Rote, Blaue und Purpurne …
Eddie Russett hält sich an die Regeln! Er kämmt sein Haar auf die vorgeschriebene Weise und würde nie auf die Idee kommen, den halben Windsorknoten seiner Krawatte über das vorgeschriebene Maß hinaus zu lockern. Jasper Ffordes neuestes Andersweltwerk ist skurril, durchgeknallt und macht süchtig. Von Doreen Wornest
Der Waliser Fforde arbeitete als Kameramann unter anderem für den Bond-Film „Golden Eye“, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine mittlerweile sechs Thursday-Next-Romane, von denen bis jetzt fünf in Deutschland bei dtv erschienen sind, spielen in einer Alternativwelt, in der ein Übergang zwischen der realen und der Literaturwelt möglich ist. Die Romane sind gefüllt mit Anspielungen auf viele literarische Werke und erwecken bekannte Romanfiguren zum Leben.
Graue …
Eddie ist ein Roter in einer Welt, in der gesellschaftlicher Status durch die Farbwahrnehmung bestimmt wird. Der Ishihara-Test bestimmt die Zukunft jedes Einzelnen. Je höher die Farbwahrnehmung, desto einfacher wird das Leben. Aber Farben können auch gefährlich sein.
Weil Eddie ein Musterbürger ist, der keine Fragen stellt, erhält auch der Leser keine Erklärungen zu der Welt, in die er sich begibt. Er muss hinnehmen, dass die Menschen nur bestimmte natürliche Farben wahrnehmen. NationalColor, die über allem schwebende Macht, versorgt die Welt mit künstlichen Farben, die jeder sehen kann.
Die Regeln zu missachten ist gefährlich, denn das führt zum Abzug von Meriten, also Bonuspunkten, und unter eine bestimmte Grenze zu gelangen bedeutet zum Reboot, das heißt, zur Umerziehung geschickt zu werden. Die größte Gefahr im Leben geht jedoch von Blitzen und Schwänen aus. Vielen Menschen haben sie schon das Leben gekostet. Eddie hat noch nie einen Schwan gesehen, aber die Geschichten der Angriffe sind erschreckend genug.
Wehe dem, der keinen Löffel besitzt …
Die ungeheure Vielfalt an Regeln ist unumstößlich. Der geistige Anführer der Farbwelt ist der Große Munsell. Bei regelmäßig erfolgenden Großen Sprüngen Zurück werden Gegenstände und Erfindungen der Einstigen verboten. Darum ist auch das Wissen um die Einstigen verschwunden und niemand weiß mehr, woher man kommt und was vorher war, aber das ist auch nicht von Bedeutung, denn das erklärte Ziel der Gesellschaft ist Stagnation. Es gibt kaum noch Bücher. Die Bibliotheken sind leer, aber gute Bibliothekare haben von ihren Vorgängern gelernt, welches Buch einmal an welchem Platz stand. So ist Eddie schwer beeindruckt, als ihm die Standorte von Murdoch im Orient-Express, Mrs Schnees Gespür für Smileys oder Die Reigen der Schlemmer in einer leeren Bücherei gezeigt werden. Einer der Großen Sprünge ist auch dafür verantwortlich, dass keine Löffel mehr hergestellt werden dürfen. Sie sind Mangelware und jeder Bewohner trägt seinen Löffel als wichtigsten Besitz immer bei sich. Die Welt existiert nur innerhalb der Stadtmauern. Es gibt ein Niemandsland außerhalb der Städte, wo Megafauna existiert und jeder Schritt der letzte sein kann.
Stagnation ist das anzustrebende Ziel
In der äußersten Randzone dieser Welt, in die Eddie geschickt wurde, weil er dem Kollektiv einen Verbesserungsvorschlag für das System von Warteschlangen gemacht hat – was eine Störung der anzustrebenden Stagnation bedeuten könnte –, lernt er Jane kennen. Sie ist eine Graue und eine Verbindung der beiden undenkbar, denn sich spektralabwärts zu verbinden, kommt in einer Welt nicht vor, in der nur geheiratet wird, um die Farbwahrnehmung der Familie zu verbessern. Doch in den Randgebieten läuft alles anders, und Eddie beginnt Dinge zu hinterfragen und Geheimnisse zu ergründen, die seine Weltsicht erschüttern. Damit ist der Anfang für die folgenden zwei Bände der Eddie-Russett-Trilogie gelegt. Lustig, erschütternd, genial.
Wie auch bei Thursday Next schwebt eine alles bestimmende mysteriöse Behörde über einer andersartigen fantastisch anmutenden, mit vielen Anspielungen gefüllten Welt, in die sich Fans von Parallelwelten und abgedrehtem Sinn zweifellos gerne fallen lassen. Aber auch eine düstere Seite ist allgegenwärtig. Der Große Munsell als geistiger Führer wacht über alles, sei es als Statue, Gemälde oder durch die Schriften, die täglich gelesen werden müssen. Die Großen Sprünge Zurück löschen das geistige Erbe der Einstigen aus und Widerworte werden mit Reboot bestraft, denn jeder Einzelne muss dem Kollektiv 50 Jahre mit voller Kraft zur Verfügung stehen. Ob Fforde in China wohl beliebt ist?
Doreen Wornest
Buchpräsentation: 07.11.2011, 19 Uhr im Kulturkaufhaus Dussmann, Berlin. Jasper Fforde: Grau (Shades of Grey – The Road to High Saffron, 2010). Deutsch von Thomas Stegers. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2011. 490 Seiten. 19,95 Euro. Hier geht’s zur Homepage von Fforde.