Unser Bundesnachrichtendienst
Zwei Bücher über den BND: „Geheimobjekt Pullach“ und „Nachts schlafen die Spione“ und ein bisschen kulturgeschichtlicher Kontext. Von Alf Mayer
– Zweimal Ortstermin, zweimal Erkundungen einer Liegenschaft, zweimal Blicke auf einen geheimen Ort, in ein Areal in Pullach bei München, langjähriger Stammsitz des Bundesnachrichtendienstes (BND). Zwei ganz unterschiedliche Bücher. Das eine Spurensuche „Von der NS-Mustersiedlung zur Zentrale des BND“, das andere ein sonderbarer Bildband, unter Sicherheitsauflagen entstanden, ästhetisches Werk ebenso wie Zeugnis der Zeitgeschichte. Zwei Bücher, die man zur Kenntnis nehmen muss, wenn man sich mit dem BND beschäftigt, der ab 2017 von Berlin aus gucken und horchen wird. Kalter Krieg und Drittes Reich haben sich in Pullach auf eine Weise verschränkt, die lange nachwirkt. Bis heute sind viele Fragen offen. Wenn in diesen Tagen auf das unaufgeklärte Oktoberfestattentat von 1980 rekurriert wird (mit einem übrigens erbärmlich langweiligen Fernsehfilm, Themenabend im Ersten), dann hat die Tradition des blinden rechten Auges im Freistaat eine deutlich ältere Tradition.
Einen hübsch zeitversetzten Vorfall berichtet die Einleitung zu „Geheimobjekt Pullach“ der Historiker Susanne Meinl und Bodo Hechelhammer. Fünf Monate nach dem Fall der Mauer zwischen den beiden Deutschlands – „One Germany less“, ein Deutschland weniger, trug in jenen Wochen ein Besuch aus USA auf seinem T-Shirt –, im März 1990, protestierten zum allerersten Mal Demonstranten in einer knapp 8900 Einwohner zählenden Gemeinde im Landkreis München. „Die Mauer muss weg – auch in Pullach“, lautete ihre Parole. Offiziell arbeitete dort die „Bundesvermögensverwaltung – Abteilung Sondervermögen“, aber jeder im Ort, und nicht nur dort, wusste, dass sich hinter der hellen Mauer in der Heilmannstraße die Zentrale des westdeutschen Auslandsgeheimdienstes befand.
Die Enklave entstand ursprünglich als eine im Grünen gelegene Mustersiedlung für die Nazi-Elite der „Hauptstadt der Bewegung“. 1936 hatte der Gemeinderat dem Bau der sogenannten „Reichssiedlung Rudolf Hess“ mit großer Begeisterung zugestimmt. Diese wich, als der Neubürger Martin Bormann große Flächen für das Projekt weit unter dem Marktpreis zu kaufen begehrte. Und bekam. Zum Areal gehörte dann auch ein offizielles, freilich selten genutztes Führerhauptquartier namens „Siegfried“, der zugehörige Führerbunker hatte den Tarnnamen „Hagen“. Hitler selbst war eher selten zu Gast, er zog Berchtesgaden vor. Spanische, italienische, ungarische und kroatische Delegationen logierten in Pullach, der ranghöchste Besucher wohl der italienische Diktator Benito Mussolini im September 1943.
Viele Jahre wurde in Pullach geheim gewerkelt. Endlösung und Euthanasie bei den Nazis, ab 1945 Kommunikationszensur und -überwachung durch die US-Army, dann ein erst elf Jahre nach Kriegsende legalisierter deutscher Geheimdienst. Der BND, der erst ab 1990 eine eigene gesetzliche Grundlage erhielt. (Weiter unten mehr zu diesen Übergängen und Verschränkungen.)
