Geschrieben am 16. Mai 2015 von für Bücher, Crimemag

Adrian McKinty: Die verlorenen Schwestern

Adrian McKinty Die verlorenen SchwesternZwischen Bomben und Landhausidylle

– Adrian McKintys „Die verlorenen Schwestern“ gehört in die Reihe der Sean-Duffy-Romane und ist wie alle Bücher von McKinty ein Feuilletonliebling. Das hat gute Gründe. Sonja Hartl zählt sie auf.

Lange Zeit gab es angesichts der Allgegenwärtigkeit der Gewalt fast keine Kriminalliteratur, die in Nordirland spielte. Verleger glaubten, niemand wolle es lese, außerdem wurde vermutet, Leser könnten es als ‚geschmacklos‘ empfinden. Doch dann kamen in den 1980er Jahren erste Kriminalromane auf, die die troubles thematisierten, und seit den 1990er Jahren nimmt ihre Anzahl stetig zu. Eoin McNamee schreibt über historische Fälle, mit denen er über die Verbindung zwischen paramilitärischer und krimineller Gewalt erzählt und gesellschaftliche Seilschaften aufdeckt, die im Zuge der Spaltung der nordirischen Gesellschaft entstanden sind und weiterhin Bestand haben. Stuart Neville und Sam Millar lassen Serienkiller im gegenwärtigen Belfast umherjagen, Brian McGilloway siedelt seine Romane im Grenzland zwischen dem Norden und der Republik Irland an. Auch Adrian McKinty ist nach seiner „Dead“-Trilogie um Michael Forsythe nach Nordirland zurückgekehrt und seine Reihe um Sean Duffy in der Zeit der troubles angesiedelt.

Agatha Christie im Jahr 1925

Agatha Christie im Jahr 1925

Musik, Alkohol, Drogen

Sean Duffy ist ein Katholik in der protestantisch-dominierten RUC (Royal Ulster Constabulary) in Belfast. Im ersten Band bekommt er es mit einem vermeintlichen Serienkiller zu tun, in „Die Sirenen von Belfast“ versucht er, das Ableben eines Amerikaners aufzuklären und wird in der Folge zum Streifenbeamten degradiert. In „Die verlorenen Schwestern“ ist er endgültig am Boden, als er nach nur 40 Seiten aus dem Polizeidienst geworfen wird. Nun bleiben ihm lediglich Musik, Alkohol, Drogen, sein Atari 5200 und eine Zukunft, die selbst von der Aussicht auf eine Zeit im warmen Spanien nur wenig heller wird. Aber das nächste Kapitel des Nordirland-Konflikts wartet auf ihn, deshalb verschwendet Adrian McKinty weder Zeit noch Wort: 38 IRA-Mitglieder sind aus dem Hochsicherheitstrakt des Maze-Gefängnisses ausgebrochen, darunter ist der Bombenspezialist Dermot McCann, der mit Duffy zur Schule gegangen ist.

Deshalb steht der MI5 in Person der Agenten Tom und Kate vor Duffys Tür. Sie erhoffen sich von Duffy einen Zugang McCanns Familie und damit einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort. Duffy zögert nicht lange, verlangt als Gegenleistung seine Wiedereinsetzung in den Polizeidienst als Detective Inspector, einen Posten auf einem Revier seiner Wahl und eine Entschuldigung von Mrs. Thatcher. Dann macht er sich an die Arbeit und erhält kurze Zeit später ein weiteres verlockendes Angebot: McCanns Ex-Schwiegermutter Mary wird ihm sagen, wo ihr ehemaliger Schwiegersohn steckt, wenn er den Tod ihrer zweiten Tochter Lizzie aufklärt. Sie starb vor vier Jahren im elterlichen Pub, dessen Türen und Fenster von innen verriegelt waren. Die Polizei schlussfolgerte, sie kam bei einem Unfall ums Leben, dennoch glaubt Mary, ihre Tochter wurde ermordet. Damit hat Adrian McKinty in seinem dritten Sean-Duffy-Roman eine reizvolle Verbindung zwischen der auf historischen Ereignissen basierenden Suche nach McCann und einem locked room mystery geschaffen.

345px-Margaret_ThatcherBelfast explosiv

Bereits die ersten beiden Teile überzeugten durch die kohleofengeschwängerte, explosive Atmosphäre im Belfast der 1970er und nun 1980er Jahre, hier ist auch „Die verlorenen Schwestern“ keine Ausnahme. Mittlerweile ist Duffys regelmäßiger Blick unter sein Auto für den Leser fast alltäglich, daher wird er von McKinty ebenso beiläufig erwähnt wie das beständige Kreisen eines Helikopters über Belfast. Der politisch-historische Handlungsstrang in „Die verlorenen Schwestern“ ermöglicht nun aber darüber hinaus einen Ausflug in das Umland von Belfast und nach Derry, „Nur eine Meile entfernt von der Grenze zu Donegal, Republik Irland, war die Gegend hier polizeilich praktisch nicht zu kontrollieren“, sie steckt voller schäbiger Mietskasernen und leer stehender Häuser, die Arbeitslosigkeit liegt bei fünfzig Prozent.

