Der Homer, auf den wir warten
– Als am 11. September 2001 morgens um viertel vor neun das erste Flugzeug in einen der beiden Türme des World Trade Center flog, saß ich in Hamburg in meiner Küche und ging mit einem Kollegen in Leipzig am Telefon die gemeinsame Übersetzung des 4. Bandes der Comic-Mini-Serie Body Bags von Jason Pearson durch…
9/11 ist nun fast zehn Jahre her. Datum und selbst Stunde verbindet sich für viele Menschen in Europa mit einem ganz persönlichen biografischen Moment – dem Augenblick, wo man den Alltag sein ließ und sich vor den Fernseher setzte. Ich sage: in Europa, weil bei uns Nachmittag um drei war, als die Flugzeuge die Türme erreichten, während zum Beispiel in Honolulu noch nachtschlafende Zeit herrschte und die meisten Amerikaner auf Hawaii erst viele Stunden später beim Morgenkaffee erfuhren, was ihr Land gerade befallen hatte.
In Hamburg besprach ich an diesem Nachmittag im September mit einem Kollegen am Telefon die Übersetzung einer ziemlich gewalttätigen, recht hübsch gezeichneten Saga von einem hispanischen Vater-Tochter-Attentäterteam, bis mein Ko-Übersetzer irgendwann meinte, er müsse jetzt in den Nebenraum, weil dort alle vor dem Fernseher hingen. Mein Fernseher steht in der Küche, also schaltete ich ihn ein und bestand darauf, weiter über den Text zu reden und parallel über das TV-Geschehen Bericht zu erstatten, worauf sich der Kollege erstaunlicherweise, freundlicherweise, einließ.
Im New Yorker Vormittag flog das zweite Flugzeug in den zweiten Turm. Sah nicht aus, als wäre das noch der Sportfliegerunfall, für den die Sache anfangs gehalten wurde. Und wenn die Welt unterginge, die meisten Menschen würden vermutlich eine Weile lang noch darauf bestehen, das weiterzumachen, was sie gerade tun, wie relativ sinnlos auch immer, weil das Hirn eines Erwachsenen einfach nicht besonders viel Lust hat, sich auf plötzliche Katastrophen umzustellen. Zumal, wenn die Katastrophe ein paar tausend Kilometer weg von daheim stattfindet.
Irgendwann legten wir auf. Irgendwann war auch klar, dass selbst der freischaffende Arbeitsalltag nun nicht mehr angesagt war. Der Fernseher lief dann die halbe Nacht, wie ein seltsam fiktionaler Schrecken ohne Ende, viele haben diesen Tag so erlebt.
Die Blüte parasitärer Genies
Es dauerte nicht mehr als ein paar Tage, oder vielleicht Wochen, bis die Feuilletons auf beiden Seiten des Atlantik sich vorsichtig anfingen zu fragen, welcher Literat denn nun wohl der Homer dieser Katastrophe werden würde – oder zumindest versuchen würde, es zu sein. Die Kunst ist ein Parasit des eigenen und fremden Erlebens, was nicht heißt, dass sie für ihr Potential an Erkenntnisgewinn nicht verehrt werden soll. Tatsächlich könnte man das kulturelle Erbe der Menschheit genauso beschreiben: An der Blüte ihrer parasitären Genies werdet ihr sie erkennen! Was 9/11 betrifft, bleibt die Frage bis heute offen. DeLillo hat einen interessanten Ansatz geliefert, aber DeLillo ist – nun, DeLillo, ein Homer vielleicht, aber nicht für den Großteil der Leser, jedenfalls nicht für die von heute.
Homerische Ansprüche hat dagegen der Comic in seiner 100- oder 200- oder auch 300-jährigen Geschichte (je nach dem, wie man rechnet: Andy’s Early Comics Archive bietet dazu einen hübschen Überblick) bisher wenige gestellt. Statt der definitive Sänger seiner Zeit zu sein, reicht es dem Medium meist, den Gegenwarts-Chor mit schrägen Klängen anzureichern. Es gibt allerdings Ausnahmen: Art Spiegelmans „Maus“, ein Comic über den Holocaust (und seinen Ablagerungen im Leben des Künstlers), gehört zweifellos dazu.
2001 lebte Spiegelman in New York nur wenige Blocks vom ehemaligen World Trade Center entfernt, den Terroranschlag hat er an diesem Morgen miterlebt, seine ältere Tochter war in einer Schule gleich neben den Türmen. Sein erster Gang, da standen die Türme noch, war, mit seiner Frau, zu ihr. Am 24. September 2001 erschien dann sein berühmt gewordenes Cover des New Yorker Magazines, wo seine Frau als Art Director arbeitete: schwarze Türme auf einem fast schwarzen Grund. Knapp ein Jahr später brachte die ZEIT – das Angebot hatte Michael Naumann dem Künstler gemacht – die erste von zehn großformatigen Zeitungscomicseiten, in denen Spiegelman sein Erleben der Katastrophe verarbeitet.
