Kriminalleihbücher
– Ja, das gab’s mal, Leihbüchereien, in denen man sich für wenig Geld mit Lektüre versorgen konnte. Ein El Dorado für empirische Leserforschung, denn jetzt ist gerade eine Bibliographie dieser Fossile erschienen: Herbert Kalbitz/Dieter Kästner: Illustrierte Bibliographie der Leihbücher 1946 – 1976. Teil 1: Kriminalleihbücher. Kein Angst, das ist kein dröger Listen-Kram, sondern ein prächtiges Bilderbuch. Thomas Wörtche schwelgt ein wenig.
Wie heißt es so schön esoterisch: Der Weg ist das Ziel. Im Fall von Herbert Kalbitz’ und Dieter Kästners „Illustrierte Bibliographie der Leihbücher 1946 – 1976. Teil 1: Kriminalleihbücher“ ist vielleicht das Buchmachen der Weg, auf dem man zum Ziel, also an Publikum kommt.
Der Prachtband ist nämlich ein Wunderwerk der Buchherstellung. Auf fast 500 (!) Seiten präsentieren die beiden Herausgeber pro Doppelseite links trockene bibliographische Angaben, rechts wunderbar reproduzierte Cover-Art. Das Ganze penibel gesetzt und schön gebunden, mit Lesebändchen auf feinem Papier: 69 Euro ist viel Geld, zugebenermaßen, aber hier schon fast ein Schnäppchenpreis, den sich Mirko Schädels großartige Achilla Press einmal mehr leistet.
Disparate Archive
Nele Hoffmann hat neulich nachdrücklich auf die Relevanz der „disparaten Archive“ für viele Formen der Populären Kultur hingewiesen – und wenn es je eines Beispiels bedurft hätte: Eine bibliophile Bibliographie von Leihbüchern, hier Kriminalleihbüchern, ist ein disparates Archiv par excellence.
Die Bibliographie sichert den Bestand und das Wissen, sie schafft Forschungsgrundlagen, sie ist Philologie für ein besonderes Segment, das literatursoziologisch spannend und vor allem für Buchmarktforschungen ergiebig ist. „Speziell für den gewerblichen Verleih geschrieben und produziert, hat das Leihbuch nach 1945 während mehrerer Jahrzehnte die deutsche Unterhaltungsliteratur maßgeblich geprägt“, heißt es in dem leider etwas unnötig schnöseligen Vorwort von Jörg Weigand. Dem widerspricht die Bibliographie selbst sofort, in dem sie auch Verlage wie Karl Anders Nest-Verlag berücksichtigt, in dem viele angelsächsische Klassiker wie Chandler, Hammett oder Eric Ambler zum ersten Mal auf den deutschen Markt kamen, aber natürlich nicht nach den Weigand’schen Maßgaben geschrieben wurden.
Zudem war der Nest-Verlag – es sei auf Alf Mayers Standardwerk hingewiesen, das hier in der Bibliographie nicht auftaucht – nicht nur im Leihgeschäft tätig. Insofern ist die Welt der Leihbücher keine ganz eigene Veranstaltung mit ganz eigenen Gesetzen. Sie zeigt nur, ganz klassisch bourdieusch, wie wichtig „der Markt“ auch damals schon für die Positionierung, Verortung und Wertung von Texten im „literarischen Feld“ war. Insofern finden sich anderweitig schon längst „kanonisierte“ Autoren wie Geoffrey Household oder Ngaio Marsh völlig organisch auch im Leihbuchbusiness, eben weil man zwischen „Krimi“ und „Krimi“, zwischen „Thriller“ und „Thriller“ keine großen Qualitätsunterschied im sowieso als trivial eingeschätzten U-Sektor machen wollte. Und vielleicht auch noch nicht konnte, weil die literaturkritischen Werkzeuge zur differenzierenden Analyse noch nicht zur Verfügung standen, resp. nicht angewendet werden sollten. Eine Konsequenz der Nazi-Zeit oder deutsche Kontinuität?
Impulse?
Aber wir sind auf der Metaebene angekommen, was allerdings das Schicksal von Bibliographien und Auflistungen obsolet gewordenen Kulturguts ist, das keine produktionsästhetischen Impulse mehr setzt. Was insbesondere „der alte deutsche Krimi“ sowieso nie geleistet hat – weder der des 19. Jahrhunderts noch der schematisch-industriell produzierte Nachkriegs-Schmöker für den schnellen Lesespaß – da liegt der Unterschied zu den amerikanischen Pulps, die in der Tat Impulsgeber waren.
Bilder, Bilder …
Den großen ästhetischen Mehrwert des Bandes sind die Bilder. Cover-Art in allen Stadien von genial bis schwachsinnig, von meister- bis stümperhaft, geschmacklos, vulgär, elegant, schrill und bunt, naiv und ausgefuchst und nicht selten das alles zusammen. Dreißig Jahre Gebrauchsgraphik, dreißig Jahre extrem persuasive Umschlaggestaltung, dreißig Jahre Bilderwelten, mit denen man damals etwas anfangen konnte. Und natürlich dreißig Jahre auch optische Einübung, in das, was „Krimi“ ist … egal, was der einzelne Text sagt.
Die Umschläge sagten: Frauchen in Gefahr, Frau böse und verführerisch, gar sexuell gefährlich, Kerle mit Phallus-Prothese – Kanone – und allen anderen typologisch a-sortierten Angeboten. Verbrechen ist hauptsächlich eine urbane Angelegenheit, oft eine Sache von cops & robbers oder eine ungeheuerlicher Bedrohung vom Superschurken. Man könnte jede beliebige Bildseite – mit jeweils vier bis neun Titelbildern ausgestattet – einer Feinanalyse unterziehen und hätte vermutlich eine bundesrepublikanische (die DDR kommt in dem Buch nicht vor, wenn ich das richtig sehe, da hätte ich gern mehr gewusst) Neurosen-Obsessions- und Psychosozialgeschichte vom Allerfeinsten.
Mit anderen Worten: Kalbitz’ und Kästners Wunderwerk bibliographischer Akribie und produktivem Sammelbetrieb bescheren uns ein Buch, in dem man sich stunden- und tagelang (vermutlich wochen- und monatelang auch) rumtreiben kann und immer wieder neue Aspekte und Querverweise entdeckt.
Must have!
Thomas Wörtche
Herbert Kalbitz/Dieter Kästner: Illustrierte Bibliographie der Leihbücher 1946 – 1976. Teil 1: Kriminalleihbücher. Butjadingen: Achilla Presse Verlagsbuchhandlung 2013. 500 Seiten. 69,00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.