Neue Platten von und mit Martha Wainwright, Francesco Tristano, Anstam, Tiamat, Michael Wessel und Bukky Leo & Black Egypt, gehört von Ronald Klein (RK), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Mutti, geh tanzen!
(MO) Der Titel von Martha Wainwrights neuem Album ist mehrdeutig: Anfang 2010 starb Kate McGarrigle, Marthas und Rufus’ geliebte Mutter, an Krebs, wenige Monate zuvor bekam Martha selbst einen kleinen Sohn. Wenig verwunderlich also, dass „Come Home To Mama“ sehr emotional geworden ist – und am Eindringlichsten dann, wenn die Songs direkte persönliche Bezüge haben wie die Folkballade „Proserpina“, das letzte von Kate McGarrigle komponierte Lied. Oder – ebenfalls eine Ballade – das berührende „All Your Clothes“, in dem Martha darüber singt, wie sie die Kleider der verstorbenen Kate aussortierte.
Aber nicht alle Stücke sind so nachdenklich und traurig, ganz im Gegenteil. Es sind sogar schon Kritiker auf den Plan getreten, die „Come Home To Mama“ als „Spielplatz zu vieler Stile“ bezeichnen, eine Wertung, der wir uns nicht anschließen können. Denn: was ist an sensitiven, klugen Popsongs wie „Can You Believe It“ oder „Four Black Sheep“ auszusetzen oder an discoiden Tracks wie „Some People“ und „I Wanna Make An Arrest“? Richtig, gar nichts. Es ist sogar sehr begrüßenswert, wenn junge Mütter tanzen gehen wollen und es auch tun, melancholisch herumsitzen kann man schließlich noch oft genug.
Produziert wurde das stil- und stimmungsmäßig in der Tat sehr abwechslungsreiche Album von Yuka Honda (of-Cibo-Mato-Fame), die für einen „femininen Touch“ sorgen sollte – wenn feminin bedeutet, sich nicht davor zu fürchten, sein Innerstes vor aller Welt auszubreiten, dann ist diese Mission absolut gelungen.
Martha Wainwright: Come Home To Mama. V2/Cooperative. Zu ihrer Homepage.
Bachs Idol
(RK) Der dänisch-deutsche Organist Dietrich Buxtehude wirkte ab 1668 als Kantor in St. Marien in Lübeck. Der Kirchenmusiker galt als einer der wichtigsten Barockkomponisten. Selbst Johann Sebastian Bach machte sich zu Fuß auf den Weg, um einige Zeit mit seinem Idol zu verbringen. Ganze 400 Kilometer legte er aus dem thüringischen Arnstadt zurück. Dafür nahm er sogar in Kauf, einige Zeit unentschuldigt auf Arbeit zu fehlen. Derartige Begeisterungsfähigkeit stellt somit kein Phänomen der Neuzeit dar. Bach verlängerte seinen Aufenthalt an der Ostsee und nahm beim Meister Unterricht in der Kompositionslehre.
Auf die Frage, für wen Francesco Tristano 400 Kilometer zurücklegen würde, muss der Luxemburger Komponist eine Weile nachdenken. Denn Bach weilt seit einigen Jahrhunderten unter der Erde. Am ehesten würde er sich wohl für einen Philosophen entscheiden, antwortet der 29-jährige Pianist, der nicht nur zwischen Ländern und Kontinenten hin- und herjettet, sondern ebenso selbstverständlich Klassik und Clubsounds verbindet, oder auch für einen Ausflug in die Welt des Jazz (zum Beispiel mit dem libanesischen Musiker Bachar Khalifé) zu haben ist. Am Beispiel der Goldbergvariationen zeigt Tristano auf „Long Walk“ exemplarisch den großen Einfluss Buxtehudes. Anhand der Programmauswahl werden zahlreiche musikalische Parallelen deutlich, es findet sogar ein direktes Zitat des Grundthemas der Aria „La Capricciosa“ in der letzten Variation Bachs. Die Stücke der Meister ergänzt Tristano um eigene Kompositionen, die trotz ihrer Zurückgenommenheit in Punkto Filigranität absolut mithalten. Beeindruckend!
Francesco Tristano: Long Walk. Deutsche Grammophon (Universal). Zur Homepage.