Exkurs: BND-Agent Bob Urban, bekannt als Mr. Dynamit
Zwei Jahre nach dem Kinoerfolg von Ian Flemings „Dr. No“, ab 1964, lancierte der aus Nürnberg stammende Kommissar X- und Pabel-Verlagsautor C.H. Guenter die Romanserie „Mister Dynamit“ mit dem BND-Agenten Bob Urban, schickte ihn bis 1992 auf insgesamt 314 Abenteuer. Nicht wenige bestanden darin, nicht mehr zum Einsatz gekommene deutsche Wunderwaffen des Zweiten Weltkrieges vor falschen Hände zu bewahren und auch sonst manches, durchaus mit Respekt betrachtete Erbe des Deutschen Reiches zu entschärfen. Themen, Geschichten und auch die Cover sind ein Stück deutscher Kulturgeschichte, aber das nur nebenbei.
Robert „Bob“ Urban, Code-Agent Nr. 18 des Bundesnachrichtendienstes, trägt ein Dauergrinsen, das Männer verunsichert und Frauen anzieht, ist ein Autonarr und Raser (was er einmal mit einem schweren Unfall bezahlt), wohnt in einem Schwabinger Penthouse, schläft im Bett des Schmieds von Kochel, ist ewig Anfang Dreißig, geborener Franke, studierter Hochfrequenztechniker und Maschinenbauer, spricht mehrere Sprachen, raucht eine eigene Zigarettenmarke, Monte-Christo-Goldfilter mit ägyptischem und Virginia-Tabak. Hat seinen eigenen Drink, nämlich vier Teile Bourbon und ein Teil trockener Wermut, „Dynamit“ genannt, lebt gut und gerne, ist ein olympiareifer Fünfkämpfer. War Pionier-Leutnant, war beim militärischen Abschirmdienst, bei Marine und Luftwaffe, fliegt und fährt und repariert jedes Ding, verließ die Bundeswehr als Major. Ein Hans Dampf in allen Gassen. Seine Aufträge erteilt ihm ein Monokel tragender Oberst a. D. Wolf Sebastian, ehemaliger Panzergeneral, ein feiner Kerl, ein harter Hund. Klassische Nach-Nazi-Vaterfigur, falls man die alte Schule mag. Viele Leser mochten sie, nicht alle Romanserien bringen es auf 28 Jahre.
Urbans „Q“ heißt Professor Strohmann, der rüstet ihn mit allerlei Irrsinn aus und drängt ihm selbst gebrannte Spirituosen auf. Die BND-Welt in den Mr. Dynamit-Romanen ist bunt und geil, fränkischer Hardboiled-Agenten-Pulp (ha, ihr Weichgaumen-Franken, das sitzt). Autor C.H. (eigentlich Karl-Heinz) Guenter bemerkte einmal dazu: „Warum immer ein CIA-Agent oder ein Engländer? Nimm einen BND-Agenten, sagte ich mir, obwohl der BND damals auch keinen besseren Ruf hatte, nämlich überhaupt keinen. Über die armen Kerle in Pullach schrieb ja kein Schwein.“
Von wegen Transparenz
Der Pullacher Gemeinderat wurde 1995 erstmals zu einem Empfang hinter die Mauern geladen. 1999 beschloss die Bundesregierung eine Teilverlegung des Dienstes nach Berlin, richtete dort „Kopfstellen“ ein und verlagerte die Auswertungsabteilungen in die neue alte Hauptstadt. Unter dem Eindruck von 9/11 beschloss das Sicherheitskabinett unter Kanzler Schröder und Innenminister Otto Schily am 10. April 2003 den Gesamtumzug nach Berlin. In Nachbarschaft des Brecht-Hauses, der darüber gewiss Lakonisch-Sarkastisches geschrieben hätte, und wo ab Mitte des Jahres eine kleine von Thomas Wörtche konzipierte Veranstaltungsreihe unter dem Namen „Unsere neuen Nachbarn“ stattfinden wird, ist mittlerweile ein gigantischer Geheimdienstkomplex entstanden. Eine gewaltige Betonburg mit metallenen Palmen als Kunst am Bau und Überwachskameraträger, eine Machtdemonstration, eine gewollte Sichtbarkeit, das Gegenteil des so lange unsichtbaren Pullach – natürlich nichts als Geste und Symbolhandlung. Von wegen Transparenz. Wenn unsere Geheimdienste mit etwas Erfahrung gesammelt haben, dann mit der Errettung ihrer Existenz und dem Verbergen ihrer Geschäftsgeheimnisse. Ein ganzes Filmgenre ist daraus seit „Die Tage des Condors“ entstanden, die komödiantischen „Burn After Reading“ oder „Red“, Teil eins und zwei, gehören dazu, sowie eine ganze Reihe weit grimmigerer Filme. Derzeit entsteht der fünfte Jason-Bourne-Film, James Grady tritt 2015 mit „The Last Days of the Condor“ wieder als Autor in Erscheinung.
