Im dritten und letzten Teil ihres Sampler-Specials hat Frau Mohr in dieser Woche mit jeder Menge Material zu kämpfen…
Überbordende Materialfülle
Wer glaubt, dass es in der goldenen Ära des Rock’n’Roll nur Platten von männlichen Musikern wie Buddy Holly, Eddie Cochran, Bill Haley und Chuck Berry gab, wird vom Londoner Label Fantastic Voyage eines Besseren belehrt. Auf der zweiten Ausgabe der Compilation-Reihe „Girls Gone Rockin’“ befinden sich wieder 75 Songs (!) auf drei CDs (!!), darunter viele rare Stücke aus den frühen fünfziger Jahren wie zum Beispiel „Rock-A-Bye-Boogie“ vom Country-Rock’n’Roll-Duo The Davis Sisters oder „Jim Dandy Got Married“ von LaVerne Baker. „Girls Gone Rockin‘ 2: Let’s Have A Party“ zeigt allein durch die enorme Materialfülle, dass es schon IMMER Sängerinnen und Musikerinnen gab, die das Rocken und Rollen nicht den Jungs überlassen wollten.
Die Bandbreite reicht dabei von niedlichen Rockabilly-Lolitas wie Bonnie Lou („Little Miss Bobby Sox“) und Bette McLaurin („Petticoat Baby“) bis zu extrem selbstbewussten, starken Frauen mit expliziten Lyrics: Ann Cole („Got My Mojo Working“), Dorothy Ellis mit „Drill, Daddy, Drill“ und Debbie Stevens mit „If You Can´t Rock Me“ lassen keine Fragen offen, was sie von den Männern erwarten. Mit Etta James, Eartha Kitt, Ruth Brown und Georgia Gibbs sind einige der großen schwarzen Blues-Stimmen an Bord; Brenda Lee („Dynamite“) und Wanda Jackson („Let´s Have A Party“) gehören zu den kommerziell erfolgreichsten Sängerinnen der Compilation. Das schicke Digipak mit umfangreichem Booklet inklusive vieler Fotos und Linernotes ist großer Partyspaß und längst fälliger Nachhilfeunterricht in Sachen Frauen und Rock’n’Roll in einem.
Girls Gone Rockin‘ 2: Let´s Have A Party. 3 CD-Boxset. Fantastic Voyage (Rough Trade). Zur Label-Homepage
Mehrteilige Musikhistorie
Auch wenn die Labelgruppe Future Noise Music heißt, sind die Unterlabels Fantastic Voyage und Year Zero hauptsächlich dem Stöbern in der Vergangenheit verpflichtet, siehe „Girls Gone Rockin’“. Für Year Zero hat der renommierte britische Musikjournalist Kris Needs bereits die beiden Compilations „Dirty Water 1 + 2“ zusammengestellt, die sehr aufschlussreich „The Birth of Punk“ herleiten und erklären. Needs‘ großes Talent besteht darin, nicht nur die naheliegendsten Songs zu koppeln: er stellt das für so eindeutig kategorisierbar gehaltene Genre auf den Kopf und schlägt verworrene Seitenpfade ein, um dann zu einem durchaus vieldeutigen Schluss zu kommen. Sehr empfehlenswert. Derzeit brütet Kris Needs über seiner neuen Samplerserie „Watch The Closing Doors“, die sich dem musikalischen Erbe New York Citys widmet.
„Musikalisches ERBE???“, mag sich jetzt so manche/r fragen, denn schließlich gilt NYC auch heute als popkultureller Hotspot, gerade im musikalischen Bereich. Kris Needs sieht das anders. Er befürchtet, dass die kreative Hochphase New Yorks bald Geschichte sein wird, dass es bereits an der Zeit ist, die musikalischen Errungenschaften dieser Stadt zu archivieren und katalogisieren, auf dass die Rolle New Yorks im globalisierten Gedächtnis nicht untergehe. Musikern wie Martin Rev (Suicide) und Kid Creole teilen Needs‘ pessimistischen Blick: sie betrauern den Unterrgang des kreativen Schmelztiegels New York und beklagen, dass vor allem Manhattan zu einer Insel der Superreichen wird, auf der Künstler und andere arme Schlucker keinen Platz mehr haben. Nachzulesen im fetten Booklet (72 Seiten!) zu „Watch The Closing Doors Vol. 1“, das von Kris Needs bewusst als historisch-audiophiler Nachlass konzipiert wurde.
