Geschrieben am 17. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Gyula Halasz Brassaï: Proust und die Liebe zur Fotografie

Die Authentizität des Augenblicks

Marcel Proust und die Fotografien von Paul Nadar, das ist zunächst einmal kein irgendwie theoriegeladenes Terrain, sondern eine pragmatische Angelegenheit. Wir wissen, dass Proust in seinem literarischen Werk unendlich viele Zeitgenossen und Zeitgenossinnen im wahrsten Sinn des Wortes verarbeitet hat. Überblendet, porträtiert, verschleiert, verschlüsselt, verfremdet und dies alles stets mit einem harten Kern an Referenz zu den realen Personen.

Als William Howard Adams in den 80er Jahren an das Fotoarchiv von Nadar fils herankam, fand er dort bekanntlich eine riesige Galerie Proustscher „Vorlagen“, die ganze Pariser Gesellschaft der Belle Époque, die sich in dem in den richtigen Kreisen angesagten Atelier für die Nachwelt und, mehr noch, fürs Renommee hat ablichten lassen.

Wir kennen das Proustsche Personal aus Nadars Porträts – jenseits hermeneutischer und methodischer Differenzen, Probleme und Feinheiten, die Zuordnungen von lebenden Menschen zu Fiktionen immer haben. Wir wissen, dass wir uns Saint Loup als eine Überblendung oder Schnittmenge des Leutnants Graf Armand de Cholet, des Herzogs Armand de Guiche, des Marquis Boni de Castellane und des Vicomte Robert d`Humières vorstellen dürfen und dass in die literarische Charakterisierung des geschändeten Vinteuil sowohl Gabriel Fauré als auch Claude Debussy eingangen sind. Und so weiter.

Aber, recht eigentlich können wir das mehr als vermuten nur, wenn wir wissen, dass für Proust zumindest auch die Fotografien bei der Umwandlung von Menschen in Figuren eine Rolle gespielt haben. Denn sonst sitzen wir der Naivität auf, die hochstilisierten, in repräsentativer Funktion entstandenen Fotos von Nadar zeigten uns tatsächlich den Gesellschaftslöwen Charles Haas als Swann usw.

In George D. Painters grundlegender Proust-Biografie finden wir den Namen Nadar nicht. Nur hin und wieder die Andeutung, Proust habe Fotografien sehr geliebt und in seiner schriftstellerischen Isolation auch nach Porträts gearbeitet. Das war lange der Stand der Forschung und der Dinge – es genügt für einen schönen synästhetischen Schlenker, ein rezeptionsgeschichtliches Aperçu. Für mehr aber kaum.

Und dann kommt respektive kam 1984 Gyula Halász, genannt Brassaï. Selbst ein begnadeter und berühmter Fotograf, dessen Bildbände „Séville en fête“, „Paris de nuit“ oder „Le Paris secret des années trente“ (u.v.a.) zu den großen Klassikern des letzten Jahrhunderts gehören, war er auch ein glühender Verehrer von Proust. Sein Fotografen-Blick auf die Welt entdeckt das Fotografische in Prousts Werk. Und so reiht er fast manisch Stelle an Stelle, an denen Proust in Romanen, Essays, Briefen oder Zeitungsartikeln irgendetwas zur Fotografie gesagt, erläutert oder sie auch nur beiläufig erwähnt hat. Durch eine solche Häufung von Zitaten entsteht zwar noch lange keine hieb- und stichfeste Stringenz der Argumentation, aber ein starker und außerdem faszinierender Verdacht:

