Geschrieben am 16. Dezember 2017 von für Bücher, Crimemag, CrimeMag Dezember 2017, Interview

Interview & Kritik: Gerald Seymours „Vagabond“

cm cover vagabond46742Wenn Thriller den Härtetest der Realität bestehen

Gerald Seymour ist endlich wieder präsent. Fast zwanzig Jahre lang wurde er nicht mehr übersetzt. Alf Mayer stellt ihn uns vor und hat sich mit Übersetzerin Andrea O’Brien über „Vagabond“ unterhalten.

Solch ein Werk hat weltweit kein anderer Thrillerautor vorzuweisen. Seit 1975 und dem Irland-Thriller „Harry’s Game“ (dt. Das tödliche Patt, 1979) hat der Brite Gerald Seymour beinahe ununterbrochen jedes Jahr einen gewichtigen Polit-Thriller vorgelegt – and he keeps on running. Gerade 76 Jahre alt geworden, erscheint in UK jetzt am 4. Januar 2018 „A Damned Serious Business“, sein 39. Roman. Schon irre. Und beeindruckend.

Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass es kaum einen politisch interessierten, zeitgenössischen Autor gibt, der – dies nun seit über 40 Jahren – die Welt so ungeschminkt zeigt. Ob es das bürgerkriegszerrüttete Irland, der Nahe Osten, Russland oder Afghanistan sind, Arabien, Südafrika, Libanon, Iran, Irak, Mittelamerika oder die Balkanstaaten, Seymour macht aus uns passiven Medienkonsumenten Involvierte, Informierte. Man habe es nicht gewusst, lässt sich nach der Lektüre seiner Bücher nicht mehr so ganz sagen. Immer ist es bei ihm wieder eine andere Konfliktzone der Welt, immer ein vielschichtiger Blick auf die Frontakteure der Geheimdienste, des Extremismus und – bei Seymour stets präsent – des Organisierten Verbrechens. All dies aus britischer Perspektive, klar, aber ohne diesen englischen Dünkel, ganz erdig und proletarisch. Pragmatisch. Universal. Keine roten Atomknöpfe weit und breit, keine Weltuntergangs- oder Superwaffen, keine Mega-DeLuxe-Gefahren, die nur ein Agenten-Superheld noch zu verhindern wüsste, nur lauter kleine, fast schon schäbige Aktionen aus den Schützengräben und Kellerlöchern der Geheimfronten.

TV Harrys GameFrontschwein-Geschichten

Wie bringt man jemanden zum Überlaufen? Wie schafft man ihn aus einem totalitären Staat heraus? Wie unterbindet man eine Waffenlieferung an Extremisten? Wie kommt man an einen Bombenbauer heren? Wie bekommt man ein Auge und Ohr in die Nähe eines abgeschirmten Mafiabosses? Wie greift man sich einen bestimmten Extremisten, der tief in der iranischen Provinz sitzt? Wie vermiest man einem Waffenhändler das Geschäft, der den Schutz vieler Staaten und Dienste genießt? Gerald Seymour schreibt Frontschwein-Geschichten. Seine Thriller sind nicht glamourös, sie zeigen die „Arbeitswelt“ von Agenten, Freelancern, Soldaten, Polizisten und verdeckten Ermittlern von ganz unten. Wie bei Eric Ambler, den Seymour wirklich beerbt hat, gibt es oft Unschuldige, die mit hineingezogen werden und an denen sich der ruppige Umgang der Profis mit der Kollateralwelt spiegelt und reibt.

Immer ist es ein anderer Plot – ok, gewisse Topoi wiederholen sich, vom Genre bedingt, in über 40 Jahren -, immer aber ist es eine Blickführung, die unerwartet und eher unbekannt ist. Im Lauf der Jahre hat Seymour es zur Meisterschaft gebracht, zwei Dutzend Handlungsstränge oder gar mehr zu einer sonoren Kontrabass-Stimme zu bündeln. So lese ich ihn: als dunkel vibrierende Kommentarstimme unserer Zeit. Sein jetzt im Januar 2018 erscheinender neuer Roman nähert sich über Schweden und Estland dem staatlich subventionierten russischen Cyberkrieg, wie immer bei Seymour werden wir dabei den Gegensatz von HUMINT und SIGINT erleben.

