Geschrieben am 11. Mai 2011 von für Musikmag

Mohr Music: Fast mäkelfrei

Christina Mohr hat für diese Ausgabe Platten gehört, die wenig eint, außer dass sie sich gemeinsam auf Frau Mohrs Schreibtisch wiederfanden und dass es an ihnen – mal mehr, mal weniger – kaum etwas auszusetzen gibt. Und das ist doch auch mal eine Gemeinsamkeit.

Wild Beasts: SmotherNichts aufschieben

„Wir hoffen, die Art Band zu sein, die es nicht geben sollte“, sagt Hayden Thorpe über seine Band Wild Beasts. Warum sollte es die Wild Beasts nicht geben? Weil es vier weiße Jungs aus Kendal/UK sind, die nicht auf testosterongesteuerten Gitarrenrock abfahren, sondern androgyne, polysexuelle, in jeder Hinsicht ambivalente Musik machen, die so schlüpfrig wie elegant, so künstlich wie authentisch ist? Morbidität und Wollust verschmelzen auf „Smother“ zu einem schimmernden Mollusken, den sich ehrliche Gitarrenrocker bestimmt nicht in die Tasche stecken wollen. Und Piano, Elektronik und Thorpes Falsettgesang passen ohnehin viel besser in samtausgeschlagene Darkrooms als auf Freiluft-Festivalbühnen.

Soll heißen: „Smother“ ist ganz und gar großartig, mindestens so gut wie das Vorgängeralbum „Two Dancers“, auf dem allerdings mehr Discoatmosphäre herrschte. Auf „Smother“ pulsen die Beats unterschwellig, aber drängend – was hier passieren soll, darf nicht aufgeschoben werden, denn, „End Come Too Soon“, wie es am Schluss der Platte heißt. Auch Songs wie „Lion´s Share“, „Bed Of Nails“ oder die Single „Albatross“ wissen um die Endlichkeit allen Daseins und fordern Sinnlichkeit und hemmungslosen Hedonismus umso glühender. Vergleiche mit Antony Hegarty liegen nahe und führen in die richtige Richtung, aber Wild Beasts begnügen sich nicht mit romantischer Verehrung des begehrten Subjekts/Objekts. „Smother“ sagt: „Reach A Bit Further“ und „Deeper“, „Plaything“ (alles Songtitel)! Eine Band, die es ganz unbedingt geben sollte und zum Glück ja auch gibt.

Wild Beasts: Smother. Domino. Die Website der Band. Wild Beasts auf Myspace und bei Facebook.

Mire Kay: FortressExperimentierlabor

Das Duo Mire Kay ist ein Nebenspross der schwedischen Frauenband Audrey: Emelie Molin (Cello, Keyboard, Gesang) und Victoria Skoglund (Gitarre, Gesang) haben sich aus ihrer Hauptband ausgeklinkt und erproben mit der 5-Track-EP „Fortress“, wie es mit ihnen als Zweierkiste läuft. Die Musik von Mire Kay klingt nicht grundsätzlich anders als das, was man von Audrey kennt: bittersüße Songs an der Schnittstelle von Dreampop, Postrock und Lo-Fi-Folk. Zu zweit trauen sich Emelie und Victoria aber instrumentell mehr zu, Cello und Kontrabass rücken ins Zentrum, es brummt und schwirrt und zirpt, aus Reduktion und Konzentration entsteht eine eigentümliche Spannung, die durch den beschwörenden Gesang noch verstärkt wird.

Die Stücke brauchen zwei, drei Durchgänge, bis sie sich richtig entfalten, doch dann bleiben sie fest in Ohr und Herz. „So You Learned“ ist ein verspielter Folksong, der Titeltrack dagegen wirkt mit seinem monotonen Tempo ziemlich unheimlich. Mire Kays Musik ist melancholisch und heiter zugleich, markiert Übergänge – vom Winter zum Sommer, vom Hellen ins Dunkle oder umgekehrt und vielleicht auch von der Band zum Duo. „Fortress“ ist kein Endpunkt, sondern Beginn, Spielwiese, Experimentierlabor. Man darf gespannt sein, wie es mit Molin und Skoglund weitergeht – und selbst wenn „Fortress“ keine Fortsetzung erfährt und Audrey wieder zur Hauptsache wird, haben Mire Kay zumindest fünf tolle Songs hinterlassen.