Doch dort brechen andere Zeiten hat, die IRA scheint an Einfluss zu verlieren, so dass McCanns Schwester anschaffen geht – früher wäre so etwas aus Angst vor ihrem Bruder nicht möglich gewesen. Anscheinend werden „die alten IRA-Akteure von einer neuen Generation von Drogendealern verdrängt, die die Taschen voller Geld hatten und sich nicht für Politik oder ‚den Kampf‘ interessierten“, eine Beobachtung, die schon auf die Zukunft Belfasts hinweist. Doch es gibt nicht nur verfallene Häuser und Armut in Nordirland, das zeigt ein kurzer Ausflug ins County Antrim, in dem McCanns Ex-Frau Annie Fitzpatrick bei ihren Eltern auf dem Land in einem schönen Haus lebt und die Familie von den Bewohnern respektiert wird. Und sogar in Belfast hat sich etwas geändert: Seit die Straßen rund um die Royal Avenue voller Polizisten und Soldaten sind, die Durchsuchungen vornehmen, galt das „Stadtzentrum von Belfast paradoxerweise als die sicherste Einkaufsgegend der Welt“.

Philosophie und Popkultur

Mit dem Handlungsstrang um McCann erweitert McKinty zum einen das Bild Nordirlands in den 1980er Jahren, zum anderen ermöglicht er Einblicke in Sean Duffys Vergangenheit. Nach dem bloody sunday in Derry wollte Duffy zur IRA, aber McCann hat ihn abgewiesen: „er wollte, dass ich meinen Doktor an der Queen’s University mache. Er meinte, eine Bewegung brauche Männer mit Hirn ebenso wie Männer mit Muckis“. Tatsächlich studierte Duffy, landete dann aber bei der Polizei. Seither sitzt er zwischen allen Stühlen, die Katholiken verachten ihn, weil er für die Engländer arbeitet, die Protestanten vertrauen ihm nicht, weil er ein Katholik ist. Belfast ist eine Stadt der Fronten und Feindschaften, der klar definierten Gräben, die auch Sean Duffy nur selten überwinden kann. Beständig sieht er sich einem Gewirr aus Abhängigkeiten und Verpflichtungen gegenüber, in das er unweigerlich hineingerät. Bei seiner Rückkehr in seine Heimat zeigt er nun seinen Mut, legt mal eben einem kleinen fiesen Zuhälter das Handwerk und begegnet in einer kurzen Episode sogar dem anderen Serienhelden von McKinty. Bei einem lag die IRA jedoch richtig: Sean Duffy ist klug, er weiß ebenso viel über Musik wie über Vögel. Dieses Buch steckt voller Überlegungen, fast schon philosophischer Einsichten und (pop-)kulturellen Anspielungen, die humorvolle Akzente setzen – getreu des Belfaster Humors, bei dem einer einen Witz macht, aber keiner lacht oder auch nur den Mund verzieht, wenn Einbrecher offiziell unter den Namen Michael Mouse, Dick Turpin und Robin Hood registriert werden.

Locked room mystery – revisited

Darüber hinaus hat Adrian McKinty in „Die verlorenen Schwestern“ im Gegensatz zu „Die Sirenen von Belfast“ die Kriminalhandlung sorgfältiger angelegt. Viele berühmte Vorbilder werden mitsamt ihrer oftmals unglaublichen Auflösung zitiert, das locked room mystery wird dann fast in altmodischer Agatha-Christie-Manier aufgeklärt (wäre dort nicht diese Waffe). Diese Reminiszenz an fast vergangene Krimizeiten fügt sich erstaunlich gut ein, fast beschwört das Rätsel eine verlorene Idylle herauf, von der auch das Leben der Familie Fitzpatrick erzählen könnte – wäre nicht der Tod in Belfast und Nordirland zu allgegenwärtig. Denn die Welt in Nordirland ist und bleibt brutal, deshalb bleibt auch Sean Duffy am Ende nur eines: „Ich klappte meinen Mantelkragen hoch und ging zu meinem Wagen, machte mich bereit für den kommenden langen, langen Krieg …“ Dieser Satz wäre der perfekte Schlusspunkt für die Sean-Duffy-Reihe. Doch ein Wiedersehen wird es noch geben.

Sonja Hartl

Adrian McKinty: Die verlorenen Schwestern (In the morning I’ll be gone, 2014). Roman. Deutsch von Peter Torberg. Berlin: Suhrkamp 2015. 378 Seiten. 14,99 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autor.
Sonja Hartl betreibt das Blog Zeilenkino (www.zeilenkino.de) und betreut die Seite Polar Noir (www.polar-noir.de).
Foto: Margaret Thatcher von work provided by Chris Collins of the Margaret Thatcher Foundation. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.

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