Geschrieben am 27. August 2011 von für Bücher, Crimemag

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Simon Urban

„Es gibt nichts Wichtigeres, als kreativ autonom zu bleiben.“

Deutschland im Oktober 2011. Während im Westen der Kapitalismus blüht, steht der sozialistische Osten des Landes kurz vor dem ökonomischen und ökologischen Kollaps. Die einzige Hoffnung, die DDR vor dem Untergang zu bewahren, ruht auf den bevorstehenden Wirtschaftsverhandlungen zwischen Bundeskanzler Oskar Lafontaine und dem Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz. Doch als ein pensionierter Wissenschaftler, der einst zu den Krenz’ engsten Beratern zählte, ermordet aufgefunden wird und alle Spuren in Richtung Staatssicherheit weisen, drohen die Gespräche zu scheiten, noch bevor sie begonnen wurden. Das Schicksal der DDR steht auf dem Spiel. Im Interesse beider deutscher Staaten muss bewiesen werden, dass die Stasi nichts mit dem Verbrechen zu tun hat. Also ermittelt der Volkspolizist Martin Wegener gemeinsam mit seinem Westkollegen Richard Brendel.

So weit die Ausgangssituation in Simon Urbans Debütroman „Plan D“. Der 1975 geborene Werbetexter und Absolvent des Leipziger Literaturinstituts brilliert in einem Genre, das auf der simplen Frage „Was wäre wenn?“ basiert, der Uchronie.

Joachim Feldmann hat sich mit Simon Urban über das Vergnügen an der Erfindung eines alternativen Geschichtsverlaufs, die Lust am Kriminalroman und die Frage, ob man gutes Erzählen lernen kann, unterhalten.

Feldmann: „Sich den Zustand der Welt vorzustellen, wenn dieses oder jenes als bestimmend angesehene Ereignis sich anders abgespielt hätte, ist eine sehr natürliche und verbreitete Übung des menschlichen Denkens“, schreibt der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère in seiner „Kleinen Geschichte der Uchronie“. Ein solches Gedankenspiel zur Basis eines Roman zu machen, ist schon eine größere Herausforderung. Was war Ihr Motiv?

Urban: Ich habe vor drei, vier Jahren den Roman „Die Vereinigung jiddischer Polizisten“ von Michael Chabon gelesen – darin spielt Chabon mit der Idee, dass die Juden nach dem zweiten Weltkrieg in Alaska angesiedelt worden sind. Dieser Text war für mich in vielfacher Hinsicht inspirierend: Es gibt in diesem Roman einen Krimi-Plot, aber der ist literarisch und nicht reißerisch-klischiert angelegt. Es gibt eine düstere, eiskalte Alternativ-Welt, die trotzdem nie ins Science-Fiction-Genre abdriftet. Und es gibt eine wunderbar kreative, mutige, kunstvolle Sprache. Nicht zuletzt besitzt der Text natürlich auch eine politische Dimension. Was mich fasziniert hat, war genau diese unglaublich seltene Mischung: ein ästhetisches Konzept, das konsequent E-Literatur bedeutet, kombiniert mit einem originellen Krimi-Konzept, das beste U-Literatur ist. Wenn so eine Kombination gelingt, haben wir es im Grunde mit einer eigenen Gattung zu tun: EU-Literatur. Also dem, was Dürrenmatt mit den Worten beschrieben hat: „Kunst dort tut, wo sie niemand vermutet“. Als mich Chabons Roman auf die Idee einer Gegenwarts-DDR gebracht hatte, wollte ich gerne versuchen, ob mir so etwas auch gelingen kann.

„Plan D“ war also von vorneherein als Kriminalroman angelegt?

