Geschrieben am 4. November 2018 von für News, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special UNO

Urs Zürcher: Textauszug „Alberts Verlust“

zuercher-verlust-cover-light Kopie1. Der Unfall

Er hätte tot sein können.
Eine Baustelle auf der Landstraße. Eine mobile Ampel auf Rot. Ein wartender Lastwagen. Nebel.

Der Wagen traf mit der rechten Seite ungebremst auf den Lastwagen, ein Kotflügel löste sich sofort – Lack und winzige Metallteile stoben in den Nebel hinein und erinnerten im Widerschein des flackernden Rücklichts für einen Sekundenbruchteil an festlichen Zauber –, krachte gegen eine Leitplanke, überschlug sich, flog an dem etwas nach vorne geschobenen Lastwagen vorbei, drehte sich um die eigene Achse, schlitterte über die Straße, wobei die Fahrertür an einer Leitplanke hängen blieb und abkrachte wie ein Flügel eines etwas drallen Wesens, schrammte über einen schmalen, kaum geneigten, mit ein paar Sträuchern bewachsenen Abhang und kam in einem hüfthohen Fluss derart zum Stehen, dass eine hoch aufschießende Gischt entstand, wie sie in dieser Gegend selten zu sehen war, eine Gischt, die ebenso blitzartig, wie sie aufgeworfen wurde, wieder zerstob und sich in den Nebel mischte.

Jetzt waren die Geräusche verschwunden am Fluss. Als hätte ein von Kopfschmerzen geplagter Gott seine Geduld und Friedfertigkeit verloren und den irdischen Tönen die Ausdehnung genommen, erstarb jeder Klang wie die Flamme einer Kerze im Wind sofort und unwiederbringlich. Eine Situation wie vor Anbeginn der Welt: Die Dinge sind schon da, ihre Melodie erst eine Idee. Das Plätschern und Brummen und Quaken erst eine Möglichkeit. Die Stille verwandelte die Landschaft augenblicklich in ihre prähistorische Form. Der Fluss vermochte den Wagen nicht zu bewegen, die Strömung war zu schwach.

Im Wageninnern ein Körper, auch er ohne Geräusch und Laut. Aus dem Fleisch kam noch kein Wort. Der Kopf, in einer nach hinten geworfenen, vom Leib weggeklappten Haltung, schaukelte über dem Wasser, das noch immer etwas aufgewühlt sanft kräuselnd den bis zum Hals eingetrübten Körper umgab.

Und bald schlängelte sich eine blutige Spur durch den Wagen, strömte durch die zerbrochene Heckscheibe nach draußen und zerrann flussabwärts. Unterhalb der Wasseroberfläche, wo sich das aufgeschäumte Wasser allmählich mit den still und ewig fließenden Bewegungen des Flusses vereinigte, schien der Körper eine träge, unmenschliche, irgendwie skulpturale Form angenommen zu haben, was durch das irisierend schimmernde Marmorweiß seiner Haut noch verstärkt wurde, auch wenn die Oberfläche des Körpers einige offene, unruhige Stellen zeigte, wo purpurrote Flecken weit ins Wasser ragten und die Haut insektenhaft im Wasser fächelte, während fast unsichtbare Stücke aus Metall und Kunststoff im Fleisch steckten, sich in den Körper gebohrt hatten und mit ihm eine Verbindung eingegangen waren, die für diesen Körper neu war, weil er zeit seines Lebens mit sich im Reinen gewesen war, sich bislang nicht vorstellen konnte, Aspekte eines Mischwesens aufzuweisen, die jetzt zwar nicht auf den ersten Blick, so doch beim genaueren Hinsehen klar erkennbar waren. Wäre ein noch näheres, das Fleisch vergrößerndes Betrachten möglich, so erhielte man einen Einblick in die diffundierende Wirklichkeit im Innern dieses Körpers, wo sich feinste Fremdelemente aufs Wunderbarste in die zytologischen Begebenheiten mischten und sich auf all diesen im Grunde undurchschaubaren, rätselhaften Körperwegen und -gängen und -höhlen bis in die allerdünnsten Kapillaren ausbreiteten, ohne indes den Gedanken einer tatsächlichen Diffusion hervorzurufen, weil dieser Gedanke nicht nur zeitlebens fernlag, sondern im eigentlichen Sinne undenkbar war, was aber in der Situation des bis zum Hals im Wasser steckenden Körpers keine Rolle spielte, da dieser Körper sich von Kopf bis Fuß nicht im Zustand des Denkens befand, sondern unschuldig wie ein in Formaldehyd getauchtes Schauobjekt schwebend und scheinbar schwerelos getragen von einer friedvollen Leichtigkeit des Wassers und in Harmonie mit sich selber ein still begrenztes Dasein erlebte, hineingeschmiegt in die Bewegungen des Wassers, die wie eine Vielzahl sanft und stetig ineinanderfließender kleiner Quellen spiralisierend neue Formationen schufen, welche sich selber unentwegt umperlten, als ob er niemals trauerte und liebte, beide Arme leicht gebeugt, die Kleider in Fetzen oder durch die Wucht des Aufpralls weggerissen, vom Wasser aufgeweicht und Stück für Stück weggetrieben, sodass kleines Getier, hauptsächlich Larven von Wasserflöhen, Fliegen oder Wanzen, in die offenen, allerdings kaum sichtbaren Stellen des Körpers hineintrudelten und -strudelten, zuweilen sich dort festsetzten oder wieder weggespült wurden, sich aber auch Pflanzliches wie beispielsweise Algen in den Körper mischte, wobei sich zeitgleich zum körperlichen Durchmischungsprozess eine Klärung des Wassers vollzog, allerlei Tang und Tand, Schlamm und Sand vom lieblichen Gesprudel aus dem Wagen geschoben und gezogen wurde oder an den Sitzen und Armaturen zur Ruhe kam und allmählich der ganze Körper schräg schwebend wieder klar erschien.

Die Blutspur war nicht mehr zu sehen. Im seichten Nebel flogen ein paar Amseln. Einzelne Sonnenstrahlen fielen bis auf das Dach des Wagens. Der Motor des Lastwagens sprang nicht an.

Dann tauchten die Geräusche wieder auf. Das leise gurgelnde Rauschen des Flusses, wie es schon seit Urzeiten diese Gegend durchtönte, brachte den über der Wasseroberfläche baumelnden Kopf in Bewegung, entlockte ihm eine Art Antlitz.

Urs-Zürcher+Der-InnerschweizerNeben dem Lastwagen stand sein Lenker, bleich wie Papier, und erklärte mit groben Gebärden den Unglücksfall. Männer in orangen Westen und mit allerlei Gepäck und Gerät übersprangen die Leitplanke, drückten die Weißdorne auseinander, wateten im Fluss. Er vernahm Hundegebell, Stimmen.

 Textauszug, 1. Kapitel. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

 

               Urs Zürcher, Dr. phil., geboren 1963, hat in Basel Geschichte, Philosophie und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft studiert und in Zürich promoviert, arbeitet als Lehrer und Ressortleiter in Basel. Sein erster Roman Der Innerschweizer erschien 2014.

Urs Zürcher: Alberts Verlust. Bilger Verlag, Zürich 2018. 240 Seiten, 24 Euro. Das Buch ist grundsätzlich in allen deutschen Buchhandlungen zumindest bestellbar, wie jedes andere Buch auch, vorrätig allerdings nur in wenigen.

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