Mire Kay: Fortress. A Tenderversion Recording. Das Duo auf Myspace und bei Facebook sowie ihre Homepage. Weitere Informationen gibt es hier.

Yael Naim & David Donatien: She Was A BoyZu perfekt

Seit Yael Naim vor drei Jahren mit „New Soul“ einen Überraschungshit landete, der als Werbemusik für das Apple Macbook Air um die Welt ging, ist die in Paris geborene und in Tel Aviv aufgewachsene Tochter tunesischstämmiger Eltern so beliebt wie Norah Jones oder Katie Melua, und das mit Recht: Die polyglotte Sängerin mit dem hellen Sopran hat Talent, kann auf eine interessante Biografie verweisen und ist dazu höchst sympathisch. Musikalisch macht Yael Naim auch alles richtig – zumindest, wenn man auf den erwartbaren Erfolg ihrer neuen Platte blickt. Naim und ihr musikalischer Partner David Donatien ziehen auf „She Was A Boy“ alle Register, von softem Jazz über Pop mit orientalischen Anklängen, Beatles-Reminiszenzen, Blues, Folk und Rummelplatz-Schunkelmelodien ist für jede/n etwas dabei, mit Xylophon, Klarinette, Harmonium, Glockenspiel und Marimba wundervoll instrumentiert. „Stilistische Vielfalt“ wird solch ein breites Spektrum gerne genannt und es ist auch völlig in Ordnung, dass Yael Naim sich nicht auf ein einziges Genre festlegt.

Dennoch: „She Was A Boy“ ist ein bisschen zu perfekt, das Album wirkt wie ein fotogeshopptes Model. Die Grundlage ist sehr schön und Naim eine wirklich gute Sängerin, aber wie bei der heute üblichen nachträglichen Bildbearbeitung wurde aus den Songs alles herausgeschliffen, woran man sich festhaken könnte. Selbst das im Titeltrack angedeutete sensible Gender-Thema wird ganz behutsam und mainstreamkompatibel angepackt, damit es nicht weh tut. Ergebnis ist ein zeit-, ort -und gesichtsloses Produkt, das auch von den oben erwähnten Norah Jones und Katie Melua stammen könnte. „She Was A Boy“ wird Menschen gefallen, die Lady Gaga verachten, weil diese angeblich „zu künstlich“ ist. Wie „echt“ die Musik von Yael Naim ist, sei dahingestellt.

Yael Naim & David Donatien: She Was A Boy. Tot ou tard (Rough Trade). Die Website der Künstler. Yael Naim & David Donatien auf Myspace und bei Facebook.

Alessi´s Ark: Time TravelSehnsucht und Zuversicht

Hätte man der Rezensentin Alessi Laurent-Markes neues Album ohne jede Hintergrundinformationen vorgespielt, hätte sie gewettet, dass Künstlerin und Produktion aus den USA stammen. Aber nein, Alessi’s Ark kommt aus London, und „Time Travel“ wurde im Seebad Brighton aufgenommen. So kann man sich täuschen, denn Alessis zwölf zauberhafte neue Songs klingen, als wären sie in Conor Oberts/Bright Eyes‘ Wohnzimmer eingespielt worden. Diese Assoziation kommt allerdings nicht von ungefähr: Bright Eyes-Gitarrist Mike Mogis hat „Time Travel“ produziert und – bewusst oder nicht – für den sanften, aber unverkennbaren Countrytouch à la Nebraska gesorgt.