Ja, das stand von Anfang an fest. Viele Weltalternativgeschichten sind ja Kriminalromane, nicht zuletzt auch „Vaterland“ von Robert Harris, den ich allerdings nur aus der Verfilmung kenne. Das hat, glaube ich, unter anderem den Grund, dass Kriminalfälle für uns – in der Fiktion wie auch in der Realität – allgegenwärtig sind. Mord ist sozusagen seit Kain und Abel ein menschliche Grundmotiv und unabhängig von Ort und Zeit eigentlich das Normalste der Welt. Es passiert ja dauernd. Eine Uchronie zu erzählen, wirkt aber erst mal „superfiktional“ – weil es sich ein Autor hier tatsächlich herausnimmt, kurzerhand die ganze Weltgeschichte auf den Kopf zu stellen. Mein Gefühl ist, dass so eine, grundsätzlich als absolut fantastisch und unglaubwürdig empfundene, alternative Welt, durch einen Krimi-Plot optimal „geerdet“ werden kann. Nach dem Motto: Egal, wie verrückt und bizarr der Rahmen auch scheinen mag, man kauft ihn dem Autor ab – denn die Geschichte, die in diesem Rahmen passiert, könnte auch im Reihenhaus nebenan ablaufen. Das Gemenge, das dann aus diesen beiden Teilen Fiktionalität entsteht, hat natürlich einen besonderen Reiz. Es wird etwas Altes unter neuen Bedingungen erzählt. Die Muster, die man für solche Stoffe im Kopf hat, gelten plötzlich nicht mehr, denn jemand hat sämtliche Vorzeichen verändert. Dadurch entsteht Spannung.

Der Volkskriminalist Martin Wegener entspricht dem Typus des desillusionierten, aber dennoch aufrechten Ermittlers. Haben Sie sich bei der Konstruktion dieser Figur an einschlägigen Vorbildern orientiert?

Ich glaube, nichts im Leben eines Autors ist schwerer, als einen Kommissar zu erfinden. Wenn der äußerst wahre Satz „es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen“ auf etwas ganz besonders zutrifft, dann auf die Schöpfung eines literarischen Ermittlers. Ich wollte also bewusst keinen letzten Versuch machen, auf Teufel komm raus noch mal einen originellen Typus aufzutreiben. Deshalb habe ich Martin Wegener quasi von der Welt gestalten lassen, mit der er sich herumschlagen muss: Er misstraut allem und jedem, er ist in einer DDR der Gegenwart natürlich unglücklich, er ist aber vor allem moralisch gefährdet. Ich würde der Klassifizierung „aufrecht“ auch unbedingt widersprechen wollen. Wegener wird im Laufe des Romans selbst schuldig, er muss in dieser Welt – wie alle anderen auch – ein Spielmacher werden, um ans Ziel zu kommen. Diese Entwicklung in einer eventuellen Fortsetzung des Romans, oder sogar einer Trilogie, weiter zu führen, das ist das eigentliche Konzept hinter Wegener. Das wäre dann auch mein ernst gemeinter Versuch, auf sehr lange Sicht doch noch einen eigenständigen „Kommissar“ zu schaffen, nämlich denjenigen, der im Laufe der Reihe zum von einer Diktatur politisch korrumpierten Täter wird. Ich selbst beurteile Wegener also gar nicht aufgrund der Handlung von „Plan D“, denn in meinem Kopf ist er schon sehr viel tiefer verstrickt.

Hat es Ihnen Spaß gemacht, eine DDR zu erfinden, in der Otto Schily ein Ministeramt bekleidet, Sahra Wagenknecht als Schauspielerin in Actionfilmen auftritt und ein Kombinat für Separatorenfleisch nach dem Schriftsteller Peter Hacks benannt ist?

Juli Zeh (Foto: ddp)

Unbedingt – und ich glaube, das hätte jedem anderen genau so viel Spaß gemacht. Die Grundidee einer DDR der Gegenwart hat mir die Türen zu einem satirischen Spielzeugladen geöffnet, der größer ist, als die Kuppelhalle von Germania es gewesen wäre. Das Personal und das ideologische Inventar eines ganzen Landes standen, etwas verstaubt, darin herum und man musste sich nur bedienen. Alles schrie danach, parodistisch verwurstet zu werden. Etwas Schöneres kann es für einen der Satire geneigten Autor unmöglich geben. Der Ehrlichkeit halber muss ich aber zugeben, dass Otto Schily die Idee meiner Lektorin Juli Zeh war. Der Posten des Stasi-Ministers war im Lektorat noch unbesetzt und ich habe mir gewünscht, dass sie jemanden beruft. Das hat sie dann auch getan.

