Ein Nachruf auf Jean-François Vilar
von Elfriede Müller.
Jean-François Vilar ist am 16. November 2014 viel zu jung gestorben. Er wurde 67 Jahre alt und verstarb so diskret, wie er die letzten Jahre gelebt hatte. Vilar gehört zur französischen Strömung der Post-68er-Autoren, die den französischen Kriminalroman, den Noir oder Polar, neu begründeten. Von seinen Kollegen verkörperte am ehesten er die Benjamin’sche Definition eines materialistischen Historikers, der Blitzlichter auf die Vergangenheit wirft. Sein Interesse galt dem Surrealismus, der häretischen linken Geschichte, Marcel Duchamp, Walter Benjamin und dessen Passagen und vor allem der Stadt Paris. Seine Absicht war es, die Leichen aus dem Keller zu holen, all das, was das Unbewusste verdrängt, verschleiert, unterdrückt. Vilar beschrieb in all seinen Texten den Verrat emanzipatorischer Ideale.
Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften und der Philosophie war er zehn Jahre „Berufsrevolutionär“ und für das Feuilleton der trotzkistischen Tages- und danach Wochenzeitung Rouge verantwortlich. Seinen ersten Roman „C’est toujours les autres qui meurent“ (Sterben tun immer die andern) veröffentlichte er 1982. Er ist bis heute nicht auf Deutsch erschienen. Vilar schrieb insgesamt neun Romane, zwölf Erzählungen und zwei Jugendbücher.[1] Alle auf Deutsch erschienenen Bücher von ihm sind mittlerweile vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich (mehr hier).
Blainville
Der Antiheld in fünf seiner Romane heißt Victor Blainville und ist Fotograf für die Zeitung Le Soir, in dem Roman „Die Maßlosen“ (1998 auf Deutsch erschienen) arbeitet er als Museumsfotograf. Der Name ist eine Referenz an den bildenden Künstler Marcel Duchamp, denn Duchamp wurde in Blainville geboren. In der Figur des Victor Blainville finden sich wiederum Facetten, die auf das Leben Vilars verweisen: „Man hat gelernt, eine Stadt zu lesen, wie Haussmann lernte, Perspektiven zu ziehen: brutal. Wir haben sie entdeckt, als wir dort Steine gefunden haben.“[2] Blainville macht Fotos von dem, was als Objekt der Erinnerung ausgestellt wird. Hierbei erinnert er an Benjamins Darstellung eines Sammlers im „Passagen-Werk“. Blainville ist ein unfreiwilliger Detektiv des Roman noir, seine eigentliche Beschäftigung ist die fotografische Dokumentation der Zerstörung von Paris, d. h. der Modernisierung von Stadtteilen.
Victor ist in seiner Stadt verortet, er kennt jede Katze und jeden Fleck, den er vor der drohenden Veränderung fotografiert. Er begreift sich als „privilegierten Zeugen“ und schafft sich ein eigenes fotografisches Erinnerungsdepot. Ein Freund Victors erklärt diese Tätigkeit als dessen Art, Widerstand zu leisten. Denn was immer am Ende des Schauspiels eintreten möge, er würde es zumindest bezeugen können. Nicht ohne Grund wurden die Bilder des Fotografen Atgets (siehe auch) mit den Orten von Verbrechen verglichen. Die Referenzen in den Romanen Vilars sind politischer und ästhetischer Provenienz: Surrealismus, Duchamp, Trotzkismus bieten die diskursiven Folien seiner Fiktion. Vilars Schreibweise bedient sich surrealistischer Stilmittel, wie sie Benjamin im „Passagen-Werk“ analysierte, der Traumanalyse und der Konstellationen. Vilar, dessen Bezüge die Kunst und die Politik darstellen, politisiert in diesem Kontext die Kunst, statt die Politik zu ästhetisieren, genauso wie es Walter Benjamin in seinem Text „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ gefordert hatte.
Surrealismus und Trotzkismus
Die Pluralität historischer Perspektiven und Zeiten spielt in diversen Noirs eine Rolle. Am hintergründigsten und intelligentesten in dem 1993 erschienenen Meisterwerk Vilars „Die Verschwundenen“, das auch sein letzter Roman blieb. Vier Tage nach seinem Tod kam es als Taschenbuch in die französischen Buchläden. In diesem Roman hinterfragt Vilar das Verhältnis des Individuums zu seiner Epoche, zu seiner individuellen wie auch der allgemeinen Geschichte. Victor Blainville wurde entführt und drei Jahre gefangen gehalten. Wo er gefangen gehalten wurde, bleibt im Dunkeln. Der Grund der Entführung lag nicht bei Victor, sondern wahrscheinlich bei Alex Katz, mit dem er im selben Versteck eingesperrt war und der wenige Tage nach Ende des Alptraums umkommt. Victor glaubt nicht an einen natürlichen Tod, sondern sucht nach einem Grund für das Verbrechen in der Biografie von Alex.
