Geschrieben am 24. November 2012 von für Crimemag, Film/Fernsehen

Moving Targets – Notizen zu Filmen aus dem Genre: Jeremy Renner

Es gibt Schauspieler, die einfach gut sind, sogar sehr gut. Und die meistens in guten bis sehr guten Filmen mitspielen, die meistens keine Blockbuster werden. So ein sehr guter Schauspieler ist Jeremy Renner, der als Aaron Cross zur Zeit im „Bourne-Vermächtnis“ zu sehen ist. Alf Mayer hat ihn sich genauer angeschaut:

Jeremy Renner: Die Errettung des Physischen – Ein kleines Porträt

Die Filmzeitschrift Variety setzte ihn 2009 auf die Liste der „most promising actors“. Neben George Clooney, Morgan Freemann, Colin Firth und Jeff Bridges war er als bester Hauptdarsteller für einen „Oscar“ nominiert. Die Statue ging dann an Jeff Bridges für seine Rolle in „Crazy Heart“. Renners Film aber – es war „Tödliches Kommando“ (The Hurt Locker), ein beklemmend dichtes Porträt eines Bombenentschärfungskommandos im Irak-Krieg – behauptete sich bei der Preisvergabe in vielen anderen Kategorien, unter anderem als „bester Film“. Es war das Jahr, in dem ein „kleiner“, schnörkelloser Spannungsfilm gegen einen alle Opern- und Tricktischregister ziehenden Megaknaller triumphierte. Es war das Jahr, in dem „Titanic“-Regisseur James Cameron mit seinem „Avatar“ gegen den kleine(re)n, dafür umso intensiveren Film seiner Ex-Frau Kathryn Bigelow den Kürzeren zog. Es war das Jahr, in dem die feinziselierte und zum genauen Hinschauen und Mitfühlen zwingende Erzählweise sich gegen das mit immer wieder neuen Sensationen aufwartende Großspektakel behauptete, die an einer unerbittlichen Wiedergabe der Realität interessierte Erzählung gegen das Märchen, das Minimalistische gegen das Effektheischende, Nahaufnahme und Nahbetrachtung gegen das mit purer Opulenz Beeindruckende.

Es reicht dazu, sich die beiden Hauptdarsteller zu vergegenwärtigen. Sam Worthington aus „Avatar“ wird es never ever in die Nähe eines Oscars schaffen, im Vergleich mit Jeremey Renner ist er ein Milchbubi. Renner war der Regisseurin Kathryn Bigelow – eine Klassefrau in vielerlei Hinsicht, großgewachsen, ultratough und mit einer makellosen Filmographie, die letzte der harten Brocken im US-Filmgeschäft – einige Jahre zuvor schon aufgefallen: 2002, als der damals unbekannte Darsteller ein beklemmendes Porträt des Serienmörders Jeffrey Dahmer ablieferte. Es war ein Ritt auf der Rasierklinge gewesen: ganze vier Tage Vorbereitung und dann nur 14 Tage intensivste Drehzeit, Renner ging voll ins Risiko, das brachte ihm eine Nominierung für den „Independent Spirit Award“ als bester Hauptdarsteller ein.

Ein Frösteln machender Kotzbrocken

Mir war Renner bewusst zum ersten Mal 2005 in dem hierzulande leider ziemlich untergegangenen Arbeitsweltfilm „Kaltes Land“ (North Country, Regie: Nici Carow of „Whale Rider“-fame) begegnet – als ein Frösteln machender Kotzbrocken, der Charlize Theron terrorisiert und vergewaltigt.

Seine dunkle Seite hervorzukehren, den mühsam im zivilisatorischen Zaum Gehaltenen, vor innerem Druck beinahe Berstenden zu spielen, das versteht Renner so intensiv, dass man sich manchmal vor ihm da oben auf der Leinwand wegducken oder unsichtbar machen möchte. Gegenüber all den Filmjungs mit den nackten Oberkörpern und den schnell draufgeschafften Muskeln finde ich Jeremy Renner den derzeit physischsten Darsteller im Kino. Er verkörpert – im buchstäblichen Sinne – eine männliche Urkraft, eine ungebrochene, aber angeknackste Präsenz, viel interessanter und brüchiger, ja: auch männlicher als all die Dressmen. All die Surrogatjungs in den Bluescreen-Actionfilmen wirken gegen ihn wie mühsam animierte Kasperlefiguren.