Katastrophen verjähren nicht, aber sie verändern sich mit dem Ablauf der Zeit und vor allem mit dem, was sie nach sich ziehen. Ich erinnere noch, wie der Kollege aus Leipzig sagte: „Jetzt werden die Amerikaner in Afghanistan einmarschieren“, kurz bevor wir an jenem 11. September auflegten, und ich fragte ihn: „Warum das denn?“ Wenige Wochen später war es dann soweit. Spiegelmans großformatigen Zeitungsseiten – die ersten über den Tag des Anschlags und die Tage danach – welche ab September 2002 in europäischen Zeitungen erschienen, kamen in diesem Sinne für mich zu spät. Sie erzählten von Dingen, die längst tausendfach berichtet worden waren. Mir kamen sie vor wie die Zeitzeugenberichte eines Rip Van Winkles, der zwar nicht 20 Jahre, aber doch ein Jahr gebraucht hatte, um in unserer Mitte einzutreffen und von seiner Erschütterung zu berichten.
Zuständig für 9/11: Der Comic
Mag sein, dass dabei gerade eine besondere Befindlichkeit des Comics eine Rolle spielte. In seiner überwiegenden Form ist der Comic ein Massenmedium, Woche für Woche oder Tag für Tag werden Strips in Zeitungen und Heften auf den Markt gebracht, deren Haltbarkeitsdatum meist begrenzt ist, die aber den Vorteil haben, schnell auf Aktualitäten reagieren zu können. Wenn es Ende 2001 ein Medium gab, das sich für 9-11 zuständig fühlte, dann war das der Comic.
Die großen Verlage DC und Marvel sind in New York beheimatet. Deren Hauptverkaufsprodukt, die Superhelden, treiben sich regelmäßig in New York-ähnlichen Metropolen herum. Vor allem aber war dies eine Katastrophe, die in klaren, prägenden Bildern vermittelt wurde: Das Flugzeug, das in die Wand des Hochhauses einschlägt, der Rauch, der aufsteigt, die Türme, die einstürzen, die Menschen, die wie flügellose Insekten aus den Fenstern fallen. Hurricane Katrina, wenige Jahre später, hat für New Orleans keine solche Bilder hinterlassen: Sein Homer ist die Fernsehserie „Treme“, die das Unheil und seine Nachwehen besingt. Im Fall von 9/11 dagegen war die Filmversion, wenn man will, schon gelaufen. Der Comic sah es als seine Aufgabe, Pflicht und Verantwortung, diese Bilderwelt mit den eigenen Bildern entgegenzutreten.
Die Stories in den unabhängigen 9/11-Compilations, den Superhelden-Sonderstories und den Sammlung von Tafelbildern, die Mainstream- und Alternativverlage ab Ende 2001 herausgaben, meist mit dem Hinweis, dass der Erlös vom Verkauf an diese oder jene Stiftung ginge, waren oft melodramatisch, manchmal hilflos, hin und wieder aber auch ungewöhnlich berührend in ihrem Bemühen, den „offiziellen“ Bildern eigene Bilder entgegenzusetzen. Superhelden verneigten sich vor den „wahren“ Helden, den Feuerwehrleuten und Polizisten, die vor Ort im Einsatz waren. Zeichner saßen an Tischen und fragten sich, wozu noch einen Stift in die Hand nehmen.
Andere Geschichten dokumentierten ganz einfach den kleinen Ausschnitt eines nicht alltäglichen Alltags, den sie an diesem Tag erlebt hatten. Dass all diese Geschichten gedruckt, veröffentlicht und vertrieben wurden – bis nach Europa – verdankt sich der Effektivität des US-Comic-Markts, der sich damit vielleicht nicht direkt in den Dienst der Sache gestellt, aber der Sache doch immerhin ein Ausnahme-Fenster geöffnet hatte.
Da konnte Spiegelman, der ein Jahr später mit seiner Version herausrückt, einem doch ein wenig vorkommen wie jemand, der sagt: So. Und jetzt zeige ich euch mal, wie unsereiner von der hohen Comic-Kunst an die Sache rangeht.
Meine Muse heißt Desaster
Womit ich Spiegelman damals sicher unrecht tat. Wenn überhaupt, war es Kritik und Marketing, und nicht der Künstler selbst, der diesen Eindruck in Deutschland – „endlich ein Comic über 9/11!“ – entstehen ließ.