Gibt das noch junge Medium der Fotografie womöglich den „Schlüssel“, nicht nur zur „Recherche“, sondern zu Prousts gesamtem künstlerischen Konzept ab? Ist die ganze Summa kunstfertiger, raffinierter, kalkulierter, narrativer, reflektierender, monologischer Prosa, die Proust aufgeboten hat, um die temps perdu wenigstens im Akt des Schreibens zu fixieren und zurückzuholen, ist also dieser gewaltige Kraftakt in zehn Bänden Prosa (und allen anderen Konvoluten) letztendlich einer Kunst geschuldet, der ein anderer zeitgenössischer großer Theoretiker gerade die Essenz eines Kunstwerks, nämlich die nicht-reproduzierbare Aura abgesprochen und sich dabei nicht selten ausgerechnet auf Proust berufen hatte? Ist das Proustsche Gesamtwerk also eine Art Anti-Benjamin? Oder gilt das nur für Brassaïs Thesen?

Klar, Benjamins Überlegungen zielten über die Fotografie hinaus und beschäftigten sich sukzessive damit, dass „die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks das Verhältnis der Massen zur Kunst verändert“, im Glücksfall sogar „in das fortschrittlichste“: durch den Film, das belebte, zeit-abbildende Medium.

Klar auch, dass Brassaï gegen Benjamin auf dem einzigartigen Kunstcharakter des Fotos insistiert: „Mit der Fotografie sind diese neuen Augen gekommen, die sich anders als der Blick des Menschen auf die Welt hin öffnen und die, selbst wenn sie vom Gehirn und von der Persönlichkeit eines Kamera-Operateurs gesteuert sind, ihre Besonderheit wahren; dieses Etwas, das durch keine andere Kunst zu ersetzen ist: die Objektivität gegenüber der Realität, die Authentizität des Augenblicks.“

Diese „Authentizität des Augenblicks“ ist es, was Brassaï und Proust verbindet. Oder das, was Brassaï in Proust eine Seelen- resp. Ästhetikverwandtschaft sehen lässt. Prousts in der Tat erstaunliche Obsession für Fotos – seine Sammelleidenschaft, seine Manie, andauernd mit allen möglichen Menschen Fotos anschauen zu wollen, seine manchmal verblüffend foto-analog strukturierte Beschreibungsprosa, seine merkwürdigen Überlegungen zum Simulacrum, seine symbolischen Handlungen an (Bespeien) und anhand von Fotos („Reinkarnation“), die ganze ausufernde Foto-Metaphorik, die er in allen Arten von Texten benutzt, und schließlich die Verfestigung von Zeit in der Chronofotografie (die Zeit auf einem Einzelbild und eben nicht kinematografisch festhält) – all das gibt Brassaï recht.

Das subkutane Gefecht mit Walter Benjamin aber (und dafür halte ich Brassaïs Buch) verliert viel von seiner Triftigkeit, wenn man Prousts Übernahme fotografischer Methoden in seine Technik der Prosa auch als Teil der Semantik des point-of-views versteht, die sich in der erzählenden Literatur zunehmend entwickelte. Denn dann kommt z.B. der „kalte Blick“, Brassaï nennt ihn den „a-humanen Blick“ (Objektivierung, wie durch eine Fotolinse) deutlich aus einer literarischen Evolution – etwa via Flaubert und Maupassant. Dass diese literarische Evolution und die Erweiterung der medialen Möglichkeiten (eben durch die Fotografie) in einem kontextuellen Verhältnis stehen, ist eine Selbstverständlichkeit und schmälert Brassaïs Analyse dieses Einzelfalls keineswegs.

Im Gegenteil, sie ist extrem anregend und weist vor allem auf erzähltheoretische Reflexionsdesiderate (in Sachen 100 years ago) hin, die noch weitgehend unbearbeitet herumliegen, wo doch alle Welt sich schon gesichert im Cyber-, Hyper- und sonstwie virtuellem Text wähnt.

Von Thomas Wörtche

Gyula Halasz Brassaï: Proust und die Liebe zur Fotografie. Mit sechzehn Fotografien von Brassaï. Deutsch von Max Looser. Suhrkamp 2001 (Gallimard, 1997), 200 Seiten, DM 39.-