Geschrieben am 30. März 2013 von für Bücher, Comic, Crimemag, DVD

Bloody Chops

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– Bloody Chops: Wir machen vor nichts Halt und zerlegen Comics – Thomas Wörtche (TW) über Jerome Charyns und Frederic Rebenas „Marilyn the Wild“; DVDs – Alf Mayer (AM) über „Solang ich lebe – Jab Tak Hai Jaan“ von Yash Chopra; und Bücher – Christian Koch (CK) über Paolo Roversis „Milano Criminale“.

marilyn_the_wild__von_frederic_rebena_e_jerome_charynUrbane Halluzination

(TW) „Marilyn the Wild“ war 1976 der zweite Roman der Isaac-Sidel-Saga, die mittlerweile bei Band 11 angekommen ist. Sie wissen schon, die Geschichte des New Yorker Cops, Killers und Mafiosos, der – je mehr er mordet – immer höher steigt, und mittlerweile der Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Außerdem ist die Sidel-Saga mythische Chronik von New York City, romantisches Stadtpanorama mit blutigen Konturen, metropoles, polyphones und polyvalentes Epos aus eisigen Realismus-Partikeln, (Kunst)-Sprach(en)-Kunstwerk, vielschichtig, komplex, ironisch und gewalttätig (all das, was Paul Auster und Co. sehr kurzatmig aussehen lässt) oder ganz einfach: ein Jahrhundert-Projekt der (Kriminal-)Literatur, das noch Generationen kluger Köpfe beschäftigen wird.

leseprobe417-12009 ist in Frankreich, wo Charyn zu Recht verehrt wird und wo er mit Bildkünstlern wie de Loustal, Boucq & Co. gigantisch gute Szenarios zu graphic novels umgesetzt hat, jetzt endlich eine Comic-Fassung des (frühen) Sidel-Stoffes mit Bildern von Frederic Rebena (Schreiber & Leser noir) erschienen, in dem das fantasmagorische Chaos von New York, das die Sidel-Romane anrichten und beschwören, die passenden Bilder bekommt. Edward Gorey und George Grosz, der expressionistische Film, Picasso und andere Bildquellen high & low mit grandiosen Farbvarianten und einer sehr sexy gezeichneten Marylin (die Tochter Sidels, die nicht so macht, wie Papi will) geben Tempo und Atmosphären vor und scheuchen den Leser durch eine Art urbane Halluzination. So sieht also Sidel aus – Augenringe wie ein Waschbär. Ja, das hat was. Das ganze Projekt ist schlicht phantastisch!

Jerome Charyn/Frederic Rebena: Marilyn the Wild (Marilyn la dingue, 2009). Graphic Novel. Deutsch von Resel Rebiersch. München: Schreiber & Leser noir 2013. 76 Seiten. 18,80 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

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054214649-solang-ich-lebe-jab-tak-hai-jaan-special-editionRohrkrepierer

(AM) „Der Mann, der nicht sterben kann“, ein todesverachtender cooler Bombenentschärfer in einem großen, bonbonfarbenen Liebesfilm, zwischen zwei Frauen, pardon the pun, beinahe zerrissen. Ich war gespannt. Was ich aber dann auf 150 Minuten geboten bekam, liebes Bollywood, war leider ein ziemlicher Rohrkrepierer. „The Hurt Locker“ auf Indisch ist dies nicht, mit irgendeiner Realität außer der von Sonnenbrillenmarken hat „Solang ich lebe“ nichts zu tun. Das wird schon in der ersten Sequenz klar, einer italowesternhaft in Szene gesetzten Bombenentschärfung auf dem Markt von Ladakh. 97 Bomben hat Major Samar Anand (Shah Rukh Khan) schon entschärft und dabei jedes Mal einen Schutzanzug abgelehnt. Schnippschnapp, ultracool, Bombe tot, Sonnenbrille auf und ab aufs Motorrad. „Welches Schicksal hat ihn dazu gemacht?“, wird uns zugeraunt, und dann mit Hilfe einer jungen Journalistin erzählt. Rückblende. Rückblende. Rückblende.

