Geschrieben am 24. Oktober 2012 von für Musikmag

Flying Lotus: Until The Quiet Comes

Traumhafte Bewusstseinserweiterung

– Flying Lotus versucht wieder das Bewusstsein des Zuhörers zu erweitern, nur dieses Mal nicht brachial attackierend, sondern über den Umweg durch das Unterbewusstsein. Julian Klosik versucht dieser Route zu folgen.

Die Erwartungen an Flying Lotus waren natürlich hoch. Spätestens seit Steven Ellison mit seinem dritten Album „Cosmogramma“, diesem phänomenalen Weltraum-Epos, eine Soundexplosion inszenierte, deren Druckwelle ihn auf eine Art Produzenten-Olymp katapultierte, zu dem auch die Kritiker nur aufschauen konnten.

Doch nun explodiert gar nichts mehr. Das Konzept hinter „Until The Quiet Comes“ beschreibt Ellison selbst als “a collage of mystical states, dreams, sleep and lullabies”. Wie der Name verrät geht es um Stille und Ruhe – ein schwelgerischer Trip für die Nacht. Dennoch bleibt der Sound sowohl digital-futuristisch, als auch kosmisch-spirituell. Und als Produzent agiert Flying Lotus weiterhin wie ein Wissenschaftler des Beats, der musikalisches Material gleich welcher Quelle auf einzigartige Weise analysiert, auseinandernimmt und neu arrangiert. Deshalb ist auch der Genrestempel überflüssig – natürlich kommt er vom Hip-Hop, natürlich ist seine Musik Jazz, vielleicht auch wegen der vielzitierten Verwandtschaft mit Großtante Alice Coltrane, die den Free Jazz noch stärker als ihr Mann John zum Spirituellen führte. Doch gerade „Until The Quiet Comes“ schwebt mit unglaublicher Leichtigkeit über diese und zahlreiche Genres elektronischer Musik hinweg, benutzt deren Bestandteile nur als weiteres Material für seine Reise ins Unterbewusste.

Es hätte auch keinen Sinn, einzelne Tracks des Albums als geschlossene Stücke zu betrachten, denn wie Ellison selbst klarstellt: „Dieses Album ist eine Erzählung mit Anfang, Mittelteil und Ende.“ Vielmehr kann man die Tracks als Momente einer einzigen 46 Minuten langen Sound-Narration betrachten. Deren Beginn machen Glockenklänge, die über einem treibenden Drum-Rhythmus schweben („All In“). Dann beginnen die Glocken mehr zu schellen, der Beat wird etwas verzwickter und plötzlich gesellt sich der sphärische Gesang von Niki Randa dazu („Getting There“). Überhaupt sind die Sängerinnen und Sänger auf dem Album – auch die großen Namen wie Erykah Badu („See Thru To U“) und Thom Yorke („Electric Candyman“) – nur UnterstützerInnen des Sounds. Der Beat begleitet nicht den Gesang, sondern der Gesang ist Baustein der Soundcollage.

Flying Lotus – „Until The Quiet Comes“ from WHAT MATTERS MOST on Vimeo.

Die Reise führt über Synthie-Klänge, Rhodes-Orgel-Sounds, verschieden wabernde Dubstep-Bässe („Tiny Tortures“, „Sultan’s Request“) und allerlei nicht notwendigerweise zu definierende Klänge, Soundschnipsel, Geräusch-Samples, Melodien aus gepitchten Vocals („Putty Boy Strut“), Jazz-Kontrabässe („Only If You Wanna“), ganz leise und etwas lautere Klänge, bricht hin und wieder (wie in „The Nightcaller“) und schwankt dabei ständig zwischen Höhen und Tiefen, Hartem und Weichem, Düsterem und Engelsgleichem, wobei stets eine Weite spürbar ist, die Raum für Imagination bereitet. Sie führt letztlich zu … Zu was eigentlich? In jedem Fall zu Stille, die sich zwangsläufig einstellt, wenn das letzte Sound-Material verklingt (nach „Dream To Me“). Jede weitere Erkenntnis bleibt dem sonischen Wanderer selbst überlassen. Vielleicht gelangt man auch durch jedes Hören, besser: durch jede Sound-Meditation, zu anderen Einsichten. Ganz verstehen wird man all die Sounds, all die Ideen, all die Konzepte hinter „Until The Quiet Comes“ wahrscheinlich nie. Aber es geht auch nicht ums Verstehen. Es geht ums Träumen. Und dazu bringt einen dieses Album, sofern man sich auf es einlässt.

Die Route, die man beschreitet, wenn man „Until The Quiet Comes“ hört, führt bestenfalls von einem Eintauchen in die tiefsten Ebenen des Unterbewusstseins hin zu einem „höheren Bewusstsein“, auf dessen Suche sich schon die Free Jazzer früherer Generationen gemacht haben. Im schlechtesten Fall hat man immerhin ein hoch ästhetisches, entspanntes Hörerlebnis.

Julian Klosik

Flying Lotus: Until The Quiet Comes. Warp (Rough Trade). Zur Homepage von Flying Lotus.

Tags :