Aber es ist auch ganz egal, wo und mit wessen Producerskills Alessi´s Arks neue Platte entstanden ist, die Musik ist wunderschön, Alessis glockenheller Gesang sowieso. Den Opener „Kind Of Man“ und das trompetenuntermalte „Wire“ kann man gleich mitsingen, „Blanket“ schwelgt in traurig-tröstlicher Melancholie, in Songs wie dem melodiösen „On The Pain“, „Stalemate“ oder „The Fever“ geht Alessi zupackender zur Sache. Laurent-Marke webt aus 60s-Folk, Pop und Country einen nostalgischen Plaid, in den man sich von oben bis unten einwickeln will. Sehnsucht und unerschütterliche Zuversicht vermischen sich in diesem hübschen Album, das leider schon nach einer guten halben Stunde vorbei ist.

Alessi´s Ark: Time Travel. Bella Union/Cooperative Music (Universal). Die Band auf Myspace. Die Homepage von Alessi´s Ark.

Sade: The Ultimate CollectionKaum was zu mäkeln

Sades Musik hat viele von uns ein halbes Leben lang begleitet, und doch ist die britische Band ein großes Mysterium. Band? Genau, damit fängt das Mysterium schon an: Sade ist zwar nach Sade Adu benannt, im CD-Booklet aber steht: „Sade are Sade Adu, Andrew Hale, Stuart Matthewman, Paul S Denman“. So, jetzt hätten wir sämtliche MusikerInnen wenigstens einmal namentlich erwähnt, denn auch künftig wird man stets an die Sängerin Sade Adu denken, wenn man die Band Sade hört. Natürlich ist Sade Adu das unverzichtbarste Mitglied der Band, ihr makelloses Aussehen und ihre samtig-raue Stimme haben sich tief ins popkulturelle Gedächtnis eingegraben, obwohl sich Frau Adu so rar macht wie höchstens noch Kate Bush: keine Interviews für die Yellow Press, keine Modenschauen mit Designern, keine Kochshows im TV. Derartige Zurückhaltung kann offenbar karriereförderlich sein, schließlich ist das Interesse an Sade ungebrochen.

Das Comebackalbum „Soldier Of Love“ (2010) konnte an frühere Erfolge nahtlos anknüpfen, wenn auch durch die jüngst veröffentlichte Doppel-CD plus DVD „The Ultimate Collection“ klar wird, dass die schönsten Songs – wie so oft – zu Beginn der Karriere entstanden. „Your Love Is King“, „Hang On To Your Love“ und natürlich „Smooth Operator“ sind wundervolle, kostbare akustische Perlen auf Seide gebettet. Sades unverwechselbare Mixtur aus sanftem Jazz und Pop und Sade Adus Gesang, immer ein wenig traurig und sehnsüchtig, bildete den perfekten Soundtrack für die stilversessenen mittleren 1980er-Jahre. Im Lauf der Zeit veränderten Sade ihren Sound nur minimal: in den Neunzigern litt Sades Musik ein wenig unter Ideenstillstand, bei den jüngeren Stücken kann man immerhin Trip-Hop-Einflüsse ausmachen. Gewiss haben Sade langweiliger Lounge- und Barmusik den Boden bereitet, doch wer möchte angesichts der „Ultimate Collection“ schlecht gelaunt herummäkeln? Ok, „Cherry Pie“ fehlt in der Sammlung, und das Video zu „Smooth Operator“ sucht man auf der DVD vergebens. Dafür gibt es zeitgemäße Remixe von Jay-Z („The Moon And The Sky“) und den Neptunes („By Your Side“).

Sade: The Ultimate Collection. 2 CDs + DVD. Sony. Die Band auf Myspace und bei Facebook sowie die Website von Sade.