Im Mittelpunkt des komplexen Plots Ihres Romans steht ein mysteriöser Plan D, in dem ein so genannter dritter Weg zu einer Gesellschaft jenseits der Systemlogik aufgezeigt wird. Handelt es sich bei diesem Papier eher um einen „McGuffin“, das heißt um einen Gegenstand, der vor allem dazu dient, die Handlung voranzutreiben, oder hat es auch inhaltliche Bedeutung?

Der „Plan D“ ist beides. Als klassischer „McGuffin“ wird er im Roman Stück für Stück gesucht und enträtselt, aber auch als inhaltliches Element ist er zentral. Er steht im Grunde für den Wunsch nach einem wirklich funktionierenden gesellschaftlichen System jenseits der extremen Ausläufer abgehalfterter Ideologien. Ganz stark vereinfacht gesagt, ist der „Plan D“ ein Best-Of von Sozialismus und Kapitalismus, sozusagen die goldene Mitte, und insofern passt er als Utopie auch ganz gut in unsere Zeit. Manche suchen heute ja im Gestrüpp ihrer eigenen Geschichtsvergessenheit immer noch Wege zum Kommunismus, andere zweifeln vollkommen zu Recht an einem Staat, der endlose Milliardensummen in unfähige Banken steckt, obwohl er hoch verschuldet ist und kein Mensch weiß, wie das noch mal abgezahlt werden soll, und der damit langfristig seine Handlungsfähigkeit und seine demokratischen Errungenschaften aufs Spiel setzt. Ich habe das Gefühl, dass vielen Bürgern dieses Landes ein demokratischer Staat, der glaubhaft sozial ist, ohne dabei Gefahr zu laufen, in den Sozialismus zurück zu fallen, und der wirtschaftlich stark ist, ohne kapitalistisch zu entarten und sich in Abhängigkeiten von Lobbyisten, Banken und roulette-ähnlicher Europa-Politik zu verlieren, äußerst willkommen wäre.

„Plan D“ ist ein sprachlich ausgesprochen facettenreicher Roman. Da wechseln krimispezifische knappe Dialoge mit bildreichen Beschreibungen von erheblicher syntaktischer Komplexität. Wie stellen Sie sich den idealen Leser dieser Prosa vor?

Da kann ich im Grunde auf die erste Frage zurückkommen und sagen, wenn es so etwas wie einen idealen Leser gibt, dann ist das jemand, der damit leben kann, dass Literatur auch mal ernst gemeint auf Spannung und Witz setzt. Oder, andersherum, ist es ein Krimi-Leser, der nichts dagegen hat, wenn ein Kriminalroman oder ein Thriller die Ambition mitbringt, nicht nur mit der üblichen Genre-Einheitssprache kurzlebige Spannung zu erzeugen, sondern vielleicht vielschichtiger daherkommt und nicht automatisch ein Happy-End serviert. Oder, ganz anders: „Plan D“ ist sicher nichts für Menschen, die sich in ihren jeweiligen Lieblingsgattungen gut aufgehoben fühlen und die jeden Einbruch in ihre Lesegewohnheiten als Hausfriedensbruch empfinden.

Sie haben sowohl am Literaturinstitut in Leipzig studiert als auch eine Ausbildung zum Werbetexter absolviert. Wo lagen für Sie die wichtigsten Unterschiede? Oder gab es auch Gemeinsamkeiten? Und inwieweit profitiert Ihre schriftstellerische Arbeit davon?

