Geschrieben am 20. März 2013 von für Musikmag

Mohr Music: Die hedonistische Woche mit David Bowie, Karl Bartos, Daughter und Justin Timberlake

Foto: Christina Mohr

Foto: Christina Mohr

Gepflegter Vollsuff

– Die vergangene Woche war für uns alle nicht leicht. Zuerst sorgte der viele Schnee für Unmut und ließ so manche/n den erneuten Wintereinbruch lautstark beklagen – was bei Licht betrachtet ziemlicher Unsinn ist, denn es geht jahreszeitenmäßig voll in Ordnung, wenn es im März noch schneit. Und nur, weil während der Leipziger Buchmesse 2012 herrlichster Sonnenschein die Cosplayer ins Schwitzen brachte, konnte keinesfalls davon ausgegangen werden, dass es in diesem Jahr genauso sein würde, weshalb die Verfasserin dieser Zeilen gleich ganz zu Hause blieb (und die nach Leipzig Gereisten selbstredend beneidete, Wetter hin oder her).

Verbrachte man allerdings zu viel Zeit zu Hause (wie die Verfasserin dieser Zeilen) konnte man den Eindruck gewinnen, es sei tatsächlich von weltumfassender Bedeutung, dass ein neuer Papst gewählt worden war. Herrje, welch ein Brimborium: Liveberichterstattung, TV-Diskussionen und gefühlte 28 Wahlgänge, deren Bergkreißen einen aus Argentinien stammenden jesuitischen “Revolutionär“, smarte 76 Jahre jung, hervorbrachte, unter dessen Ägide sich die katholische Kirche genauso stark wandeln wird wie unter dem „deutschen Intellektuellen“ davor, also gar nicht.

21 trinkfeste und des Schreibens noch mächtige AutorInnenVerschiedene_Das Ende der Enthaltsamkeit

Am besten erging es einem daher in KW 11, wenn man ordentlich trank. Heißen Tee oder Kakao, versetzt mit Hochprozentigem. War man dann noch in der Lage zu aufmerksamer Lektüre, empfahl sich dieser Band besonders: „Das Ende der Enthaltsamkeit“, eine in „sieben Zirkeln des Golems“ aufgeteilte Lobrede des Trinkens, eine Streitschrift des gepflegten Vollsuffs, eine Apologetik des eleganten Untergangs. 21 trinkfeste und des Schreibens noch mächtige AutorInnen, die einander aus der Hamburger Bar „Golem“ kennen oder auch nicht, sind hier versammelt.

Tino Hanekamp, Dirk von Lowtzow, Heinz Strunk, Thomas Ebermann, Georg Seeßlen, Hermann Gremliza, Oline Brandes, Nis-Momme Stockmann, Jens Rachut und viele mehr fabulieren über den Rausch an sich, entwerfen realistische Einakter und simulieren den eigenen Verfall vor den Augen der Eltern. Abgerundet wird dieses hedonistische Pamphlet praktischerweise mit sechzehn Cocktailrezepten wie z. B. für Old Cuban und Mint Collins, die auch der eisernsten Abstinenzlerin den letzten guten Vorsatz aus dem Hirn ballern. Unbedingt empfehlenswert.

Das Ende der Enthaltsamkeit: Über Bars, Cocktails, Selbstermächtigung und die Schönheit des Niedergangs. Edition Nautilus 2013. Gebunden mit Lesebändchen. 192 Seiten. 19,90 Euro. Zur Homepage des Verlags.

David Bowie_The Next DayDavid Bowie: The Next Day

Lesen allein hilft auch nicht weiter, sondern macht oft genug alles nur schlimmer. Zum Glück erschien in den letzten Wochen jede Menge vielversprechende neue Musik, der man sich widmen konnte. Am Prominentesten darunter natürlich David Bowies erstes (insgesamt 30.) Album nach zehn Jahren Plattenpause – man hatte nicht wirklich damit gerechnet: Bowie trat zwar mit Bands wie TV on the Radio und Arcade Fire auf, es gab aber keine Hinweise auf neue Songs.

Exakt an seinem 66. Geburtstag am 8. Januar veröffentlichte Iso/Columbia Records die Single + Video “Where Are We Now?”, eine unverhohlen nostalgische Referenz an Bowies Jahre in Westberlin. Dass ungefähr zeitgleich ein Album von einem anderen Part-time-Berliner (Nick Cave) erschienen war und kurz zuvor Wolfgang Müllers sehr persönliches Underground-Kompendium “Subkultur Westberlin” im Verlag philo fine arts, führte zu einem bis dato noch nie erlebten Westberlin-Hype im Feuilleton.

Diedrich Diederichsen befasst sich in seinem Bowie-Artikel für die Süddeutsche Zeitung auch mit Westberlin, schreibt aber vor allem umfassend über Bowies verschiedene Erscheinungsformen der letzten fünf Jahrzehnte wie z. B. den dünnen weißen Herzog oder den Harlekin vom „letzten guten Album“ (Zitat DD) „Scary Monsters“ von 1980, sodass im Grunde eigentlich alles gesagt ist über „The Next Day“.