JourneymanjpgErbärmlich: Deutscher Auftritt zuletzt 1998

Im angelsächsischen Sprachraum gilt Gerald Seymour unbestritten als der beste Thrillerautor der Welt. In Deutschland ist es jetzt beinahe 20 Jahre her, dass man das überprüfen konnte. Das letzte Buch von ihm, das ins Deutsche übersetzt wurde, war 1998 die tief ins Innere einer Mafiafamilie vorstoßende „Informantin“ (Killing Ground). Seitdem hat er 18 weitere Romane geschrieben. Für mich, und ich hoffe nicht nur für mich, ist es wie Weihnachten, dass in dem von Thomas Wörtche verantworteten Kriminalliteraturprogramm bei Suhrkamp jetzt „Vagabond“ erschienen ist. Sehr fein übersetzt von Zoë Beck und Andrea O’Brien. (Dazu unten mehr, siehe das Interview.)

Der Stoff des 76jährigen Vollblutjournalisten – „Of course I’m still a hack“, bekannte er 2015 in einem Interview mit dem Guardian – ist die Wirklichkeit. Wie Ambler lässt Seymour sich von der Zeitung für seine Romane inspirieren. Jeder seiner dicht bevölkerten, stets aus vielen, vielen Blickwinkeln erzählten Romane steht für sich allein, ist ein hochkarätiges, poliertes und komplexes Einzelwerk. Ambler war es gewesen, der damals 1975 Seymours Erstlingsroman, den in Belfast zwischen Briten und IRA-Kämpfern spielenden grimmigen Thriller „Harry’s Game“ ungewöhnlich begeistert lobte. Aus dem Buch wurde eine beachtlich gute TV-Miniserie gleichen Namens, deren Titel bis heute so gut wie jedem Engländer geläufig ist.

Seymour schreibt seit 1978 hauptberuflich Fiction. Insgeheim hoffe ich ja noch auf eine Autobiografie: 1941 geboren, beide Eltern Poeten, in Moderner Geschichte promoviert, Fernsehreporter geworden. 1963 mit 22 Jahren den Zugüberfall der englischen Posträuber als einen seiner ersten Fälle, dann 1963 bis 1978, fünfzehn Jahre lang an allen Krisenherden der Welt, von Vietnam über Irland bis zu der Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München, wo er weltexklusiv mit den Überlebenden der israelischen Mannschaft sprechen konnte. Dann auch noch an den Schauplätzen der deutschen RAF, der italienischen Roten Brigaden und des Nahostkonflikts gewesen, hat sich der Moralist William Hershel Kean unter dem Namen Gerald Seymour auf den Thriller als Reportagemittel spezialisiert.

VagabondHass über Generationen

Mit „Vagabond“, im Sommer 2014 in Großbritannien erschienen, wendet Seymour sich bereits zum vierten Mal dem irisch-englischen Konflikt zu. Nach „Harry’s Game“ (1975), „Field of Blood“ (1985) und „The Journeyman Tailor“ (1992) Irland heute? Immer noch? Ja, genau. Seymour zeigt, dass die kriegerischen Spannungen allen Friedensbemühungen zum Trotz keineswegs vorbei sind, dass weder die gnadenlose Härte der britischen Seite noch der separatistische Extremismus der anderen Seite keineswegs besänftigt sind und dass das nach wie vor grausame Folgen zeitigt. Den Realitätsgehalt von Seymours Buch haben mir der Brite Robert Wilson wie der Ire Declan Burke bekräftigt. Der Vagabond des Titels war vor 30 Jahren ein Informantenführer des britischen Geheimdienstes in Irland, effektiv und rücksichtslos. Im hasserfüllten, durch ein Fernglas beobachteten Gesicht eines Jungen, dessen Vater er ans tödliche Messer der Desinformation geliefert hatte, erkannte er damals eine Wut, die weiter fortwirken würde. (Das Gesicht des Kindes war vor Hass verzerrt – das Gesicht eines Kämpfers, dachte er. „Der wird noch Probleme machen, sag ich dir. Merk dir seinen Namen.“ )

Inzwischen ausgebrannt den Dienst quittiert und auf den Schlachtfeldern der Normandie als Fremdenführer unterwegs, wird Vagabond reaktiviert, nein, für einen Auftrag zwangspresst, bei dem er einen vom MI 5 „geführten“ Waffenhändler bei einem Deal an die Kandare nehmen soll, der die irischen Terroristen mit schweren Waffen ex-sowjetischer Provenienz versorgen würde. Seymour entwickelt aus dem D-Day-Tourismusprogramm und den Attentatskosten auf Heydrich, die Vagabonds ehemaliger Vorgesetzter ihm zur Re-Konditionierung als historische Parallele offeriert (der Deal wird in und um Prag stattfinden), eine Untergrundströmung von Kollateralschäden, die sehr wohl zu unserer Kultur, notfalls eben der Gedenk- und Totensonntagkultur, und damit in den Bereich unserer Duldung gehören.