Auf den zwei CDs, die die Jahre 1945 – 1960 abdecken, befinden sich Jazz-Granden wie Duke Ellington („Take the ‚A‘ Train“), Cab Calloway, Miles Davis, Thelonious Monk und Charles Mingus, Experimentalkünstler John Cage, Beat-Poet Allen Ginsberg mit seinem berühmten Gedicht „Howl“, große Stimmen wie Nina Simone und Billie Holiday und Combos wie die Paragons, Honeycones und The Ember, die Needs‘ geschätzter Meinung nach den typischen New York-Sound definiert und geprägt haben, der auch heute noch nachhallt. „Watch The Closing Doors“ ist mehr als „nur“ eine geschmackvolle Zusammenstellung pophistorisch wichtiger Musik. Die Compilation erzählt Geschichten und macht sehr neugierig auf die hoffentlich bald folgenden Fortsetzungen.
Watch The Closing Doors. A History of New York´s Musical Melting Pot Vol. 1: 1945 – 1960. 2 CDs. Year Zero (Rough Trade). Zur Label-Homepage
Wohlfühlen mit…
Das Konzept der „Coming Home“-Compilations ist vergleichbar mit den bei K7! erscheinenden DJ-Kicks: renommierte Künstler/DJs/Musiker stellen einen Mix zusammen, der den Eindruck eines DJ-Sets vermitteln soll. Was man beim Hören der Sampler machen soll, sagen die Reihentitel: DJ-Kicks = tanzen, Coming Home = sich wohl und zu Hause fühlen. Da ja nun jeder etwas anderes tut, wenn er/sie nach Hause kommt, sind stilistische Divergenzen bei „Coming Home“ nicht nur erwartbar, sondern vom Label ausdrücklich erwünscht.
DJ Hells „Coming Home“-Kopplung etwa besteht aus deutschsprachigen Liedern von Hildegard Knef über DAF und Blumfeld, Songs über Deutschland wie „Berlin“ von Fischer Z, und aus Deutschland stammenden KünstlerInnen wie Klaus Nomi, Nina Hagen und Kraftwerk. Auch ein Ansatz…
Das Berliner Producer- und DJ-Kollektiv Jazzanova dagegen kompiliert weniger patriotisch: Alexander Barck, Claas Brieler, Stefan Leisering, Axel Reinemer und Jürgen von Knoblauch sind ja nicht nur viele Leute, sondern haben zudem recht unterschiedliche Geschmäcker. Folgerichtig ist Jazzanovas „Coming Home“-Ausgabe bunt gemischt, das aber mit ausgesuchten Zutaten. Beim Hören fühlt man sich, als wäre man in einer sehr stilvoll eingerichteten WG zu Besuch.
Los geht´s mit Arthur Russell´s „That´s Us/Wild Combination“ als programmatischem Einstieg. Darauf Songs wie „It´s So Different Here“ von Rachel Sweet, die 1978 als 16-Jährige für ganz kurze Zeit einen kleinen Hype erlebte; The Roots mit „How I Got Over“, Bodi Bill mit „Tip Toe Walk“ , „Dancing In The Dark“ von der wunderbaren Tracey Ullman, „Lost Where I Belong“ von Andreya Triana und Jamie Cullums „If I Ruled The World“. Also Musik aus dem kuschligweichen (Ent-)Spannungsfeld von Pop, Soul und Folk – aber immer mit einem kleinen Twist, der die Songs gar nicht erst in den Ruch des allzu Gefälligen kommen lässt. Zu den Jazzanova-Jungs kann man ohne Bedenken nach Hause mitgehen: die wollen wirklich nur ihre Plattensammlung vorführen!
Jazzanova Coming Home. Stereo Deluxe (Warner). Zur Homepage von Jazzanova
…was es sonst noch alles gibt:
Compilations, die eigentlich etwas anderes verkaufen sollen als nur Musik.