Shah Rukh Khan, Jahrgang 1965, also auf die 50 zugehend, wird zum 25-jährigen Straßenmusiker, der sich in London sein Geld verdient, als Hilfskellner jobbt, einer wunderschönen jungen reichen Frau begegnet, ihr ein Pajabi-Lied beibringen soll, und dabei der unerfüllbaren großen Liebe begegnet. Niemals mehr als Freunde sein wollen sie, keine Grenze überschreiten, denn sonst könnte Gott sie bestrafen. Religiöser Kitsch und Aufnahmen im Schnee amalgieren hier mit den üblichen Zutaten des Bollywood-Films, es gibt schwülstige Kirchenszenen, einen Song in einer roten Londoner Telefonzelle und ein fetziges Post-Punk-Straßenballett in so etwas wie einer U-Bahnröhre.

To whom it may concern, an mir ging diese sinnfreie Konfettibombe relativ vorbei, dabei wollte ich einfach schönen runden Bollywood-Spaß haben in diesem letzten Regiewerk des Altmeisters Yash Chopra. Der 80-Jährige war 2005 mit „Veer und Zaara – Die Legende einer Liebe“ Gast auf der Berlinale und im Folgejahr Mitglied der Berlinale-Jury gewesen. An Shah Rukh Khans Seite spielen Katrina Kaif (ZIindagi Na Milegi Dobara – Man lebt nur einmal) und Anushka Sharma (Rab Ne Bana Di Jodi – Ein göttliches Paar), aber die Funken wollen nicht recht stieben. Also, Achtung Kalauer, dem Plot zum Trotze doch kein Bombenfilm.

Solang ich lebe – Jab Tak Hai Jaan (Special Edition) [2 DVDs]. Indien 2012. 150 Min. Regie: Yash Chopra, Musik: A.R. Rahman. Mit Shah Rukh Khan, Katarina Kaif, Anushka Sharma. FSK: Freigegeben ab 6 Jahren. DVD und Blue Ray: Rapid Eye Movies (Alive).

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9783550088759_coverKulturgeschichte, kriminell

 (CK) Mit „Milano Criminale“ liegt nun der dritte Kriminalroman von Paolo Roversi in deutscher Übersetzung vor. Die Ullstein/List-Verlagsgruppe geht diesmal in die Vollen und bringt erstmals ein Buch von Paolo Roversi im Hardcover heraus, und zwar als Spitzentitel des Frühjahres 2013. Zu Recht!

Der Roman beginnt mit einem spektakulären Raubüberfall auf einen Geldtransporter im Jahre 1958 in Mailand. Es ist der größte Coup in der Geschichte Italiens. Zwei Jungen sind zufällig am Tatort und schauen fasziniert den polizeilichen Ermittlungen zu.

Antonio entscheidet sich später für die Laufbahn als Polizist, Roberto beschreitet den anderen Weg, den des Kriminellen. Über Jahrzehnte begleitet der Leser beide Figuren. Dabei wird ein komplexes Bild Italiens in all diesen Jahren präsentiert. Sehr auf Mailand fokussiert, aber logischerweise auch auf ganz Italien zu übertragen. Zeitgeschichte, Politik, die Entwicklungen der kriminellen Unterwelt werden „quasi nebenbei“ dargestellt. Die 68er Bewegung spielt dabei eine genauso große Rolle wie die aufkommenden harten Drogen und deren Folgen für das ganze Land.

Die einzelnen Romanteile sind episodenhaft aneinandergereiht und in eher nüchternem Tonfall geschrieben. Hier kommt ganz klar die journalistische Seite des Autors zum Tragen. Deswegen würde ich Paolo Roversi mit „Milano Criminale“ auch in die Nähe von Giancarlo De Cataldo mit seinen bisher vier Büchern und dem Autorenduo Patrick Fogli/Ferruccio Pinotti mit „Bleiernes Schweigen“ rücken.

Fein, dass im Anhang des Buches auch einige Seiten der „Sprache von Milano Criminale“ und der „Musik von Milano Criminale“ gewidmet sind. Und zuletzt darf nicht unterschlagen werden, dass Esther Hansen die Sprache der einfachen Leute gelungen ins Deutsche übertragen hat.

Bleibt nach der belebenden Lektüre nur die Frage: Ist „Milano Criminale“ eigenständig oder das erste Stück einer sich fortsetzenden Geschichte?

Paolo Roversi: Milano Criminale. (Milano Criminale, 2011). Roman. Deutsch von Esther Hansen. Berlin: Ullstein 2013. 463 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

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