Andererseits soll man sich ja nicht ins Bockshorn jagen lassen von den elder statesmen des Pop, und deshalb erlaube ich mir doch ein paar Bemerkungen. Zuerst eine ganz pragmatische: nicht alle siebzehn Songs (vierzehn + drei Bonustracks) am Stück hören, auch nicht mit flüssiger Unterstützung in Gestalt eines guten Barolo o. ä. Sonst lässt die Aufmerksamkeit nach, was schade wäre, denn „The Next Day“ ist richtig gut, auch wenn (oder weil) sich Bowie hemmungslos selbst zitiert, kopiert und keinen Zweifel daran lässt, zu welcher Zeit er sich am Besten fand: nämlich 1977, als er in Westberlin lebte und „Heroes“ aufnahm, jenes Album, das sogar das Covermotiv der aktuellen Platte stellt – nur wenig kaschiert durch ein weißes Quadrat, in dem der Albumtitel prangt. Auch auf der Rückseite erkennt man noch die Songs und Mitmusiker (wie Robert Fripp, der allerdings 2013 nicht zur Verfügung stand).

Zu Bowies „Berlin Trilogy“ gehören aber noch die Alben „Low“ und „Lodger“, das zwar nicht mehr in Berlin aufgenommen wurde, aber dennoch die späten 1970er in dieser Stadt miteinbezieht. „The Next Day“ klingt stellenweise rauh und direkt, hat nichts mit Bowies Mainstream-Hochphase à la „Let´s Dance“ zu tun, erinnert eher an frühere Stücke wie „Suffragette City“ von 1972 („Ziggy Stardust“) oder „Beauty And The Beast“ vom „Heroes“-Album. Stimmlich nähert sich Bowie Scott Walker an, was dem Album eine düstere, stellenweise unheimliche, stets aber im positiven Sinn befremdliche/entfremdete Stimmung gibt: „I don´t know who I am“ raunt Bowie, oder „Mud Mud Mud“; im Booklet verschmelzen alle Textzeilen zu einem großen lyrischen Epos, nicht durch Titelkennzeichnungen voneinander getrennt.

Es wäre aber falsch, „The Next Day“ ein apokalyptisches Spätwerk zu nennen, das keine Zukunft mehr sieht – die Energie Bowies und seiner Band (wieder dabei: Gitarristin und Bassistin Gail Ann Dorsey, die schon bei „Under Pressure“ zu hören war) sprechen eine andere Sprache. Schroffe Rockriffs und die kaum glättende Produktion Tony Viscontis machen das Album zu einem aus der Zeit gefallenen 1960/70er-Klangmeteoriten, der sich erstaunlich gut in der Jetztzeit behauptet. Und – hier müssen wir Diedrich Diederichsen einfach Recht geben –  David Bowie sieht in seinen neuen Videos einfach fantastisch aus.

David Bowie: The Next Day. Sony. Zur Homepage.

Karl Bartos_Off the RecordKarl Bartos: Off the Record

Und weiter geht’s: Karl Bartos war in von 1978 bis 1990 der zweite von links bei Auftritten von Kraftwerk. Im Studio ist er maßgeblich an der Entwicklung von Stücken wie „Die Roboter“, „Taschenrechner“, „Tour de France“ oder „Computerliebe“ beteiligt. 1990 verlässt er die legendäre Elektronikband, um sich anderen Projekten zu widmen, z. B. arbeitet er am zweiten Album von Electronic mit, produziert OMD und Deine Lakaien; überdies wird er Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin und begründet den Studiengang „Sound Studies – Akustische Kommunikation“.

Für das Album „Off The Record“ öffnete Bartos zum ersten Mal sein umfangreiches musikalisches Archiv und durchforstete unzählige Tonbänder, Notenaufzeichnungen und natürlich Dateien, die ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, sondern eine Art akustisches Tagebuch Bartos’ bilden. Nun werden ja – bei meist posthumen – „Rarities“-Releases häufig Vorwürfe laut, dass Fans mit bis dato zu Recht unveröffentlichten Tracks abgezockt würden. Da sich Karl Bartos aber glücklicherweise bester Gesundheit erfreut und die Musik für „Off The Record“ selbst ausgewählt hat, kann man Bedenken dieser Art beiseite schieben und sich über die minimalistischen Vocoder- und Roboterklänge freuen, die selbstredend allesamt das Kraftwerk-Erbe in sich tragen.

Nicht alles ist gut auf „Off The Record“: wenn Bartos singt („Nachtfahrt“) klingt das ganz schön Heppner’esk; „Instant Bayreuth“ wirkt – nun ja, rätselhaft. Interessant wird es immer dann, wenn wie in „Hausmusik“ oder „The Binary Code“ technopoppig beseelte Melodien auf den Maschinenmensch-Rhythmus treffen, den Mike Banks von Underground Resistance als „the second code of electronic funk“ bezeichnete. Trotz einiger interessanter Momente muss Bartos aber damit rechnen, dass seine Fundstücke from the archives to the archives wandern werden.