Virtuos in ein gutes Doppeldutzend von Beziehungskonflikten gefächert, elegant in Parallelhandlungen erzählt, ist dies Seymour bislang härtestes Buch. „Salzsäure“ steht nicht umsonst auf dem Umschlag. Unlädiert bleibt hier niemand, auch der hasserfüllte Junge von damals hat seinen Part in der Gegenwart. Seymour zeigt nebenbei, wie Terroristen gemacht werden, gleich mehrfach macht er die Folgen repressiver Gewalt zu Strängen seiner Handlung. Dies in einer komplexen, durchkomponierten Geschichte mit vielen Charakteren, etwa einer 24-jährigen, gut aussehenden BWL-Studentin, die als Buchhalterin einer neuen Terrorgeneration den Trip nach Prag als Incentive versteht, der Frau eines IRA-Kämpfers, die zu Hause nie mit ihrem Mann wirklich privat sein kann, weil das Haus abgehört wird, einem verzweifelt an die Früchte der Ehrlichkeit glaubenden tschechischen Polizisten, dessen Land die Mafia und die Gier bis in die Poren korrumpieren.

Für eine vollständige Rezension müsste man weit über 100 Personen aufzählen, Seymours Romane sind prall wie Balzac-Romane. Sein Stil kommt ohne laute Töne aus, nichts wird ausgewalzt, alles ist höchst ökonomisch gewählt im Ausdruck, er schreibt ein schönes, klares Englisch, unkapriziös, handfest, uneitel. Und doch scheint Poesie durch. Seymours Romane hallen nach. Ehrlich gesagt, machen sie zum Lesen des Thriller-Normalschrotts unfähig.

Alf Mayer

collaboratorGerald Seymour übersetzen: Ein Interview mit Andrea O’Brien

Alf Mayer: „Vagabond“ war dein erster Gerald Seymour?

Andrea O’Brien: Ja. Als Leserin wie als Übersetzerin.

Punkt zwei wundert mich nicht, zuletzt gab es 1998 eine Übersetzung. Seitdem ist er 18 Bücher weiter. Wie fandst du ihn?

Sehr männlich.

(schluckt ein wenig) Magst du das begründen?

Nicht nur gibt es wenige Frauenfiguren, sie alle sind auch kein richtiges Gegengewicht gegen diese Männerwelt. 

Boah. Ist ja ein harter Interview-Einstieg. Aber vermutlich hast du Recht – zumindest für dieses Buch. Und generell für die Geheimdienstwelt. Ich lese Seymour seit den 1980ern. Aber nicht nur, weil ich selbst ein Mann bin, würde ich ihm so etwas nicht generell anhängen. Vielleicht reden wir über dieses Thema noch einmal, wenn du zum Beispiel „The Corporal’s Wife“, das Buch direkt vor „Vagabond“ gelesen hast, da geht es um die Ehefrau eines iranischen Unteroffiziers, den Fahrer eines hochrangigen Offiziers, an den der britische Geheimdienst über eine fiese Aktion herankommen will – dafür müssen die Akteure diese Frau verstehen und mit ihr klar kommen. Und in „No Mortal Thing“, dem Roman nach „Vagabond“, gibt es eine ganze Armada von Frauen, die für die Handlung wichtig sind.

The Corporals Wife1Ok. Können wir gerne vertagen. Klingt spannend, das mit „The Corporal’s Wife“.

Ist es auch. Versprochen. Wie fandst du „Vagabond“ sonst?

(aus der Pistole geschossen) Anspruchsvoll. Extrem komplex aufgestellt. Das erste Mal, dass ich mir bei einer Übersetzungsarbeit eine Art Plan gemacht habe: Wer ist wer? Wie sind die Bezüge und Beziehungen?

Wie schreibt Seymour?

Sehr knapp. Sehr kühl. Sehr distanziert.

Wie ist das für das Übersetzen?

Er hat durchgehend einen bestimmten Ton, das ist für die Übersetzungsarbeit gut, weil man nicht verschiedene Stimmen und Farben entwickeln muss. Eigentlich mag ich persönlich eher verschiedene Erzählstimmen. Aber, das muss ich anerkennend sagen, er zieht es durch. Er hält den Ton. Vergreift sich nie. Kein einziges Mal. Andere Autoren hören sich manchmal gerne reden, sozusagen. Ihm passiert das nicht.