Für mich persönlich ist die größte Gemeinsamkeit von Werbung und Literatur immer die originelle Idee gewesen. Das gilt aber für andere Autoren, die weniger auf Plot setzen als ich, sicherlich nicht. Das DLL hat auf mein Romanschreiben keinen Einfluss gehabt, was man schon daran sieht, dass der Text im gesamten Studium gerade mal 90 Minuten Thema eines Seminars war. Aufgrund der ganzen Produkterfindungen in „Plan D“ sagen natürlich jetzt einige Leute: Klar, der ist ja Werbetexter. In diesem Beruf erfinde ich aber keine Produkte für längst untergegangene Diktaturen, sondern ich schreibe überwiegend TV-Spots und mache Konzeption. Und wenn man sich – ob in der Literatur oder im Film – die Entwürfe alternativer Welten anschaut, wird man dort vielfach auf Produkterfindungen und fiktive Werbung treffen, und zwar nicht, weil die jeweiligen Schriftsteller und Drehbuchautoren allesamt Werbetexter waren, sondern weil diese Kommunikationsformen plakative Indikatoren für den Zeitgeist und den Zustand einer bis dato unbekannten Gesellschaft sind und als solche eine Funktion im Text oder im Film besitzen. Also, ich bin sicher, wenn ich Schmand-Fabrikant geworden wäre und nicht Texter, gäbe es im Roman genau so viele Produkte. Man profitiert von allem, was man künstlerisch macht, sicherlich auf eine subtile Weise für sein sonstiges Schaffen. Aber echte Beeinflussungen sind das meines Erachtens nicht. Und es gibt ohnehin nichts Wichtigeres, als kreativ autonom zu bleiben.

Wie muss man seinen Tagesablauf organisieren, um neben der Arbeit in der Werbung einen fast 600-seitigen Roman fertigzustellen?

Ich hätte das nicht neben der Arbeit machen können, ich musste kündigen. Das habe ich damals auch getan, schweren Herzens. Der Text stand zu diesem Zeitpunkt bei rund 150 Seiten. Und dann habe ich ein Jahr lang sehr viel am Roman gearbeitet. Im Nachhinein die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.

„Plan D“ hat bislang sehr gute Rezensionen erhalten. Andererseits sollen einige der im Roman in einem fiktiven Kontext vorgeführten realen Personen rechtliche Schritte angedroht haben. Was ist da dran?

Das stimmt, bislang sind die Stimmen sehr positiv. Aber ich bin trotzdem ein bisschen überrascht, dass beinahe sämtliche Rezensenten sehr viel Spaß mit dem kreativen Zuckerguss des Textes, also mit Bionier-Brause, Minsk-Handys, Schily und Krenz haben – um dann nicht mehr viel zum Fundament des Romans, zu seinem politischen und satirischen Gehalt und den Bezügen auf unser Heute zu sagen. Es gibt wenige Stimmen, die ganz klar festhalten: Das ist nicht nur ein lustiges Was-wäre-wenn-Spiel, das ist ein Roman über Deutschland jetzt.

Wenn Sie mit den „rechtlichen Schritten“ auf die „Zitate“ im Buchtrailer anspielen, dann kann ich Sie beruhigen: Der Trailer ist natürlich nur die Fortsetzung der Satire mit anderen Mitteln. Im Übrigen habe ich die so genannten Personen der Zeitgeschichte ja im Roman nicht über ihr Auftreten diffamiert, sie treten schließlich gar nicht auf. Ich habe sie vielmehr genutzt wie ein Karikaturist das tut, der die politische Prominenz ja auch verzerrt darstellt, um sie sichtbar zu machen. Und ich finde, das kann man durchaus mit Humor nehmen. Immerhin profitieren ja alle von mir: Lafontaine ist Bundeskanzler, Krenz DDR-Chef, Schily und Gysi Minister, Wagenknecht ein Star, Ypsilanti Regierungsmitglied und Merkel Nobelpreisträgerin. Wer, bitteschön, will sich denn da beklagen?

Joachim Feldmann

Simon Urban: Plan D. Roman. Frankfurt am Main: Schöffling Verlag 2011. 552 Seiten. 24,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Homepage von Simon Urban.

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