Geschrieben am 1. Juni 2011 von für Musikmag

Mohr Music: Lady Gaga

Aber warum nur?

Manchmal ist es von Vorteil, sich nicht sofort und ohne jeden Verzug auf neue Erzeugnisse der Musikindustrie zu stürzen, sondern ein paar Tage ins Land ziehen zu lassen, bevor man sich äußert. Abwarten, bis sich die aufgewirbelte Staubwolke gelegt hat und man wieder klar sehen kann. Im Fall von Lady Gaga und ihrem zweieinhalbtem Album „Born This Way“ (die EP „Fame Monster“ mitgezählt) ist diese Haltung besonders hilfreich, so konnte man eine ganze Reihe ausführlicher Zeitungsartikel auf sich wirken lassen, in denen gestandene Musikkritiker(innen) auf elaborierte Weise versuchen, das Phänomen Gaga zu verstehen, zu erklären oder anzupreisen.

Das wäre allerdings gar nicht nötig gewesen, denn das Album verkauft sich ohnehin gigantisch gut. Die US-amerikanische Amazon-Seite brach wegen des Ansturms auf den 99-Cent-Download von „Born This Way“ zusammen und war stundenlang nicht aufrufbar. In den „normalen“ Albumcharts rangiert „Born This Way“ sowieso ganz oben. Ob sich alle Käufer(innen) das Album auch anhören, kann ja nicht nachgeprüft werden, aber man ist gut beraten, die CD in der Verpackung zu belassen und sich einfach nur Nick Knights Fotos im Booklet anzugucken. Mit „Born This Way“ verhält es sich wie mit Blockbuster-Filmen: alle Welt redet darüber, und will man nicht dumm daneben stehen, heißt es Eintritt zahlen, um sich selbst ein Bild/einen Ton machen zu können.

Das kann zu herber Enttäuschung führen: Dass der Spiegel-Rezensent „Born This Way“ als „phantastische Popplatte“ bezeichnet und Einflüsse von Klaus Nomi bis Bruce Springsteen ausmacht, kann nur als trotziger Versuch gelesen werden, auf gar keinen Fall als vorgestriger Kritik-Spießer dastehen zu wollen. Der große DD (Diedrich Diederichsen) nennt zumindest an einer Stelle seines Gaga-Artikels die Dinge beim Namen: „Nur die Musik nervt halt.“ Und so ist es auch: Typisch amerikanische Stadion-Rockhymnen treffen auf trashigen, unsensiblen Baller-Techno mit endlos auf- und abschwellenden Fiep-Fanfaren, vierzehn verdammte Stücke lang (plus ein Remix von „Born This Way“) die reine Soundfolter. Wir wollen nicht verschweigen, dass „Born This Way“ gute Momente hat, die Gagas Qualitäten als Top-Popmusikerin und -sängerin offenbaren: im Opener „Marry The Night“ etwa breitet La Gaga die ganze umwerfende Donnerkraft ihrer Stimme aus, wow, beeindruckend! Aber warum sie aus dem Disco-Diva-Stück eine klebrige Powerhymne im Stile schrecklicher Achtzigerjahre-Soundverbrechen macht, ist nicht nachvollziehbar. Gaga, die für alle Songs verantwortlich zeichnet, sich also nicht wie viele ihrer Mitbewerberinnen zum Producer-Singepüppchen macht, komponiert konventionell – die Songs sind in Struktur, Aufbau und Melodieführung ziemlich vorhersehbar, was durch die pompöse Ausstattung noch hervorgehoben wird. Gagas erstes Album „Fame“ war in dieser Hinsicht nicht anders, zeichnete sich aber durch sehr schlauen Humor aus.

Vor drei Jahren war Gaga die ironische Kommentatorin einer durchgedrehten Branche, die Songs auf „Born This Way“ wirken stellenweise erschreckend ernsthaft, beziehungsweise wie schlechte Scherze, die auf guten Ideen basieren und dann total aus dem Ruder laufen. Da Lady Gaga und ihr High-Class-Mitarbeiterzirkel wohl kaum nur zum Quatschmachen ins Studio gehen, muss man von voller Absicht ausgehen.

Was soll das?

Aber warum nur, warum tut sie uns, den ihr im Grunde Wohlgesonnenen, das an? Warum beginnt „Judas“ so verheißungsvoll krass-kompromisslos und morpht dann zu Langweiler-Dorfdisco-Techno, der noch nicht einmal beim Eurovision Song Contest eine Chance hätte? Was soll dieser Hispano-Rip-Off bei „Americano“ und wie, bitte wie, soll man den prima Text von „Hair“* mitsingen, wenn die Musik so klingt, als hätten sich Heart („All I Wanna Do Is Make Love To You“ – würg) reanimiert?

