Geschrieben am 5. Dezember 2017 von für Bücher, Litmag

Drei Schweizer Bücher: Zukunft der Migration, Neuland und Monument Europa

Lit europa9783038102458Die Schweiz als ein unerschrockenes Land

„Zukunft der Migration“, „Neuland“ und „Monument Europa“, gleich dreimal lohnt sich ein Blick aus dem Nachbarland. Zwei den Blick erweiternde Bücher aus der Schweiz zum Thema Migration und eines zur europäischen Identität – besprochen von Alf Mayer. 

Ein Blick von der Seitenlinie ist IMMER hilfreich. Etwa aus der Schweiz, auf Deutschland und auf Europa. Selbst die Zeitungen dort funktionieren noch als Debattenträger, während das alles bei uns schon lange die Hektik und Beliebigkeit der Talkrunden übernommen haben. „Das alles“: das ist der Meinungsbildungsprozess. Das ist, was man früher Reflexion genannt hat, bevor es die 30 oder maximal 60 Sekunden „Einspielfilme“ gab. Ein wenig neben sich treten, sich umsehen nach allen Seiten und Ideen, Gedanken und Sichtweisen neu sammeln. Sicher vergewissern. Vielleicht ja gar nachdenken.
Mit gleich zwei Büchern trägt NZZ Libro, der Buchverlag der Neuen Zürcher Zeitung, in diesem Jahr dazu bei, das aufgeschäumte Thema Migration überlegter anzugehen. Die Bände sind schmal, aber äußerst gehaltvoll. Akademisch muss nicht gleich geschwätzig und kann sehr verständlich sein.

lit europa9783038102410Die EU als gefälliger Sündenbock

Der Band „Zukunft der Migration“ unternimmt auf knappem Raum eine Bestandsaufnahme. Über die Tagespolitik hinaus befasst sich der Essayband mit möglichen Szenarien und Trends in den kommenden Jahrzehnten und mit dem zukünftigen Verhältnis von Gesellschaft, Migration und internationaler Politik. 20 Autorinnen und Autoren untersuchen die Wirkung der Migrationsforschung der letzten zwei Jahrzehnte auf die Politik und diskutieren zusätzlich aktuelle migrationspolitische Herausforderungen. Selbstkritisch gehen sie auch der Frage nach, ob das Ziel der Schweizer Stiftung für Bevölkerung, Migration und Umwelt (BMU), durch Forschung zu einer differenzierten und sachlichen Diskussion über Migration beizutragen, erreicht worden ist. Die Stiftung soll eigentlich unabhängig von politischen, weltanschaulichen und religiösen Bindungen arbeiten.

Wie lässt sich das EU-Krisengefühl erklären? Ist es das letzte Rückzugsgefecht des Nationalstaats oder schon die beginnende Umkehr des Europäisierungsprozesses, fragt sich Verónica Tomei in ihrem Text „Europäisierung nationaler Migrationspolitik – 20 Jahre später am Ende?“ Für national verantwortliche politische Akteure sei es verführerisch, die EU als Sündenbock für mangelnde Problemlösungsfähigkeiten heranzuziehen. (Es verwundert zum Beispiel auch, wie wenig ein Martin Schulz – der doch Jahrzehnte „in Europa“ verbracht hat – hier an Gegenargumenten beizutragen hat.) Tomei sieht Politik auch durch die Digitalisierung des öffentlichen Lebens zusätzlich unter Druck, denn sie lässt die Erwartungen und den Handlungsdruck für schnelle politische Lösungen zusätzlich steigen. Entgegen der medial verbreiteten Auffassung aber, so hält Verónica Tomei es fest, „ist die Reaktionsgeschwindigkeit und –dichte auf EU-Ebene beeindruckend, wenn man sich die Komplexität des politischen Systems und die Vielzahl der handelnden Akteure vor Augen führt“.

Werner Haug, Georg Kreis (Hrsg.): Zukunft der Migration. Reflexion über Wissenschaft und Politik. Mit Beiträgen von: Houria Alami Mchichi, Malika Benradi, Jakub Bijak, Sandro Cattacin, Janine Dahinden, Gianni D’Amato, Denise Efionayi-Mäder, Werner Haug, Friedrich Heckmann, Walter Kälin, Kemal Kirişci, Georg Kreis, Marek Kupiszewski und Dorota Kupiszewska, Jochen Oltmer, Etienne Piguet, George Sheldon, Verónica Tomei, Walter J. Weber, Andreas Wimmer. NZZ Libro, Zürich 2017. 184 Seiten, gebunden, 38 Euro.

Ein Migrationsland – und das wird es bleiben

Biegbar und flexibel, angenehm haptisch kommt einem „Neuland“ entgegen, das nichts weniger will als die „Migrationspolitik im 21. Jahrhundert“ neu zu vermessen. Auch in der Schweiz wird gerne über Migration diskutiert, als ob man sie abstellen könnte. Doch die Schweiz ist ein Migrationsland – und wird es bleiben, ist die Arbeitsthese dieses Buches. 17 Beiträge aus dem nach dem Graswurzel-Prinzip organisierten Think-Tank „foraus – Forum Aussenpolitik“ liefern fundierte Einblicke in die Migrationsrealität der Schweiz und zeigen neue Perspektiven auf.  (Kurze Zwischenfrage: Wäre solch ein Satz auch mit der FAZ denkbar? Das im Buchverlag der FAZ erschienene, vom Graswurzel-Think-Tank Taunus herausgegebene ….?)