Bei Renner glaubt und sieht man die physische und psychische Anspannung, fühlt das „Aua“ seiner Schrammen. Aus ihm spricht das Erbe des „Method acting“, aus dem (u. a.) Marlon Brando und Robert De Niro ihre Rollen schöpften, eine Rollenidentifikation bis hin zu solch bizarren Ausformungen, dass De Niro als Al Capone in Brian De Palmas „Untouchables“ seidene Unterwäsche wie das historische Vorbild trug oder sich als Jack La Motta in „Raging Bull“ vor den Boxszenen von einer eigens angeheuerten Professionellen einen blasen ließ und das mit Eiswasser ablöschte, um mit gehöriger Aggression in den Ring zu steigen.

Dressman Daniel Craig versus Nature Boy Renner

Jeremy Renner gehört ganz klar nicht zu jenen Dressmen wie Bond-Darsteller Daniel Craig, die sich – und sei es alleine schon aus versicherungstechnischen Gründen – nur noch auf Gummimatten fallen lassen mögen und dürfen, deren Actionsequenzen mit all dem Body-Double-Betrug einer aufwendigen Filmgeschnetzelei und dröhender Musik bedürfen, um nicht ganz der Lächerlichkeit preisgegeben zu sein. Man vergleiche hier den in den Actionszenen handwerklich an der Untergrenze hampelnden letzten Bond-Film „Skyfall“ mit dem Jeremy-Renner-Movie „Das Bourne-Vermächtnis“. Während Rolex- und Sony-Dressboy Craig sich unentwegt in Pose wirft, auf die Kinnlade beißt, um über seine Schaufensterpuppenfigur hinaus männlich zu wirken, ist Jeremy Renner als lädierter und als biomedizinisches Versuchskaninchen gebrauchter, von seinen körperlichen wie psychischen Dämonen gejagter und zum Äußersten entschlossener Agent Aaron Cross tausendmal präsenter, physischer – und eben echter. Könnte man sich Craig vorstellen, wie er es mit einen Wolf aufnimmt oder sich einfach eine schmale Häusergasse heruntersausen lässt, Schürfwunden in Kauf nehmend?

Renner hat es sich, auch im Interesse seines Privatlebens, lange überlegt, ob er solch eine Hauptrolle annehmen solle – vielleicht haben dann fünf Millionen Dollar als Gage nachgeholfen, gegenüber 65.000 Dollar für „Tödliches Kommando“ mit höllenharten Drehbedingungen im glühend heißen Jordanien. Was Jeremy Renner in „Tödliches Kommando“ wie im „Bourne Vermächtnis“ zeigt und befördert, das ist nichts weniger als die Errettung des Physischen (vulgo: der Körperlichkeit) in einer Filmwelt, die – den Marvel-Superhelden sei es geklagt und getrommelt – mit all den computergenerierten Effekten und dem Hagel der Perspektiven und Bildsensationen DAS GENAUE SEHEN zunehmend im Flirren und Flackern der Pixel beerdigt. Auch da ist der letzte „Bourne“ das Antidotum zu „Skyfall“, manche Szenen sind fast ungebührlich lang, schauen Jeremy Renner auch bei Unspektakulärem zu. Im Universum der Marvel-Helden fällt er sogar unter deren ganzer Versammlung auf: als Hawkeye in „The Avengers“ (2012).

