Geschrieben am 23. Januar 2013 von für Musikmag

Mohr Music: Deutsche Punk- und Indie-Szene

Underground und Gegenkultur in der Musik, in Ost und West – Christina Mohr hat sich zwei Veröffentlichungen angesehen, die die Indie-Szene(n) der letzten Jahrzehnte unter die Lupe nehmen.

wirwerdenimmerweitergehenDas tun, was man liebt

Die Buch- und DVD-Dokukombi „Wir werden immer weiter gehen“ macht es dem/der geneigten Leser/in erstmal nicht leicht: das Buch wirkt auf den ersten Blick ziemlich hektisch gestaltet, der Dokumentarfilm weist insofern eine Unwucht auf, als dass die Interviewparts aus den frühen 2000er-Jahren deutlich länger und ausführlicher geraten sind als die Gespräche mit denselben Personen zehn Jahre später.

Aber stopp: worum geht es überhaupt? Das wiederum erschließt sich bald, vor allem nach der Lektüre der teils sehr persönlichen Texte von Autoren wie Klaus Walter, Kirsten Küppers oder Dirk Knipphals.

Die Idee von Filmemacher, Label- und Verlagsbetreiber George Lindt (Lieblingsbuch, Lieblingslied), die ProtagonistInnen der deutschen „Indie“-Szene in verschiedenen Stadien ihrer Karriere zu ihrem Selbstverständnis, künstlerischen Beweggründen und Plänen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Verhältnissen zu befragen, ist vor allem auf das Zeit-Raum-Kontinuum Hamburg/Berlin, 2000 – 2010 bezogen durchaus eindrucksvoll. Was hält einen „am Laufen“, auch wenn die Geschäfte schlecht gehen? Warum produziert man überhaupt noch Platten, wenn sich alle Leute die Musik aus dem Netz ziehen? Warum nimmt man in Kauf, im Alter nicht auf einem bequemen Ersparnispolster Platz nehmen zu können, sondern tritt statt dessen auch mit weit über vierzig noch immer in kleinen Provinzclubs auf, um seine Lieder zum Besten zu geben?

Lindt und Ingolf Rech interviewten MusikerInnen wie Dirk von Lowtzow, Stereo Total, Frank Spilker, Rocko Schamoni, Schorsch Kamerun, Christiane Rösinger*, Label- und Clubbetreiber Dimitri Hegemann und Alfred Hilsberg, bildende Künstler wie Jim Avignon – also alles Leute, die seit vielen Jahren in Deutschland Kunst, Musik und Clubs machen und schon allein durch ihre lange Präsenz als erfolgreich gelten könnten.

Die Band Kante, Ted Gaier und Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen und Rocko Schamoni arbeiten an renommierten Theaterbühnen, Schamoni und Christiane Rösinger sind umjubelte BuchautorInnen, Jim Avignon präsentiert seine Bilder in New York. Erfolg und Beliebtheit zahlen sich aber nicht immer in barer Münze aus; und Dirk von Lowtzow kommentiert den Chartserfolg des letzten Tocotronic-Albums „Schall & Wahn“ sehr prosaisch damit, dass man heutzutage eben nur noch sehr wenige Tonträger verkaufen müsse, um an die Spitze der Charts zu gelangen.

Der für die deutsche NDW-, Punk- und Indieszene beispiellos wichtige Labelmacher Alfred Hilsberg (ZickZack, What´s So Funny About) hat immense Schulden, die ihn bis ins Grab begleiten werden. Seine Labels bestehen aber weiterhin, und er denkt erst jetzt im fortgeschrittenen Alter darüber nach, sein so ruinöses wie unverzichtbares Lebenswerk in jüngere Hände zu übergeben.