Gaga at her best ist „Scheiße“, ihre von Berlin-Aufenthalten inspirierte Verballhornung der deutschen Sprache – Scheiße be mine, wirklich super. Auch der zähfließende Club-Groove von „Bloody Mary“ zeigt, wie toll es im House of Gaga zugehen könnte, aber zack, schon brettert mit „Bad Kids“, „Highway Unicorn“, „Heavy Metal Lover“ und „Electric Chapel“ derart erbarmungsloser Ballermann-Eurostampf aus der Anlage, dass man sehr froh ist, wenn nach der Hardrockpersiflage „The Edge Of Glory“ und einem Remix von „Born This Way“ endlich, endlich Schluss ist. Wozu der ganze Aufwand mit den Designer-Kostümen, spektakulären Shows, den teuren Videos von Jon Akerlund und Nick Knight, wenn das beworbene Produkt, also die CD, so unerträglich ist? Oder gar sein soll? Gehört die Schrottmusik zu Gagas übergeordnetem Plan, der Weltherrschaft durch sonische Betäubung?

Gagas Trash-Offensive will alle abholen bzw. überwältigen, vom Kleinkind über den Fashion-Hipster bis zum Rock-Opa, der auf „handgemachte“ Musik steht: für ihn hat Gaga in zwei Songs Clarence Clemons, den Saxofonisten von Bruce Springsteens E-Street-Band und Queen-Gitarrist Brian May eingeladen, womit sie den Bogen zu ihrem Künstlernamen schlägt: sie benannte sich nach dem Queen-Hit „Radio Gaga“.

Die Diskrepanz zwischen Gagas hypermodernen, hyperrealen Outfits, ihrer Selbstverortung in Kunstkontexten, ihrem Engagement und Empowerment für Freaks aller Art und der Bravheit vieler ihrer Songtexte überrascht. Zudem kommt sie als echtes American girl nicht ohne Gott aus: „I´m beautiful in my way / ‚Cause God makes no mistakes“ heißt es in „Born This Way“, das laut Popkritiker Jon Savage Gloria Gaynors „I Will Survive“ als Schwulenhymne ablösen wird – ob Gott das gefallen wird, wissen wir nicht, aber die Chancen dafür stehen gut, denn weil „Born This Way“ fast exakt so klingt wie Madonnas „Express Yourself“, kann man davon ausgehen, dass sehr viele Menschen diesen Song mitschmettern können.

An dieser Stelle soll keine öde Authentizitäts- und Originalitätsdebatte aufgewärmt werden: dass „Born This Way“ so dicht an „Express Yourself“ gebaut ist, kann schließlich auch als Verbeugung vor der Übermutter des Performance-Pop gesehen werden. Nur mutet es bei einer Künstlerin, die mit jeder ihrer Äußerungen, Auftritte und Kostümierungen die Einzigartigkeit des Individuums feiert, recht seltsam an, dass Madonna immer wieder als Matrix, Schatten oder Abarbeitungsmodell durch Gagas Musik geistert – siehe auch Gagas „Judas“ als späte Fortführung von „Like A Prayer“.

Könnte passieren, dass Lady Gaga im Mahlstrom der Verweise, Zitate und Hommagen verloren geht… Gaga sagt, dass sie kein Interesse daran hat, dass ihre Fans sie als „echten Menschen“ kennen lernen. Das ist eine sehr kluge Haltung im bodysnatchenden Popgeschäft. Guckt man sich allerdings den Livemitschnitt von Gagas Auftritt in Toronto an, wo sie die zehnjährige Maria Aragon auf die Bühne holt und mit ihr „Born This Way“ am Piano singt, ist man vollends verwirrt.

Das ist nicht das hybride Menschmaschinenwesen vom Albumcover, kein Freak im Fleisch-Kleid auf gläsernen Penis-Absätzen und nicht das tanzende Skelett mit „Zombie Boy“ Rick Genest. Sondern eine verdammt gute Sängerin mit großem Herzen. Auch das noch, jetzt kommt Lady Gaga sogar total sympathisch rüber, was machen wir denn jetzt? Am besten nicht mehr so viel über ihre Musik oder Gagas Bedeutung für Mode, moderne Kunst und die Schwulen- und Lesbenbewegung nachdenken, sondern einfach abwarten, siehe ganz oben. Denn irgendwann wird Lady Gaga die ganze Welt mit einer richtig guten Platte überraschen. Word.

Christina Mohr

Lady Gaga: Born This Way. Interscope (Universal).
Die Website der Künstlerin. Lady Gaga auf Myspace sowie bei Facebook.


* „I am my hair / I´m the spirit of my hair / It´s all the glory that I bear“ – jede/r, der/die schon mal mit seinen Eltern Zerwürfnisse wegen skandalöser Frisuren hatte, kann sich hier angesprochen fühlen.