Zwar riet der ehemalige BND-Chef August Hanning 2004 angesichts der NS-Vergangenheit des Geländes von solchen Bemühungen ab, doch der CSU-Politiker Ludwig Spänle sorgte für ein Verfahren, das damit endete, dass das „Ensemble ehemalige Stabsleiter-Siedlung mit Einzel-Baudenkmälern“, darunter die die Villa Martin Bormann und der Führerbunker „Hagen“, heute unter Denkmalschutz stehen. Seit 2010 wird die Geschichte des BND von einer internen Forschungs- und Arbeitsgruppe aufgearbeitet, seit 2011 erforscht eine Unabhängige Historikerkommission (UHK) die Entstehungs- und Frühgeschichte des Dienstes. Das Buch von Susanne Meinl und Bodo Hechelhammer versteht sich als erste Zwischenbilanz. Erschienen ist es im Berliner Christian Links Verlag, wo man mit der Aufarbeitung von Stasi- und DDR-Historie viel Erfahrung hat.
Verschlusssachen, belichtet
Der neuen Transparenz geschuldet ist es auch, dass der Fotograf Martin Schlüter, 2012 „CNN Journalist of the Year“, auf dem ehemaligen BND-Gelände tätig werden durfte. Seine Auflagen: keine Menschen und Fahrzeuge. Er entschloss sich, die so viele Jahre das Licht der Öffentlichkeit scheuende Institution ausschließlich bei Nacht zu fotografieren. Er wählte dafür, heißt es dazu im Vorwort „In den Zonen des Verborgenen“ von Klaus Honnef, „das Format einer fotografischen Dokumentation“. 16 Monate dauerte sein Unterfangen, er fotografierte einmal im Frühjahr und zweimal im Herbst. Beinahe immer erfasst die Kamera ihr Gegenüber in Augenhöhe. Es sind ruhige, tiefenscharfe, oft seltsam poetische Bilder. Manchmal atmen sie das Echo des behördlichen Wahnsinns, manchmal Bürokratie, manchmal wirken sie wie Filmsets aus einem Roy-Anderson-Film.
Sie sind „Verschlusssache, belichtet“, wie Niklas Maak sie in einem lesenswerten, ein klein wenig überkandidelten Beitrag „Zur Ästhetik der Überwachung in Martin Schlüters BND-Bildern“ benennt. Er verortet den Fotografen in einer Bewegung, die man als „neue politische Fotografie“ bezeichnen könne: „Sie wendet fotografische Methoden, Räume und Dinge hochästhetisiert und perfekt ausgeleuchtet wie für eine Werbeaufnahme zu inszenieren, auf politisch brisante Orte an.“
Personenvereinzelungsanlagen und andere Geheimisse
Schlüter zeigt eine versteckte Welt, seine Fotografien sind das perfekte poetische Pendant zum faktenhaltigen Historiker-Buch aus dem Ch. Links Verlag. Ein vorangestellter Lageplan hilft bei der Orientierung, früher wäre so etwas wohl Landesverrat gewesen. Das im Lauf der Jahre wesentlich erweiterte Gelände wird von einer Landstraße durchquert, ein zusätzliches Suspense-Element. Als Erstes sehen wir die Haupteinfahrt zum sogenannten „Neuen Geländeteil“, an der Heilmannstr. 30, dann die Pförtnerhäuschen, die anderswo einfach Drehkreuz genannten „Personenvereinzelungsanlagen“ und das wilde Bild ordentlich in großen Kästen ausgelegter Dienstausweise, gefolgt vom Wachhundezwinger und einer großen Planungstafel für „Dienstfreie Hunde“, eingeteilt in Gruppe I, Gruppe II, Gruppe III, Samstag, Sonntag und Krank. (Ab wie viel Tagen braucht ein Diensthund ein Attest?) Weiter geht es durch einen separaten Eingang zum Präsidentenbungalow, der etwas abseits der Verwaltungsgebäude liegt und von hohen Bäumen eingerahmt wird.