Karl Bartos: Off the Record. Bureau B. Zur Homepage.

Daughter_If You LeaveDaughter: If You Leave

Ein ganz klein wenig enttäuscht war ich von „If You Leave“, dem Debütalbum der Londoner Band Daughter – vielleicht aber auch wegen der enormen Vorschusslorbeeren, die dem Trio um Sängerin und Komponistin Elena Tonra seit Monaten verliehen wurden. Gegründet haben sich Daughter vor drei Jahren an der Londoner Musikhochschule, veröffentlichten seit 2011 einige EPs in DiY-Manier und erspielten sich auf Festivals eine große Fanschar. Musikalisch erinnern Daughter in ihrem fragil-schwermütigen Minimalismus zuweilen stark (sehr!) an The XX, nur mit Folk-Background; außerdem steht der Gesang mehr im Mittelpunkt.

In Songs wie „Smother“ und „Lifeforms“ brechen Daughter ihre Zurückhaltung mit orchestral-üppigen Schwelgereien auf, oder klampfen auf „That Girl“ regelrecht frohgemut herum, was für wohltuende Kontraste sorgt. Meist aber herrscht heiliges, statisches Shoegazing mit lang nachhallenden Gitarren- und Drumklängen und brüchig klagenden Lyrics vor, was Mme. Mohr bald nach ein paar mehr Beats verlangen lässt….

Daughter: If You Leave. 4 AD/Beggars. Zur Artist-Seite des Labels.

Justin Timberlake_The 20_20 ExperienceJustin Timberlake: The 20/20 Experience

…., die sie auf Justin Timberlakes neuer und mit Verlaub großartiger Platte „The 20/20 Experience“ auch bekommt! Ähnlich wie bei David Bowie war zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt mit einem neuen Album des ehemaligen N’Sync-Boygroupstars zu rechnen. Sieben Jahre liegt das Erscheinungsdatum von Timberlakes letztem Album, des sexuellen Erweckungszeugnisses „FutureSex/LoveSounds“ zurück, das deutlich vom „Nipplegate“, also dem unbeabsichtigten (*zwinkerzwinker) Abstreifen von Janet Jacksons Oberkörperbekleidung während eines gemeinsamen Auftritts beim Superbowl geprägt war. Danach spielte Timberlake in zehn Hollywoodfilmen mit und ehelichte Jessica Biel (Jessica Biel!), machte aber keine Anstalten, neue Songs zu produzieren.

Im Januar 2013 erschien dann – peng – ohne Vorwarnung die Single „Suit & Tie“ (featuring Jay- Z), wie gewohnt produziert von Timbaland, der auch schon „Justified“ und „FutureSex/LoveSounds“ diesen unverschämt tollen Sound aus verschachtelten, komplizierten Computerbeats und sämigem R’n’B-Flow verpasste. Die Kombi Timberlake/Timbaland funktioniert auch auf „The 20/20 Experience“ (JT scheint eine Vorliebe für Schrägstriche zu hegen) wie geschmiert. Elegant, durchaus retrofiziert, aber schlüssig, schlau, toll.

Der 32-Jährige bewegt sich auf dem Soul- und R’n’B-Parkett so stilsicher, dass man glatt vergisst, dass hier ein sehr weißer Mann zugange ist – der in Memphis, Tennessee geboren wurde, wo das Soul-Label Stax beheimatet ist und offensichtlich seine Vibes ins Hause Timberlake aussandte. Mit hellem Falsettgesang huldigt Timberlake dem Michael Jackson aus der Zeit vor „Thriller“, verbeugt sich mit dem vergleichsweise roh produzierten „That Girl“ vor dem Soul der Südstaaten und Curtis Mayfield gleichermaßen, zitiert den sanft-zwingenden Neosoul D’Angelos und verabschiedet sich insgesamt vom Hitparaden-Mainstream-Pop.

Mit seinen langen In- und Outros und spielerischen Codas ist „The 20/20 Experience“ eher ein Wagnis als ein Zugeständnis an die One-track-download-Generation. Dass „Suit & Tie“ und die zweite Single „Mirrors“ so erfolgreich sind, liegt weniger an ihrer unbestreitbaren Tanzbarkeit (trotz R’n’B-Affinität nicht der Schwerpunkt des Albums), sondern an der Souveränität, die Songs und Sänger ausstrahlen. Applaus, Applaus – und darauf ein Gläschen edelsten Champagners, um endlich wieder den Bogen zum alkohlbetonten Anfang dieses Textes zu schlagen.

Justin Timberlake: The 20/20 Experience. Sony. Zur Homepage.

Christina Mohr

 

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