Und singen kann er auch …

Renner, von seinen Freunden Rennie genannt, wurde 1971 in Kalifornien geboren, er hat deutsche und irische Ahnen im Blut, wuchs in einem Haus voller jüngerer Geschwister auf (Älteste wissen, was das heißt). Er kann zupacken, was man ihm auch ansieht, und betreibt bis heute mit einem Freund ein Unternehmen, das Häuser renoviert. Er war Theaterschauspieler und Sänger, spielt Gitarre, Keyboard und Schlagzeug, 2003 erschien er als ein Bad-Boy-Sheriff in Pinks Musikvideo für ihren Song „Trouble“, 2007 als kaputter Rockmusiker in einer Folge von „Dr. House“. Eine Zeitlang brachte er sich als Make-up-Mann durch, seine ersten zehn Filmrollen waren kaum rühmlich. Die hasardeurhaft übernommene Rolle des Serienkillers Dahmer brachte den Durchbruch. Eine Reihe kleiner Independent-Filme folgte.

2007 war er der Cousin von Jesse James in „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“, einem der wirklich großen Spätwestern der letzten Jahre. 2009 sah man ihn – nein, nicht hierzulande – in der amerikanischen TV-Serie „The Unusuals“ als Detective Jason Walsh, in einer recht dunklen, an Joseph Wambaughs „Chorknaben“ erinnernden New Yorker Cop-Komödie mit reichlich dysfunktionalen Ordnungskräften. Nach der Oscar-Nominierung für „Tödliches Kommando“ folgte nur ein Jahr später eine erneute Nominierung, diesmal als bester Nebendarsteller in Ben Afflecks „Stadt ohne Gnade“, der superben Verfilmung des Chuck Hogan-Romans „Endspiel“ (Prince of Thieves). Da war er der von wilder Energie fast platzende Sprengsatz in einer Bande von Bankräubern, der es kaum erträgt, wie sein Freund mit einer sie alle gefährdenden Zeugin turtelt, anstatt sie einfach umzulegen. Pausbäckig und kompakt verstärkte er im vierten Film der ebenfalls angenehm physisch bleibenden Filmserie „Mission Impossible“ das Team von Ethan Hunt. Und jetzt im Januar 2013 darf er endgültig (wie einst Georg Clooney in „From Dusk till Dawn“) die Sau rauslassen – in der Action-Horror-Komödie Hänsel und Gretel: Hexenjäger. Der Trailer lässt jede Menge Splatter erwarten.

http://www.youtube.com/watch?v=lNJf7iaNoLs

Für die Zukunft hat Renner Interesse an einem „Bourne“-Film mit Matt Damon geäußert, das „Vermächtnis“ spielt zeitgleich wie der dritte „Bourne“-Film, als Matt Damon durch New York gejagt wurde, in einer Szene wird darauf Bezug genommen. Renner meinte dazu: „It would be kick-ass. I love Matt.“

P.S. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte von Jeremy Renner, dann das Remake eines der größten physischen Filme aller Zeiten: Cornel Wildes „Naked Prey“ (Der Todesmutige, 1966), von Samuel Fuller kannibalisiert als „Hölle der tausend Martern“. Der athletische Cornel Wilde – 1936 als Fechter im amerikanischen Olympiateam vorgesehen, dann aber einer Theaterverpflichtung wegen abgesagt – wird in dem Film höchst selbst als gefangen genommener Safarijäger von empörten Ureinwohner nackt und barfuß durch die Kalahari gejagt, mit nur einem Speerwurf Vorsprung.

Alf Mayer

Jeremey Renners Filmografie (unvollständig):
National Lampoon’s Senior Trip/ Die Chaos-Clique auf Klassenfahrt (1995)
Dahmer (2002, Hauptrolle)
S.W.A.T. (2004)
A Little Trip to Heaven (2005)
Kaltes Land / North Country (2005)
Das Ende der Unschuld/ Twelve and Holding (2005)
Loves Comes to the Executioner (2006)
Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“ (2007)
28 Weeks Later (2007)
Tödliches Kommando / The Hurt Locker (2008, Oscar-Nominierung  beste Hauptrolle)
The Unusual (TV-Serie, 10 Folgen, 2009)
Stadt ohne Gnade/ The Town (2010, Oscar-Nominierung beste Nebenrolle)
Mission Impossible IV – Phantom Protocol (2011)
The Avengers (2012)
Das Bourne-Vermächtnis /The Bourne Legacy (2012)
Hänsel und Gretel: Hexenjäger(2013)
The Avengers 2 (2015)
Titel-Foto: Eva Rinaldi

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