NEUER GELÄNDETEIL
Dienstplan der Wachhunde
Martin Schlüter. Nachts schlafen die Spione. Letzte Ansichten des BND in Pullach.
© Sieveking Verlag, Martin Schlüter, 2014
Bis Seite 60/61 dauert es, ehe wir wie Spione in die Arbeitszimmer vordringen. Gleich im ersten Mitarbeiterbüro outet sich jemand als großer Elvis-Fan. Weiter geht es ins Clubhaus der BND-Tennisgruppe, zu den Schlüsseltresoren, in die jeder Büroschlüssel abends eingeschlossen wurde, durch das Heizkraftwerk zu den Metallwerkstätten, zur Schneiderei, zum Geografischen Dienst mit so gut wie allen Landkarten der Welt (weggeschlossen, da geheim) und in den Kinosaal im „Waldhaus“, schon zu Martin Bormanns Zeiten erbaut. „In der letzten Sitzreihe“, heißt es im Bildtext, „erkennt man über jeder einzelnen Rückenlehne die Abdrücke angelehnter Köpfe. Tausende BND-Mitarbeiter haben hier an Schulungen teilgenommen.“
Im Bunker „Hagen“ befindet sich die „Übungsschießbahn für BND-Mitarbeiter zur Vorbereitung auf eine Auslandsbegleitung der Bundeswehr sowie für BND-eigenes Wachpersonal“. Das Foto der Zielscheiben könnte sich so – erlauben Sie die kollegiale Gegenüberstellung, Kollege Schlüter – auch im Ausstellungsprojekt „Targets“ von Herlinde Kölbl (AM dazu im CrimeMag) finden.
Auf den Seiten 120/121 wird es feudal. Wir gelangen zur „Präsidentenvilla“, komplett mit Brunnenskulptur aus Bormann-Zeiten. Innen diverse Sitzungsräume, von „Bismarck“ bis „Alter Fritz“. Ungelogen. Die Wartezone beim Betriebsarzt, die Umkleideräume der Fahrbereitschaft, die Autowaschanlage und zu guter Letzt das IT-Zentrum runden die Späh-Mission ab. Wirklich ein Dokument, dieser Fotoband mit dem ironischen Titel „Nachts schlafen die Spione“.
Bonzenhausen, mit germanischem Anger
Pullach, das war eine Art Lebensgemeinschaft. Bei den Nazis hieß sie ganz offiziell so. Die „Siedlung Sonnenwinkel“, wie der stets mit Reitpeitsche herumschweifende, gelernte Landwirt und Reichsleiter Martin Bormann sein Refugium nannte, bot den Angehörigen der NSDAP-Parteiverwaltung die von ihrer Ideologie propagierte neue „Volksgemeinschaft“. Auch aus einfachen Verhältnissen stammende Parteigenossen wurden in der Enklave Privilegien zuteil, wie sie früher nur Adel und Großbürgertum möglich gewesen wären. „Bonzenhausen“ nannte der Volksmund bald die Anlage. Es gab dort einen gemeinschaftsbildenden, echt germanischen Anger, um den sich 28 zweigeschossige Ein- und Zweifamilienhäuser im Stile von Goethes Gartenhaus in Weimar scharten (Motto: „Hohes Dach und niedres Haus“), es gab Heimatschutzarchitektur und verquere anthroposophische Einflüsse, ein Gemeinschaftshaus, ein zentrales Gartengerätehaus und Bormanns „Villa Rustica des 20. Jahrhunderts“ mit Obst- und Nutzgarten, Hundezwinger und heute wohl „artgerecht“ genannten Ställen für Schweine und Enten, all dies eingebettet in eine großzügige Parklandschaft. Bis zu 800 Zwangsarbeiter der Firmen Philipp Holzmann und Leonhard Moll (denen ein eigenes Kapitel gilt) waren für den Führerbunker „Hagen“ im Einsatz. Bormann sah sich, wie der Name verdeutlicht, als Hitlers treuester Gefolgsmann, zur Not bis in den Untergang. Bormann war bei Kriegsende verschwunden, wurde von Gehlen als Stalin-Agent verdächtigt, weltweit und vor allem in Südamerika gejagt, schließlich für tot erklärt, bis 1965 in Berlin das Gebiss eines von einem Bagger freigelegten Skeletts dem engen Hitler-Vertrauten zugeordnet werden konnte.