Tresor-Gründer Dimitri Hegemann ist auch mit bald 60 Jahren noch immer von „Ideen geplagt“, wie er sagt – doch aufhören? Niemals, „die Zeit läuft mir davon“, sagt Hegemann im Interview und man ahnt, dass er noch so manchen Club gründen und wieder schließen wird. Was aber ist es, dass MusikerInnen und anderweitig in der Szene aktive Menschen auch zu widrigsten Bedingungen „immer weiter gehen“ lässt, wie es der Buchtitel vorgibt? Ist es wirklich nur, „weil wir keine Ausbildung haben, machen wir den ganzen Scheiß“ – wie es Christiane Rösinger einst in einem Lassie Singers-Stück formulierte? Oder gibt es eine geheime, nicht näher zu beschreibende Kraft, die Kreative aller Couleur antreibt?

Eine konkrete, allgemeingültige Antwort darauf kann es natürlich nicht geben – die Gründe sind jeweils zu persönlich, komplex und lassen sich auf den wenig originellen, aber dennoch wahrhaftigen Nenner bringen, dass man das tun sollte, was man liebt.

*Bei allem tollen Bild- und Textmaterial entsteht doch ein etwas schiefer Eindruck – oder sollten Christiane Rösinger und Francoise Cactus tatsächlich die einzigen Musikerinnen gewesen sein, die zu Lindts Projekt etwas beitragen konnten?

Wir werden immer weiter gehen. Ein Buch und ein Film von George Lindt und Ingolf Rech. Eine Dokumentation über eine Dekade alternativer Musikszene in Berlin und Hamburg. Buch + DVD. Lieblingsbuch Verlag 2012. 2 CDs, 280 Seiten. 24,90 Euro.

leckmichamlebenWeiterführende Literatur

George Lindts und Ingolf Rechs Konzentration auf KünstlerInnen aus Berlin und Hamburg ist zwar konsequent – führt aber auch irgendwie zu dem Schluss, dass wichtige musikalische Bewegungen nur in Westdeutschland entstanden und fortbestehen. Es gab aber selbstverständlich auch in der DDR eine Underground- oder Gegenkultur; Jugendliche, die sich nicht damit zufrieden gaben, mit der FDJ Loblieder auf den Herrn Staatsratsvorsitzenden zu singen.

Punk – oder überhaupt irgendwie „anders“ – im Osten, resp. DDR zu sein, verlangte noch ein Quäntchen Chuzpe mehr, als von Ostwestfalen nach Hamburg zu ziehen (was diejenigen, die diese Laufbahn einschlugen, keinesfalls diskreditieren soll – nur mussten westdeutsche Indie-MusikerInnen höchstwahrscheinlich nicht in den Knast, weil sie Nietenhosen trugen oder zu dritt auf der Straße rumstanden).

Herausgeber Frank Willmann bezeichnet sich selbst als Fanforscher und hat für „Leck mich am Leben“ genau das getan: Fanforschung. In den letzten Jahren erschienen einige Titel zum Thema „Punk im Osten“ und Willmann hat nicht den Anspruch, bisher Ungesagtes zu vermitteln. Vielmehr sei „Leck mich am Leben“ „(…) eine Ergänzung des Vorhandenen“, das sein Augenmerk auf Zwischentöne legt, wie er im Interview mit Ronald Klein erklärt. Willmann hofft, dass sich in dem „Teller bunte Knete von über 40 Erzählungen, Gedichten, Essays“ so mancher DDR-Punk wiederfindet.

Aber auch für nicht in der DDR aufgewachsene Menschen ist das Buch ein Gewinn – man entdeckt viele Gemeinsamkeiten, in Bezug auf Stylingfragen (wie sieht ein Punk aus und was zieht er an, vor allem auf dem Land?), Coolness, Romantik und Fantum. Und man fängt vielleicht doch noch auf seine alten Tage an, sich für Bands wie Schleimkeim, Wutanfall, Ornament und Verbrechen zu interessieren.

Frank Willmann (Hg.): Leck mich am Leben. Punk im Osten. Neues leben 2012. Klappenbroschur. 272 Seiten. 19,95 Euro.

Christina Mohr

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