Der Begriff „Sommermädchen“ wurde in diesem Jahr für die despektierlich-diminuitive Berichterstattung über die weibliche Fußball-Nationalmannschaft erfunden. „Sommermädchen“ gab es plötzlich überall zu sehen: in schrottigen Reality-Soaps, auf großbuchstabigen Tageszeitungen und als Titel einer Hit-CD einer großen Plattenfirma. Aber auch coolere, nicht-mainstreamige Labels schmücken sich mit „Sommermädchen“: Cargo Records macht aus ihnen eine Promo-Aktion; Alben von Frauenbands wie den Dum Dum Girls, La Sera oder Lia Ices sind derzeit zum Sonderpreis zu haben, der gekauften CD liegt ein Downloadcode bei, mit dem man die Compilation „Sommermädchen“ runterladen kann. Drauf sind Stücke von so unterschiedlichen Sängerinnen wie Edith Piaf, Marlene Dietrich, Missincat und Little Scream – es gibt keinen roten Faden, die Cargo-Sommermädchen sind als nettes Mixtape gedacht, das man gerne als Add-on zur erworbenen CD mitnimmt. Die Aktion läuft noch bis zum 16.9.2011.
Die Comicfigur Rebella hingegen ist ein reines Merch-Produkt: kreiert von findigen Marketingleuten des Augsburger Coppenrath-Verlags (Die Spiegelburg). Rebella wurde für Mädchen konzipiert, die für Felix den Hasen und Prinzessin Lilifee mittlerweile zu groß, aber auch noch keine Frauenzeitschriften-Klientel sind. Coppenrath/Spiegelburg lässt seine kleinen KundInnen allerdings nur ungern weiter ziehen, also musste Rebella her mit all ihren Zopfspangen, Umhängetaschen, Aufklebern, Ohrringen, abwaschbaren Tattoos, Schreibblöcken, Kulis, Gürteln, Büchlein, etc. pp. Und es scheint zu funktionieren: es gibt den Rebella-Club (for Girls only, na klar!), eine Kooperation mit der Zeitschrift Mädchen und vieles mehr wie zum Beispiel den unlängst veröffentlichten Sampler „Good Songs For Bad Girls!“.
Rebella transportiert ja schon durch ihren Namen, dass sie wilde, unangepasste Mädchen ansprechen soll – zualleroberst steht aber natürlich die Verkäuflichkeit der Marke Rebella, weshalb das schwarzhaarige Comic-Girlie mit angesagtem Totenkopf-Motiv auf dem Minirock keine direkte Nachfahrin von Riot Grrrls wie Kathleen Hannah (Bikini Kill/Le Tigre) ist und erst recht kein Update der Oldschool-Freigeistin Pippi Langstrumpf. Rebella ist ein halbgares Rip-Off aus Emiliy the Strange und namenlosen Manga-Mädchen, optisch angereichert mit Gothic-, Emo-, Mystery- und sonst irgendwie geheimnisvoll und modisch-düster wirkenden Elementen wie schwarzen Katzen, Fliegenpilzen, Nachtfaltern, Schlüsseln und Eulen. Grundfarbe der Rebella-Website und der Verlagsvorschauseiten ist dennoch selbstverständlich pink, sonst könnten die kleinen Mädchen ja gar nicht erkennen, dass Rebella für sie erschaffen wurde. Man könnte noch seitenweise über Rebellas Look und Attitude sinnieren, aber wir wollten ja die Rebella-CD vorstellen: Die wurde genauso unausgegoren und unentschlossen zusammengebastelt wie das Coppenrath’sche Strichmädchen: von Lady Gaga über Rihanna, Katy Perry, Lena, Unheilig, Killerpilze, Juli, Justin Bieber, Luxuslärm und Aura Dione wurden hier Tracks versammelt, von denen man wohl ausgeht, dass sie Mädchen zwischen neun und vierzehn Jahren schon gefallen werden. Denn wenn Rebella auf dem Cover ist, gibt es ja keinen Zweifel, die CD ist gekauft! Ach ja, der gute alte Kapitalismus…
Sommermädchen. Nur als Download. Cargo.Zur Label-Homepage.
Rebella: Good Songs For Bad Girls! Vol. 1. Coppenrath (Universal). Zur Rebella-Homepage