Sechs-Tage-Woche für die Überwacher
Besonders spannend sind natürlich die ersten Nachkriegsjahre im Pullacher „Sonnenwinkel“, ist die allmähliche Formierung des BND. Erst einmal war Pullach von Mai bis Juli 1945 Kriegsgefangenenlager, bis die Civil Censorship Division (CCD), die Zensurbehörde der Amerikaner, das Areal für sich allein beanspruchte. Briefe, Telegramme, Telefonate und der Funkdienst unterlagen der Zensur und wurden geheimdienstlich ausgewertet, etwa bei der Suche nach NS-Kriegsverbrechern oder dem „Nazi Underground“. Bei Ross Thomas scheint das ein wenig auf in seinem sardonischen Thriller „Der achte Zwerg“ (zur CM-Besprechung hier).
Die Kontrolle der Kommunikation in der amerikanischen Zone war arbeitsorganisatorisch durch ein Schichtsystem geregelt, es galt eine Sechstagewoche mit 44 Arbeitsstunden und exakt bemessenen Pausen. Einige Angestellte haben diesen Arbeitsalltag in ihren Erinnerungen für die Nachwelt festgehaIten, etwa Hedy Epstein 1999 in ihren Memoiren „Erinnern ist nicht genug“.
In die sozusagen noch kontrollwarmen Gebäude zog unter Übernahme einigen Personals ab Oktober 1947 die „7821 Composite Group“ aus Camp King in Oberursel und dem ehemaligen Opel-Jagdschloss im Taunus – die „Organisation Gehlen“. Am Nikolaustag 1947 nahm sie in Pullach ihre Arbeit auf, residierte deshalb fortan im „Camp Nikolaus“. Gehlens Deckname „Dr. Schneider“ ließ die Bormann-Villa zum „Doktorhaus“ werden. Auch solch ein perverses Historiendetail: Gehlen übernimmt Haus und Schlafzimmer des Hitlers-Intimus, den er als Sowjetagenten verdächtigt und jagen lässt. Welch ein Traumdschungel, welch ein Fassbinderfilm.
Gehlen macht sich unersetzbar
Reinhard Gehlen war im Zweiten Weltkrieg Leiter der Abteilung „Fremde Heere Ost“ des deutschen Generalstabs gewesen, hatte Informationen bei russischen Kriegsgefangen mit, heute würde man sagen, „harschen Verhörmethoden“ gewonnen und war sehr direkt an all der ostwärts gerichteten Nazi-Aggression beteiligt. Sein ganzes, auf Mikrofilm „verbrachtes“ Archiv übergab er an im Frühjahr 1945 den US-General Omar Bradley – gegen die Zusage, nicht wie geplant an die Sowjetunion ausgeliefert zu werden. Gehlen wurde sofort in die USA expediert, wo er Allen Dulles, später CIA-Chef und damals beim Vorläufer Office of Strategic Services, die Gründung einer neuen Organisation vorschlug. Mit Hilfe alter deutscher Kontakte und ebenjenem altem Personal sollte sie Amerikas neuen Feind, die Sowjetunion und ihre Alliierten ausspionieren.
Der neue Geheimdienst unter dem sich unersetzbar gemachten Gehlen arbeitete zunächst als Dienststelle der US-Armee am Taunusrand nahe Frankfurt. Am 1. Juli 1949 übernahm ihn die 1947 aus dem Office of Strategic Services (OSS) gegründete CIA. Deren Führungsperson in Pullach war von 1948 bis 1956 der unter dem Tarnnamen ‚Kent J. Marshall‘ agierende James H. Critchfield (hier geht es zu seinem Nachruf).