Was ist das Schwierige? Und wie habt ihr beiden Übersetzerinnen das miteinander gemacht?

ousidersEs macht die Bezüge schwierig, wie Seymour schreibt, so verdichtet und kühl. Wer was im Satz oder dem Absatz davor getan hat oder im nächsten dann tut, das funktioniert mit dem „er“ im Deutschen nicht so gut. Ich habe dann öfter die Personen beim Namen genannt. Das mit der Arbeitsteilung war einfach: Zoë Beck hat die erste Hälfte des Romans übersetzt, ich die zweite. Ich glaube nicht, dass Leser einen Bruch wahrnehmen.

Ich jedenfalls nicht. Gratuliere. Das Schwierige bei Seymour sind aber nicht nur stilistische Fragen, oder?

Nein. Das ist die Unemotionalität. Seymour nimmt dich nicht in den Arm. Da ist keine Figur, mit der man sich aufgehoben fühlen kann. Niemand kommt ungeschoren heraus. Keiner bleibt unverletzt. Wie wenn man eine Leiche anfasst – davon bleibt etwas hängen. Ich hatte das mal in echt mit einem toten Fuchs, den habe ich nicht einmal angefasst, dem bin ich nur nahe gekommen. So geht es einem mit „Vagabond“. Das Buch trifft dich, unweigerlich. Und dann musst du alleine damit klarkommen.

daeler and deadUnd wie ist das, was er beschreibt?

Terrorismus, Waffenhandel, Geheimdienstsauereien – das sind schon Männerthemen. Er weiß sicher viel Authentisches, das kommt rüber. Was Irland angeht und die irischen Probleme – ich habe ja dort gelebt und bin mit einem Iren verheiratet – hätte ich mir mehr Grautöne gewünscht. Seymour hält sich zurück, irgendeine Sympathie zu zeigen, das ist alles ziemlich Schwarz-Weiß. Ziemlich hart.

Unterm Strich betrachtet: Wie war deine Begegnung mit Gerald Seymour?

(lacht). Klasse. Toll. Es war das erste richtige harte Männerbuch, das ich übersetzt habe. Ich habe ja eigentlich den Ruf weg, besonders für Frauenstoffe geeignet zu sein. Aber das ist nicht alles von mir (lacht). Meine Leidenschaft sind Krimis, deshalb mache ich ja auch meinen Blog „Krimiscout“. Auf dem kann man viel über meine Vorlieben erfahren. Das mit Gerald Seymour war absolut ein Ausflug in die richtige Richtung.

Gerald Seymour: Vagabond (UK, 2014). Aus dem Englischen von Zoë Beck und Andrea O’Brien, herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. Klappenbroschur, 498 Seiten, 14,95 Euro. Verlagsinformationen. Der Blog von Andrea O’Brien hier, der von Zoë Beck hier.

Offenlegung: Alf Mayer hat über Gerald Seymour schon geschrieben, als Thomas Wörtche noch lange nicht bei Suhrkamp Programm machte oder bei CrimeMag sein Kollege wurde. Warum sollte er es jetzt nicht tun, wenn einer seiner Lieblingsautoren nach 20 Jahren endlich wieder auf Deutsch erscheint?

Eine kommentierte Bibliografie mit Kurzfassungen der Seymour-Plots gibt es in Alf Mayers „Reading Ahead“ von „Vagabond“, das im November 2014 bei CrimeMag erschien.

Bibliografie Gerald Seymour:

Harry’s Game (1975; dt. Das tödliche Patt, 1979)

The Glory Boys (1976; dt. Fliegenpilz, 1980)

Kingfisher (1977; Der Ruf des Eisvogels, 1977)

Red Fox (1979; US: The Harrison Affair)

The Contract (1980; Der Auftrag, 1982)

Archangel (1982; Erzengel, 1985)

In Honour Bound (1984)

Field of Blood (1985)

A Song in the Morning (1986; Der Kronzeuge, 1987)

At Close Quarters (1987; Aus nächster Nähe, 1987)

Home Run (1989; Heimkehr in den Tod, 1992)

Condition Black (1991)

The Journeyman Tailor (1992)

The Fighting Man (1993; Der Tod derSchmetterlinge, 1995)

The Heart of Danger (1995)

Killing Ground (1977; Die Informantin, 1998)

The Waiting Time (1998)

A Line in the Sand (1999)

Holding the Zero (2000)

The Untouchable (2001)

Traitor’s Kiss (2003)

The Unknown Soldier (2004)

Rat Run (2005)

The Walking Dead (2007)

Timebomb (2008)

The Collaborator (2009)

The Dealer and the Dead (2010

A Deniable Death (2011)

The Outsiders (2012)

The Corporal’s Wife (2013)

Vagabond (2014)

No Mortal Thing (2016)

Jericho’s War (2017)

A Damned Serious Business (2018)

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