Lit europa9783038102458Das Buch hält nüchtern fest: „Die Schweiz ist ein Migrationsland, global vernetzt und mit einer erstaunlichen gesellschaftlichen Vielfalt. Die Modernität der Schweiz in Sachen Migration hat jedoch noch nicht Eingang gefunden ins helvetische Selbstverständnis. Noch wird Migration als ein zu lösendes Problem betrachtet statt als Taktgeberin, die längst unseren Alltag bestimmt.“
Der Think-Tank foraus – Forum Aussenpolitik legt faktenreich dar, dass Migration keineswegs einen Störfaktor der helvetischen Gemütlichkeit darstellt, sondern Ausdruck einer erfolgreichen Schweiz ist, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern einzigartige Freiheiten und Perspektiven ermöglicht. Die Publikation wird abgerundet mit konkreten migrationspolitischen Reformideen, mit denen die Schweiz ein chancenreiches Land wird, das sich vor der Welt nicht fürchtet. Und mir fällt jenes Schweizer Pensionärspaar ein, das ich im Sommer in Österreich traf, zwei gute Gespräche bei zwei Abendessen im gleichen Gasthof. Ja, es stimme, die Schweiz sei teuer, „aber dafür haben wir einen funktionierenden Sozialstaat und gute Renten für alle“.

Blicke von der Seitenlinie, wie gesagt.

Philipp Lutz, foraus – Forum Aussenpolitik (Hrsg.): Neuland. Schweizer Migrationspolitik im 21. Jahrhundert. Mit Beiträgen von Martina von Arx, Stefan Egli, Nicola Forster, David Kaufmann, Walter Leimgruber, Philipp Lutz, Joanna Menet, Jonas Nakonz, Johan Rochel, Seraina Rohner, Stefan Schlegel, Heike Scholten, Fabienne Tissot. NZZ Libro, Zürich 2017. 208 Seiten, gebunden, 39 Euro.

8038nzz_Cover_Final_Tietz_170614_2.inddWie Baukultur europäische Identität stiftet

2018 wird ein Europäisches Kulturerbe-Jahr, es jähren sich das Ende des Ersten Weltkriegs wie auch der Beginn des Dreißigjährigen Kriegs sowie der Westfälische Friede. „Sharing Heritage“ soll in diesem Jubiläumsjahr das ganze Spektrum des Kulturerbes feiern: von der Literatur bis zum Tanztheater, vom Film bis zur Folkmusik. Monumente natürlich inklusive. Die sind so allgegenwärtig wie Europa es ja auch ist; so sehr, dass wir es und sie gar nicht mehr wahrnehmen. So sehr Alltag, dass der Blick darauf fehlt. Vom Verständnis zu schweigen. Die unsolidarischen Interessen werden stärker und gewinnen Stimme(n), der Enthusiasmus der Nachkriegszeit in Sachen Europa ist einer müden Gleichgültigkeit gewichen, die in Richtung Aversion geht. Was ist uns Europa denn noch wert?

Ganz ohne Illustrationen und mit nur knapp einhundert Seiten im Text kommt das Plädoyer „Monument Europa“ aus, eine sich bei der Lektüre beständig mit An- und Einsichten füllende Erinnerung an „die zentralen Speicher des europäischen Wissens“, als die Jürgen Tietz die Monumente Europas versteht. Der Architekturkritiker, der (aus Berlin) regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung  über Architektur, Denkmalpflege und Baukultur schreibt, pflegt eine klare Sprache, argumentiert unaufgeregt, aber beharrlich – und vor allem anschaulich.

Auf nur wenig Platz no lit grand 51BfMnL8sjL._SY344_BO1,204,203,200_nimmt er uns mit auf eine „Grand Tour“, wie die obligate Bildungsreise der englischen Oberschicht durch den Kontinent früher genannt wurde. Ein Hospiz auf dem Gotthardpass, eine zu niedrige Torhalle am Kloster Lorch, die Stadtentwicklung in Fulda sind nur beispielhafte Stationen dieser den Horizont erweiternden Tour. Auch ein Werbespot der Deutschen Telekom vom Sommer 2015 dient Jürgen Tietz als Referenz. Imaginäre Kräfte schoben in diesem Werbespot Big Ben, das Kolosseum und das Brandenburger Tor zu einer Brücke zusammen, zur Botschaft, dass Kommunikation verbindet. Tietz sieht gerade die Monumente Europas dafür prädestiniert, eine zentrale Rolle bei der Ausbildung einer europäischen Identität zu übernehmen. Seine Schrift zeigt auf, „Wie Baukultur europäische Identität stiftet“. Sie ist eine sehr lesbare Anstiftung für mehr gelebte europäische Identität und für das europäischen Kulturerbe-Jahr 2018.

Alf Mayer

Jürgen Tietz: Monument Europa. Wie Baukultur europäische Identität stiftet. NZZ Libro, Zürich 2017. 120 Seiten, Leinen, 29 Euro.

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