Als diesem klar wurde, dass Gehlen jede Menge alter Nazis einstellte, darunter viele SS- und Gestapogrößen, wurden sehr viele Augen zugedrückt. Critchfield und seine Vorgesetzten entschieden, dass der neue Feind deutlich wichtiger als der alte sei. Gegen die Roten waren die Braunen Bündnisgenossen. Gehlen leitete den BND bis 1968, blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1979 eine Respektsperson. Seine Memoiren „Der Dienst“ wurden zum Bestseller.
Erst 1990 eine gesetzliche Grundlage
1,5 Millionen Dollar betrugen anfangs die jährlichen Betriebskosten. (Für 2015 sind 614,6 Mio. Euro vorgesehen.) Die erste für die Amerikaner wichtige Operation der Gehlen-Leute war die Funkaufklärung der sowjetischen Luftwaffe während der Berliner Rosinenbomber-Luftbrücke. Diskussion über die Einrichtung eines oder mehrerer Nachrichtendienste auf Bundesebene gab es seit spätestens 1951. Laut eines CIA-Berichts tauchte der Name „Bundesnachrichtendienst“ erstmals im August und September 1952 bei Gesprächen im Bundeskanzleramt auf, an denen auch Adenauers rechte Hand Hans Globke, Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, teilnahm.
Ein Ergebnis der Verhandlungen war, dass die Organisation ab dem 1. April 1953 ganz aus Bundesmitteln finanziert wurde. Am 1.April 1956 wurde sie – gleichzeitig mit der Gründung der Bundeswehr – in den Dienst der Bundesrepublik Deutschland übernommen und erhielt den Namen „Bundesnachrichtendienst“. Eine Gesetzesgrundlage für den BND existierte lange Zeit nicht. Erst 1990 wurde – ausgelöst durch das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 mit dem darin postulierten Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung – ein Gesetz für den Bundesnachrichtendienst verabschiedet.

NEUER GELÄNDETEIL, MITARBEITERBÜRO
In manchen Räumen haben BND-Mitarbeiter versucht, die triste Büroatmosphäre durch
persönliche Dinge aufzulockern.
Martin Schlüter. Nachts schlafen die Spione. Letzte Ansichten des BND in Pullach.
© Sieveking Verlag, Martin Schlüter, 2014
Verschleiern, eine BND-Spezialität
Das aufregend spannende Buch „Geheimobjekt Pullach“ wird gewiss eine Fortsetzung finden. Die Historikerkommission will bis 2016 mindestens 54.000 Papierakten und fünf Millionen Seiten Mikrofilme aus alten BND-Beständen auswerten. Ein Zwischenergebnis steht bereits fest. Noch 1957 reichte es aus, wenn ein ehemaliger Kollege die Schuldfreiheit des Verhaltens im Dritten Reich garantierte. „Die Leitung des BND machte somit die im Nationalsozialismus entstandene Kameradschaft zur Grundlage ihrer Personalpolitik“, sagt Historiker Gerhard Sälter. In der Organisation Gehlen und im BND hätten sich „Netzwerke aus Funktionsträgern des Dritten Reiches dauerhaft etablieren“ können. Gehlen habe dies nicht als problematisch empfunden, ermittelten die Historiker. „Das Problembewusstsein richtete sich seit 1956 eher darauf, die personellen Kontinuitäten zum Dritten Reich nach außen zu verschleiern, als sie einzudämmen.“
Alf Mayer
Bodo Hechelhammer, Susanne Meinl: Geheimobjekt Pullach. Von der NS-Mustersiedlung zur Zentrale des BND. Berlin: Ch. Links Verlag 2014. 288 Seiten. 224 Abbildungen. 4 Karten. Hardcover. 34,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Martin Schlüter: Nachts schlafen die Spione. Letzte Ansichten des BND in Pullach. Mit Beiträgen von Klaus Honnef und Niklas Maak. München: Sieveking Verlag 2014. Format 29,4 x 26 cm. Hardcover. 120 Abb. In Farbe. 160 Seiten. 59,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.