Dessen Geliebte händigt Victor ein Tagebuch von Alex’ Vater aus. Es stammt aus dem Jahr 1938. Von da an überlagern sich die Zeiträume 1989 – der Fall der Mauer – und 1938, als das Leben des Surrealisten Alfred Katz seinen unglücklichen Verlauf nimmt. Victor, der eine Liebesbeziehung mit der tschechischen Dissidentin Solveig hat, liest die Liebesgeschichte von Alfred mit Mila, einem Modell von Man Ray. Gleichzeitig wird man Zeuge der surrealistischen Aktivität und der Verfolgung von Trotzkisten durch die GPU. Die Erzählstränge überlappen sich mehr und mehr, woraus die immense narrative Spannung des Buches resultiert. In einer „surrealen“ Liebesszene in dem kleinen Park St. Jacques bleibt unklar, um wen und welchen Zeitpunkt es sich handelt. Die Liebe und die Verfolgung sind geblieben bzw. haben nie aufgehört zu existieren. In diesen Liebesgeschichten und dem – wenn auch zum Scheitern verurteilten – Engagement sowohl der Trotzkisten und Surrealisten als auch Blainvilles in der ehemaligen Tschechoslowakei liegt der Funken Hoffnung, der durch den Blick auf die Vergangenheit möglich wird. „Die Verschwundenen“ ist eine Geschichte des Mauerfalls, wie er von der tschechischen Dissidenz erlebt wird, eine Geschichte der surrealistischen Bewegung und der stalinistischen Verfolgung im Paris von 1938.
Die Personen in Vilars letztem Roman haben mehrere Identitäten. Sie haben viele Anstrengungen hinter sich. Zu viele, um die Enttäuschungen akzeptieren zu können, die ihnen die Geschichte beschert hat. Die Opfer von Verfolgungen sind manchmal unsympathisch und wenig heldenhaft. Trotzdem bleiben sie Besiegte und Opfer. Victor Blainville bleibt im verschneiten Prag von 1989 zurück, ohne zu wissen, was er nun mit seinen Erkenntnissen anfangen soll.
Die 68er Generation
In den meisten anderen Romanen Vilars sind die Subjekte ehemalige Linksradikale, die müde, manipuliert und auch pathetisch erscheinen: „Sie erinnern ohne Unterlass an den Tod der Revolution.“ Sie erkunden die historische Rolle der 68er-Generation nach der Niederlage. Victor Blainville beobachtet statt einzugreifen. Er ist der letzte Zeuge einer zusammenbrechenden Welt. Wie der Engel der Geschichte blickt er auf den Trümmerhaufen der verlorenen Schlachten zurück. In Gegensatz zu vielen anderen Kriminalromanen sind Vilars Figuren psychisch komplex und doch alle Besiegte.
Auch in „Djemila“ wird über die Methode der Konstellationen die Erkenntnis von Geschichte ermöglicht. Ein linker Geschichtsprofessor und ehemaliger Résistant kämpfte im Algerienkrieg auf der falschen Seite und folterte. In der Gegenwart liebt er eine Algerierin, die durch einen banalen Ladendiebstahl ins Fadenkreuz der Front National gerät. „Bastille Tango“ trägt zur Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur bei. Blainville frequentiert politische Exilierte in dem Augenblick, als die Prozesse gegen die Militärs in Argentinien beginnen.
Zur selben Zeit, vom November 1984 bis zum Juni 1985, wird das Viertel um die Bastille zerstört, um die neue Oper zu bauen. Der Roman dokumentiert diesen Abriss. Ortiz, ein ehemaliger Folterknecht, ist nach Frankreich gekommen, um etwaige Zeugen auszuschalten. Wenn Nacht für Nacht an die Wände von Paris das Plakat eines Gefolterten geklebt wird, kann man darin das Benjamin’sche Motiv der Bilder sehen, über die die Beziehung zur Vergangenheit hergestellt werden. In diesem Noir hat die Hoffnung keinen Platz mehr, auch die Erkenntnisse über die Vergangenheit führen nur zum Selbstmord von Jessica, der Geliebten Blainvilles, einer argentinischen Exilantin, die von Ortiz gefoltert worden war.
Um Vilars Erzählkunst nicht vergessen zu lassen, wäre ein mutiger Verleger vonnöten, der die bereits übersetzten und vergriffenen Bände neu auflegt. Diese Neuauflage wäre nicht nur ein großer Beitrag zur Kriminalliteratur, sondern auch zur Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, seiner gescheiterten Revolutionen und seiner blinden Flecken.
Elfriede Müller
[1] Passage des singes (1984). État d’urgence (1985). Bastille Tango (1986). Djemila (1988). Les Exagérés (1989). Sherlock Holmes et les ombres (1992). Nous cheminons entourés des fantômes aux fronts troués (1993). La fille du calvaire (1997). Die Erzählungen sind nachzuschlagen in Mesplède, Claude: Dictionnaire des littératures policières. 2 Bände. Mayenne 2003. 2. Band. S. 831.
[2] Zitiert nach Plenel, Edwy. In: Encore un effort camarade lecteur! Polar franςais – Le Monde (supplément) vom 21./22. April 1985, S. VI.Auf Deutsch liegen vor:
Djemila, 1989, Beck & Glückler
Affenpassage, 1993, Beck & Glückler
Bastille Tango, 1990, Beck & Glückler
Palazzo Calonna, 1991, Beck & Glückler
Die Maßlosen, 1998, Beck & Glückler
Die Verschwundenen, 2008, Assoziation ANachrufe in L’Humanité und Le Monde und Bellaciao.
Elfriede Müller, Alexander Ruoff: Histoire noire. Geschichtsschreibung im französischen Kriminalroman nach 1968. Transcript Verlag. 398 Seiten. 37,80 Euro.