Holmes & Moriarty – The Show must go on
Holmesiana sind gerade steampunk- und retro-mäßig schwer en vogue. Ein drolliger Anachronismus, aber schon okay, findet Joachim Feldmann, der sich einen Neo-Holmes-Roman von [[Anthony Horowitz]] vorgenommen hat.
London sei seit dem Tode seines Widersachers Professor Moriarty vom Standpunkt des Kriminalisten aus betrachtet nicht mehr besonders interessant, klagt der selbst just von seinem Erfinder [[Conan Doyle]] wieder zum Leben erweckte Meisterdetektiv Sherlock Holmes, bevor er daran geht, das Rätsel des „Baumeisters aus Norwood“ (in „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“, 1905) zu lösen. Eine Ansicht, die nicht viele ehrbare Londoner Bürger teilen dürften, wie sein Adlatus Watson einwendet. Doch für Holmes, der Verbrechen jeder Art vor allem als geistige Herausforderung betrachtet, ist der Verlust eines ebenbürtigen Gegners durchaus schmerzhaft. Dass Moriarty selbst ähnlich gedacht haben muss, lässt sich einer kleinen Episode des gerade erschienenen neuen Sherlock Holmes-Romans „Das Geheimnis des weißen Bandes“ entnehmen. Denn der geheimnisvolle Mann, der Watson einen Zellenschlüssel übergibt, um den des Mordes verdächtigen Holmes aus dem Holloway-Gefängnis zu befreien, ist niemand anderer als …

Sir Conan Doyle
Pastiche

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Aber fangen wir vorne an. Nachdem mehr oder weniger gelungene Modernisierungen des klassischen Detektivs für Leinwand und Bildschirm beachtliche Publikumserfolge erzielen konnten, legt der britische Schriftsteller [[Anthony Horowitz]], bislang vor allem als Drehbuchautor für gehobene Fernsehkrimis (z. B. „Midsomer Murders“ a.k.a. „Barnaby“ oder „Foyle’s War“) bekannt, ein neues Holmes-Abenteuer vor, das sich von seinen viktorianischen Vorbildern kaum unterscheidet. Horowitz trifft den Stil Arthur Conan Doyles genau und versteht es ebenso gut, einen verzwickten, der Intelligenz des genialischen Ermittlers angemessenen Fall zu konstruieren. Oder besser gesagt, zwei Fälle, die allerdings miteinander verknüpft sind.
Zum einen gilt es, einen Galeristen vor der Rache eines amerikanischen Gangsters zu schützen; zum anderen will Holmes herausfinden, wer den Straßenjungen Ross umgebracht hat. Ross gehörte zu jener Bande auf sich allein gestellter Kinder, die dem Detektiv gelegentlich bei seinen Nachforschungen behilflich waren. Von der brutalen Ermordung des Knaben zutiefst schockiert, beginnt Holmes zu ermitteln. Und landet selbst im Gefängnis. Das geschieht passend in der Mitte des Romans, so dass Watson die folgenden einhundert Seiten selbst detektivisch tätig werden kann. Natürlich gelingt es Holmes zu entkommen, auch ohne den Schlüssel in Anspruch zu nehmen, und beide Fälle werden gelöst.

Sherlock Holmes Statue in Edinburgh
Weiaa!

Sherlock Holmes Statue in Edinburgh
Doch was der Detektiv dabei herausfindet, ist so „ungeheuerlich und schockierend“, dass Watson, wie er im Vorwort erläutert, seine Aufzeichnungen für die nächsten einhundert Jahre in einem Schließfach deponiert. Wer den Roman bis zum Ende liest, weiß auch warum. Der Hintergrund des Mordes an Ross ist wahrhaftig nicht der Stoff, an dem sich das Lesepublikum des frühen 20. Jahrhunderts erbauen wollte. Heute sieht das anders aus, und es ist vielleicht der einzige Schwachpunkt dieses im besten Sinne anachronistischen Unterfangens, dass als des Rätsels Lösung ausgerechnet ein Verbrechen herhalten muss, das zum Standardrepertoire heutiger Kriminalliteratur gehört.
Aber das ist kein wirklicher Einwand gegen dieses Buch, das all denen, die sich auch an perfekten Nachbauten antiken Mobiliars erfreuen können, einige Stunden vergnüglicher und spannender Lektüre bereiten wird.
Joachim Feldmann
Anthony Horowitz: Das Geheimnis des weißen Bandes. Ein Sherlock-Holmes-Roman (The House of Silk. 2011). Roman. Deutsch von Lutz-W. Wolff. Frankfurt am Main: Insel Verlag 2011. 351 Seiten. 19,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.