Geschrieben am 21. September 2011 von für Bücher, Litmag

Anja Reich / Alexander Osang: Wo warst du? Ein Septembertag in New York

Es gibt im Leben wahrscheinlich nur ganz wenige Momente, in denen man das Gefühl hat, bei etwas Historischem dabei zu sein. Der 11. September 2001 war so ein Tag. Alexander Osang und seine Frau Anja Reich haben ihn hautnah in New York miterlebt und erzählen davon in ihrem neuen Buch „Wo warst du? Ein Septembertag in New York“. Von Anica Richter

Keine Atempause

Natürlich liegt der Gedanke nahe: Schon wieder ein Buch zum 11. September 2001. Schon wieder Patriotismus und Emotionen und – Wiederholung. Nach zehn Jahren, unzähligen Reportagen und Berichten glaubt man, den Schrecken und die Ereignisse dieses Tages zu kennen. Die Opferzahlen, die Bilder der Menschen, die aus den Türmen springen, die Bilder derjenigen, die es gerade noch ins Freie, ins Leben geschafft haben. Die Flugzeuge. Das Feuer. Das Inferno.

Natürlich findet das alles bei Osang und Reich ebenso statt wie bei Guido Knopp. Und doch ist alles ganz anders. Weil der 11. September 2001 in diesem Buch zunächst ist wie jeder andere Tag auch. Weil er nicht mit einem Flugzeug beginnt, das sich in einen Turm bohrt, sondern mit der Müllabfuhr, wegen der das Familienauto umgeparkt werden muss, und mit einer Radioansagerin, die „Lots o’ Sunshine“ für diesen Tag verspricht, und mit „Clifford, the big red dog“, den Osangs Tochter Mascha so gern im Fernsehen sieht.

Es ist ein individueller und ein sehr menschlicher Blick auf die Katastrophe – mal still, mal wütend, mal überrascht, mal komisch, mal infantil. Es ist ein Blick, der sich vor allem auf das Selbst richtet, auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, die im Angesicht einer solchen Katastrophe entstehen. Das Zentrum der Reflektion dieses Tages ist nicht die Katastrophe selbst, sondern Osangs und Reichs persönliche Lebenswelt, in der sie sich abspielt.

Foto: Verlag

Geschichte wird gemacht

Der Grundstein für das Buch wird im Jahr 1999 gelegt. Osang zieht als SPIEGEL-Korrespondent nach New York, seine Frau Anja, ebenfalls Journalistin, und die zwei gemeinsamen Kinder begleiten ihn. Für ihn ist es ein lange gehegter Traum, für sie bedeutet es, ihren Job bei der Berliner Zeitung vorerst aufzugeben, das soziale Netzwerk zu verlassen und fortan als freie Journalistin in erster Linie Hausfrau und Mutter zu sein. Das, was sie verbindet, beginnt, sie zu trennen. Die Kinder. Der Job. Die Liebe. Die Leidenschaft. Es ist die Schizophrenie der Selbstverwirklichung.

2001 ist für Osang ein arbeitsreiches Jahr. Er pendelt zwischen Deutschland und Amerika, schiebt ein paar Kurzurlaube mit der Familie ein und, das vor allem, schreibt und schreibt und schreibt. Der 11. September ist der erste freie Tag, den er seit zwei Wochen bei seiner Familie verbringt. Der ewig Getriebene will an diesem Tag mal ein bisschen verschnaufen. Kurz nach neun Uhr morgens ist klar, dass daraus an diesem Tag nichts wird. Von nun an geht alles ganz schnell.

2001 ist auch für Reich ein arbeitsreiches Jahr. Sie pendelt zwischen den Welten, Familie und Arbeit, schreibt so oft es geht ein paar Texte und kümmert sich um die beiden Kinder, das Haus, darum, dass alles immer weiter geht. Der 11. September beginnt für sie mit dem ersten freien Morgen seit zwei Wochen, ihr Mann wird die Kinder versorgen. Mal kein Alltag. Kurz nach neun Uhr morgens ist klar, dass tatsächlich alles anders ist als sonst. Für Anja Reich wird es der längste Tag.

Osang und Reich berichten im Buch abwechselnd von den Ereignissen des Tages. Er, der die heile Welt in Brooklyn Hals über Kopf verlässt, um sich in das Inferno zu begeben. Sie, die ebenfalls das Verlangen spürt, als Reporterin vor Ort zu sein, und sich dann doch dafür entscheidet, bei den Kindern zu bleiben. Beide erleben den 11. September 2001 völlig unterschiedlich und doch vermag man nicht zu sagen, welche Perspektive die schwierigere ist. Alexander Osang ist in diesem Trauerspiel der Macher, der SPIEGEL-Reporter auf der Suche nach der Geschichte im Abgrund der Finsternis. Er ist der, der sich zuerst um sich selbst sorgen muss. Anja Reich ist zur Rolle der Zuschauerin verdammt, die dem Grauen im eigenen Wohnzimmer Herr werden muss, und sich mit aller Macht gegen eine Vereinnahmung der Angst um ihren Mann stemmt. Und sie ist die, die dafür sorgen muss, dass die Welt sich für ihre Kinder weiterdreht.

Es geht voran

Osang und Reich müssen am 11. September 2001 immer wieder Entscheidungen treffen, von denen sie nicht wissen, wie sie sich auf ihre Zukunft auswirken. Gehe ich zum World Trade Center, um eine Story zu machen? Bleibe ich bei den Kindern oder begleite ich meinen Mann? Überquere ich die Brooklyn Bridge, obwohl sie von der Polizei abgesperrt ist? Hole ich meinen Sohn sofort von der Schule ab oder versuche ich, die Normalität so lange es geht aufrechtzuerhalten? Renne ich in Richtung der Aschewolke, anstatt vor ihr zu flüchten? Gehe ich zu den Nachbarn und nehme einen Drink oder ist das pietätlos? Rufe ich in der Redaktion an oder bei Anja?

Es sind genau diese Momente, die das Buch so stark, so besonders machen. Man spürt, wie zerrissen Osang in manchen Momenten ist. Wie er sich geradezu verachtet für das fast schon krankhafte Getriebensein von seinem Job, von dem er weiß, dass es nicht nur seine Familie zerstören könnte, sondern auch sein Leben. Man spürt, wie sehr Anja Reich darum kämpft, sich eine gewisse emotionale Unabhängigkeit zu bewahren, immer in dem Wissen, dass sie ihren Mann ziehen lassen muss, um ihn zu halten.

Das Buch ist nicht nur ein Buch über den 11. September, sondern auch eines über die Beziehung von Osang und Reich. „Wo warst du?“ ist ein Titel, der nicht nur die Metaphysik der Geschehnisse, sondern auch die der Beziehung in besonderer Weise anspricht. Es ist beeindruckend, mit welcher Offenheit die Autoren über Ihre Gefühle, über die Auf und Abs ihrer Partnerschaft schreiben. Und immer wieder geht es um die eine große Frage: Wieviel Selbst muss ein Partner zugunsten des anderen von sich aufgeben?

Das Buch endet mit einem Wiedersehen des Ehepaars bei den Nachbarn. Es gibt Corned Beef und Gin Tonic. Und dann geht alles irgendwie weiter.

Anica Richter

Anja Reich / Alexander Osang: Wo warst du? Ein Septembertag in New York. Piper Verlag 2011. 271 Seiten. 19,99 Euro. Zur Verlagsseite (mit Hörprobe/Interview).  Eine Leseprobe finden Sie hier, ein Interview mit den Autoren als Video in der Mediathek des ZDF hier.
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