Die englischsprachige Buchversion der Zeitungsblätter, die 2004 erschien, habe ich mir nicht mehr angeschaut. Zum zehnten Jahrestag von 9/11 ist jetzt bei Atrium eine deutsche Ausgabe herausgekommen, „Im Schatten keiner Türme“. Der Vorabdruck, den ich zufällig zu sehen bekam, erschien mir mit einem Mal – nun, umwerfend. Spiegelman ist umwerfend. Vielleicht hatte es die zehn Jahre gebraucht, um würdigen zu können, was dieser Mann aus seinem Erleben der Katastrophe geschaffen hatte?
Die Antwort lautet ja – und nein. Die ersten Seiten sind den Comic-Bemühungen des Markts Anfang 2002 ohne Frage weit überlegen. Spiegelman bezieht sich, beinah instinkthaft, als wollte er an etwas festhalten, das Bestand hat, auf die frühen Zeitungscomics von Dirks, McCay, Feininger, Outcault und anderen, lässt ihre Bildwelt in den Momenten für sich reden, in denen er sich selbst und seine Frau in Panik nicht zeichnen mag. Auch der Horror der EC-Comics und unheimliche Werbebilder aus Schwarz-Weiß-Tagen werden eingespielt als gute und richtige Platzhalter, Bildzitate für etwas, dem die eigenen Bilder nicht genügen können – ein tief empfundener Hinweis darauf, wie wir eine unfassbare Realität mit dem zu erfassen suchen, was wir bereits kennen. So war es doch auch an jenem Abend vor dem Fernseher: „Ist das jetzt ein Hollywood-Film, oder sollen wir das wirklich glauben?“
Nur blieb es nicht dabei. Die späteren Seiten entstehen in 2003, sie berichten bereits von den Folgen der Katastrophe in den USA, Irak-Krieg, Homeland Security, Patriot Act. Sie beziehen Stellung auf eine Weise, mit der Spiegelman sich wenige Freunde im eigenen Land gemacht haben wird (denn New York, das weiß man nun auch, ist nicht die USA) – und wirken, bei aller Virtuosität (gibt es einen Stil, den dieser Mann nicht imitieren kann?) so hilflos wie jene ersten Comic-Reaktionen wenige Monate nach 9/11. Deren Bemühungen, Superhelden oder nicht, bleiben dabei von Spiegelman unbeachtet, während die kleinen Alltagsszenarien der alten Zeitungscomics zunehmend weniger als Kunstgriff, und mehr wie Rettungsboote erscheinen, die diesen Künstler auch nicht ans Ufer bringen werden.
Und darum geht es ja doch auch bei dem Homer, auf den wir immerzu warten: Dass er uns den Wahnsinn der Welt beschreibt, ohne selbst komplett darin unterzugehen. Im Herzen jedes Dichters liegt ein Splitter aus Eis – war es Robert Frost, der das gesagt hat? Ich mochte den Satz nicht, als ich ihn das erste Mal hörte, der Moment von kalter Beobachtung, der sich darin vermittelt. Der Parasit, der aufblüht, während sein Wirt verendet. Ich bin nicht sonderlich froh darüber, anzuerkennen, dass er vermutlich stimmt. In diesem Bilderbogen zu 9/11 hat Spiegelman diese Qualität nicht – er könnte vielleicht noch zu ihr finden. Er habe zehn Jahre lang keine Comics mehr gezeichnet, schreibt Spiegelman in seinem Vorwort zum Buch, und der Terroranschlag habe ihm gezeigt, dass er wieder Comics machen wolle – „schließlich heißt meine Muse Desaster!“
Das wäre dann schon mal ein Anfang.
Brigitte Helbling
Art Spiegelman: Im Schatten keiner Türme (In the Shadow of No Towers, 2004). Aus dem Amerikanischen von Christine Brinck und Jürgen von Rutenberg. Hamburg: Atrium 2011. 42 Seiten, Euro 34,90. Eine Leseprobe des Buches (PDF).
Einen Überblick über die erstaunliche Vielfalt an Künstlern in den untenstehenden Anthologien findet sich HIER
9-11: Artists Respond (Volume 1). Various Artists. Dark Horse/Chaos! Comics/Image Comics Januar 2002. 196 Seiten.
9-11: September 11, 2001 (Stories to Remember, Volume 2). Various Artists. New York: DC Comics Januar 2002. 224 Seiten.
9-11: Emergency Relief. Various Artists. Gainesville: Alternative Comics Januar 2002. 199 Seiten.
Heroes: The World’s Greatest Super Hero Creators Honor The World’s Greatest Heroes 9-11-2001. Various Artists. New York: Marvel Comics 2001. 64 Seiten.