfalls auf eine unerwartete Zeugin und kann dem Gatten eheliche Untreue nachweisen. Der Mann „mit dem häßlichen, Schrecken erregenden Gesichte“ (Der erste Fall im neuen Amte, Heft 27/1858) hat in Louise Schmidt, einem ehemaligen Dienstmädchen im Hause, eine neue Frau Mahler gefunden und entledigte sich der alten Frau Mahler über die gezielte Gabe von Arsen. Louises Mutter schließlich „hatte den Kopf verloren“ (Der erste Fall im neuen Amte, Heft 31/1858), gesteht die außereheliche Verbindung, bringt den Fall damit zum Abschluss und so den Criminalrichter zum Aufatmen. „Ich wagte es, verließ mich auf meine Physiognomik, auf meine Psychologie, auf mein Glück.“ (ebd.)

Die_Gartenlaube_(1853)_001Aufatmen in der guten Stube

Und auf die Leser der Gartenlaube!
Schließlich lässt sich nicht nur fragen, warum Temme im Familienblatt publiziert. Ebenso legitim erscheint die Frage, was Kapitalverbrechen in einer Zeitschrift zu suchen haben, die ihren Lesern im Vorwort zur ersten Ausgabe verspricht: „Ueber das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben wie der Duft auf der blühenden Blume, und es soll Euch anheimeln in unsrer Gartenlaube, in der Ihr gut-deutsche Gemüthlichkeit findet, die zu Herzen spricht.“ (Vorwort, Heft 1/1850)

Zugleich weiß Herausgeber Ernst Keil aber auch: „Wenn der Mensch sich ganz klar werden will, so muss er vor allem sich selbst kennen lernen“ (Faycal Hamouda: Der Leipziger Verleger Ernst Keil und seine Gartenlaube. Edition Marlitt 2005). Es geht eben nicht ganz ohne Kriminalität ab, wenn man die „Werkstätten des menschlichen Wissens“ (s. Vorwort) erkundet. Die müssen allerdings bewältigbar sein. Und so gönnt Die Gartenlaube ihren Lesern ab und an auch mal ein gepflegtes Grausen, in dem die Literatur als Kriminalitätsvermittler auftritt.

Temmes Criminalrichter erfüllt dabei gleich mehrere Funktionen. Als Berichterstatter aus dem Gerichtssaal liefert er authentische Momentaufnahmen des real existierenden Verbrechens. Als ermittelnder Serienheld löst er in beruhigender Regelmäßigkeit Probleme und verhilft der Gerechtigkeit zu ihrem Recht. Als Begleiter des Gartenlaube-Lesers aber zeigt er sich als mitfühlender Pädagoge: „So könnte ich Euch bitten, anzunehmen, ich hätte Euch einen echt professorlichen – ‚praktischen Excurs‘ aus der empirischen Psychologie geben wollen, oder gar einen Beitrag zu der Kunst des Inquirierens.“ (Der erste Fall im neuen Amte, Heft 31/1858).

Julia Menzel

Porträt: Ernst Keil nach einer Photographie von W. Höffert in Leipzig auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann aus Die Gartenlaube von 1878, Seite 573 (Quelle: wikimedia commons, gemeinfrei).

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