Geschrieben am 6. Mai 2015 von für Musikmag

Mohr Music: The World is Tocotronic

Foto: MO

Foto: MO

In Malewitsch’sches Rotes-Quadrat-Rot getaucht

–Am vergangenen Wochenende wurde yours truly reich beschenkt: Neben dem Original-Album „Tocotronic: Das Rote Album“ (nicht etwa Download oder Stream) trafen auch noch – verpackt im größten Paket, das ich seit langer Zeit erhielt – zusätzlich die luxuriös ausgestatteten Tocotronic Chroniken, verlegt bei Blumenbar, bei mir ein. Alles rot, rot, rot überall – die revolutionären Mai-Feiertage im Namen Tocotronics konnten also beginnen.

Nun ist ja Skepsis angesagt, wenn sich alle einig sind, und bei „Tocotronic: Das Rote Album“ waren sich alle einig: Eine wundervolle Platte über die Liebe, gänzlich (Textverweis auf „Ich öffne mich“) unpeinlich, gefühlvoll, kitschfrei und intelligent, sei das Rote Album, so stand es in allen Magazinen zu lesen. Auch, wenn man das Veröffentlichungsdatum 1. Mai für ein Rotes Album arg dick aufgetragen findet: Ereignischarakter hatten Toco-Platten mindestens seit „Tocotronic“ 2002, plakatierte Innenstädte, Coverstories und Features allüberall. Tocotronic sind also ein Ereignis, seit vielen Jahren schon, im Grunde seit Mitte der 1990er, beziehungsweise diesmal: Liebe wird das Ereignis sein („Prolog“).

Tocotronic_Das-rote-AlbumTatsächlich muss man schon ein echter Death-Metal-Griesgram sein, um von Tocotronics zwölf liebevollen Liebesliedern nicht berührt zu sein. Angefangen mit „Prolog“, gerät man mit „Ich öffne mich“, „Die Erwachsenen“, „Rebel Boy“ bis zum letzten Song „Diese Nacht“ in einen wahren Rausch der Romantik. Test am eigenen Leibe: Trotz kilometerlanger Schlangen an Postschalter und Marktstand trug ich dank Dirk von Lowtzows Stimme im Ohr ein beseeltes Lächeln zur Schau, das ich gerne an meine Mitmenschen weitergab. Mitleid mit allen erfasste mich, die keinen MP3-Player mit dem neuen Toco-Album beim samstäglichen Einkauf dabei hatten – wie grau und hässlich musste ihr Leben sein?

Mein Leben jedenfalls war eine dreiviertel Stunde lang (und an diesem Wochenende mehrere Dreiviertelstunden) in Malewitsch’sches Rotes-Quadrat-Rot getaucht (das Cover des Roten Albums zeigt nämlich nicht irgendeine rote Fläche, sondern russische Kunst), kräftig und auffallend zwar, aber auch brüchig an den Rändern und irgendwie durchscheinend und zart. Dirk von Lowtzows Texte seien bei der Arbeit am Roten Album noch intensiver als sonst von seinen Kollegen Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail in mehreren Durchgängen auf Kitschverdacht durchforstet worden. Übriggeblieben ist dennoch kein Konsens-Konvolut, sondern Lyrik mit völlig unrockistischen Vokabeln (Ritornell, Litanei, Wäschespinnen, Diplomarbeit), die, wie schon immer bei Tocotronic, für T-Shirt-Slogans ebenso taugt wie für ja, Diplomarbeiten. Der grandios unromantische Text von „Haft“ („Ich hafte an dir / wie eine Zecke / an einem Tier“) bildet einen hübschen Gegenpol zu „Chaos“ oder „Zucker“, und natürlich vergessen Tocotronic bei aller Liebe die Außenwelt nicht („Sie irren“, „Solidarität“). Von Lowtzow hat seine Form der Deklamation/Prononcierung (Gesang ist es ja nicht wirklich) im Lauf der Jahre perfektioniert und stilisiert – mit dem wütenden jungen Dirk, der gekommen war, um sich zu beschweren, hat das nicht mehr viel zu tun, und das ist auch ok so.

tocotronic-ChronikenBis hier ging es um die Worte, was ist mit der Musik? Die ist konsensfähiger als die Texte, New Order- und The Smiths-Gitarrenläufe prägen die Melodien, die zeitlos und schön, aber auch ohne Wagnis und Reibung sind. Das ist nicht schlimm, kein bisschen, und macht die Platte zu etwas Fantastischem, Paradiesischem, sprich Nicht-Realem. Aber das ist es ja, was Tocotronic wollen: Anti-Authentizismus, Weltflucht, Antirealismus. Auch in der Revolution. Bin ich dabei.

Die Chroniken kann man trotz ihrer Opulenz knapp abhandeln: Fan-Merchandise, akribisch kuratiert und kommentiert. Es gab vor Jahren schon mal ein Buch namens „This Book is Tocotronic“, aber das war ein Blender, DIESES Buch ist Tocotronic, und zwar von damals bis jetze, wie es bei den Ärzten heißen würde. Wer alle maßgeblichen Zeitungsberichte ab 1993, plus tausende Fotos (live, backstage, im Studio und sonstwo), Devotionalien, Aufnäher, Poster, Flyer, Setlists etc.pp. angucken und mit der eigenen Sammlung abgleichen will, braucht dieses Buch, das perfekt zum letztjährigen, monströsen Depeche-Mode-Coffeetable-Book passt. Das Buchcover ist auch nicht von Malewitsch, sondern Rot mit Goldrand, und wer mir schreibt, auf welcher Seite Arne Zank mit Tote-Hosen-Shirt abgebildet ist, dem singe ich „Rebel Boy“ durchs Telefon.

Christina Mohr

Tocotronic: Das Rote Album (Rock-o-Tronic/Universal).
Martin Hossbach, Jens Balzer (HG): Die Tocotronic Chroniken. Gebunden. Blumenbar/Aufbau, 2015. 384 Seiten. 49,90 Euro.
Ausgiebige Tour ab Sommer 2015, Termine auf tocotronic.de

Tags : , ,