Vivian Girls: Share The JoyVivian Girls: Share The Joy

Ihre Ecken und Kanten glattgebügelt und damit auch ein wenig von ihrem ungeschliffenen Garagencharme eingebüßt haben die Vivian Girls aus Brooklyn, NYC. Nun kann man eine Band nicht ernsthaft dafür verurteilen, dass sie an den Instrumenten besser geworden ist – Sängerin/Gitarristin Cassie Ramone, Bassistin Katy Goodman und die neue Schlagzeugerin Fiona Campbell (Ersatz für Frankie Rose) haben unüberhörbar an ihren Skills gefeilt und wagen sich auf „Share The Joy“, ihrem dritten Album und Debüt für Polyvinyl, sogar an Stücke, die länger als sechs (!) Minuten dauern. Die Punk-Wurzeln hört man nur noch selten heraus: Cassie klingt manchmal wie eine weniger aggressive Courtney Love, ab und zu rumpelt Fiona heftig-trashig an ihren Drums. Trotzdem bezeichnet „Share The Joy“ keinen Stil- oder Imagewechsel, die Vivian Girls beackern unbeirrt ihr Feld des nostalgischen Girlgroup-Garagenbeat-Shoegaze-Pop.

Das hört sich oft ganz wunderbar und berückend an, Songs wie „Dance (If You Wanna)“ oder „Take It As It Comes“ machen klar, warum die Vivians einen wahren Girlband-Boom mit den Dum Dum Girls, Peggy Sue, The Babies und anderen hervorriefen. „Aaha-haa“-Chöre und Schellenkränze lassen die Sixties aufleben, abgeschmeckt mit einer Prise Blondie zu deren Anfangstagen. Doch in all der Schönheit lauert das Gespenst des Stillstands: Auch wenn sich die Vivian Girls in „Death“, „Trying To Pretend“ oder „Vanishing Of Time“ ungewohnt düsteren Themen widmen, lässt sich nicht verheimlichen, dass die musikalische Beschwörung der Vergangenheit nur bedingt revolutionäres Potential birgt. Wenn sie nicht zur reinen Nostalgie-Band verkommen wollen, müssen sich die Vivian Girls fürs vierte Album etwas einfallen lassen.

Vivian Girls: Share The Joy. Polyvinyl (Cargo). Die Künstler auf Myspace und bei Facebook. Die Website der Vivian Girls.

Austra: Feel It BreakSéance

Alle Welt redet über das Goth-Revival, New Industrial, Witch House, Zombie Rave, Slo Wave, Dark Disco und dergleichen. Vieles davon ist, mit Verlaub, unhörbar und muss als Fingerübung internetabhängiger Frickelfreaks abgehakt werden. Ob aber Witch oder Slow: seit einiger Zeit geistert der Sound der 1980er-Jahre so stilecht durch viele neue Platten, dass man zuweilen aufs Produktionsdatum gucken muss, um sich nicht zu blamieren. Das schleimige Duo Hurts aus Manchester ist mit seinem epigonalen Elektropop irre erfolgreich, andere Acts wie Zola Jesus orientieren sich mehr an der Indie-Variante der Achtziger und huldigen Siouxsie and the Banshees und The Cure. Auch Katie Stelmanis, Leadsängerin der queeren kanadischen Band Austra, schöpft aus dem Erbe Depeche Modes und New Orders: Die elf Tracks auf ihrem Album „Feel It Break“ zeichnen sich durch hypnotische Synthie-Melodien, grummelnde Bässe, Beats wie Peitschenschläge und verzögertes Tempo aus. Stelmanis engelsgleiche, operngeschulte Stimme macht aus dem Album eine Séance, nach der man erstmal wieder auf irdischen Boden zurückfinden muss.

Austra gehen mit heiligem Ernst zur Sache, Songs wie „Spellwork“ oder „Lose It“ wirken, als wäre Joni Mitchell 1982 in einem Londoner Gothic-Club wie dem Bat Cave gelandet und dort auf die Bühne gestellt worden. Die vorab veröffentlichte Single „Beat And The Pulse“ ist allerdings das beste Stück des Albums, die perfekte Mischung aus spooky Atmosphäre und verführerischer Coolness gelingt Austra leider nicht allzu oft.

Austra: Feel It Break. Good To Go (Domino). Die Homepage des Duos. Die Künstler bei Facebook sowie auf Myspace.

Christina Mohr