Melancholisch
(TM) Mit seinem Debütalbum „Dispel Dances“ erntete der Berliner Techno-Produzent Lars Stöwe aka Anstam vor Jahresfrist begeisterte Kritiken, die diese Reise in die Düsternis und die Vermählung von Post-Dubstep mit IDM und Industrial lobten. Jetzt folgt mit „Stones And Woods“ die Platte, mit der Anstam ganz eindeutig den Pfad Richtung Pop einschlägt. Nach eigener Aussage hat Stöwe das Album nach den Prinzipien eines 80er-Jahre-Popalbums konzipiert: nicht zu viele Songs (ja, Anstam singt jetzt auch!), dafür aber jeder Song mit einer Story.
Bestes Beispiel, dass das klappt: der Opener „Morning Shiver Down The Black Wood River“. Der Track beginnt als schwarzdüsterner, pochender Ambientschocker, bevor er sich zu einem Beat durchringt, der durch den weiteren Verlauf trägt und zu dem man nicht tanzen muss, es aber doch könnte. Immer wieder wird er jedoch durchbrochen von Tempiwechseln – und warum auch sollte sich ein Fluss im Schwarzwald vorhersagbar bewegen! Stöwe arbeitet mit analogem Material, um die Organik der Sounds zu erhalten. Im Interview äußerte er einmal seine Befremdnis darüber, wie sehr die Vorgängerplatte als ‚Horror‘ eingestuft wurde. „Stones And Woods“ ist dahingehend die melancholische Korrektur.
Anstam: Stones And Woods. 50 Weapons (Rough Trade). Zur Internetpräsenz.
Gediegener Rock
(RK) Die schwedische Band, deren Wurzeln im Black- und Death-Metal liegen, erfuhr im Laufe ihrer 22-jährigen Existenz bereits mehrere Metamorphosen. Mit dem Meilenstein „Wildhoney“ (1994) begründeten sie neben Paradise Lost, Type O Negative und The Gathering den Gothic Metal, nur um dessen Grenzen gleich wieder zu sprengen. Frontmann Johan Edlund ließ in die Kompositionen Einflüsse aus den 70er-Jahren einfließen, Pink Floyd zeichneten sich als epische Paten aus.
Mit dem Doppelschlag „Judas Christ“ (2002) und „Prey“ (2003) gelangte das Trio auf dem kreativen Höhepunkt an. Der Songkosmos aus Rock, Country und Americana wiederholte sich auf der metallastigen Veröffentlichung „Amanethes“ (2008) nicht mehr. Dafür präsentierte Edlund auf seiner Brust ein neues Tattoo: „Hail Satan“. Das Spielen mit provokativen Symbolen lässt das Trio nicht mehr los. Jedoch wird Edlund nicht müde zu betonen, dass für ihn das Bild des Gehörnten für die Suche nach Wahrheit stehe, somit kein nihilistisches oder misanthropisches Konzept darstelle. Mag sein, dass die Codes nach wie vor gerade in der jüngeren Schicht verkaufsfördernd wirken. Jedoch bedarf es nach der etwas unausgegorenen 2008er-Veröffentlichung keine Extra-Gimmicks.
Tiamat schaltet in punkto Geschwindigkeit einen Gang zurück und lassen auch die Gitarren nicht mehr so aggressiv agieren. Den meisten Drive besitzt der Opener „The Scarred People“, der folgerichtig auch die erste Single-Auskopplung darstellt. Ein hymnischer Midtempo-Song, der erneut die Vorliebe für die späten Sisters-Of-Mercy unter Beweis stellt. Ebenfalls hymnisch schließt sich „Winter Dawn“ an, wenn auch deutlich gebremster.
Damit sind die Weichen gestellt für durchaus gediegenen Rock, der jedoch auch ohne experimentelle Arrangements nie langweilig wird. Ein Track wie „Messinian Letter“ könnte selbst hartgesottene Mark Knopfler-Anhänger erweichen. Letztlich entpuppt sich „The Scarred People“ als überdurchschnittliches Rockalbum. Gemessen an dem Potenzial Edlunds als Songschreiber und dem Mut und der Experimentierfreudigkeit der Band enttäuscht „The Scarred People“.
Tiamat: The Scarred People. Napalm Records. Zur Facebook-Site.
Kraftvoll
(RK) Die 1853 vollendendete h-Moll-Sonate widmete Franz Liszt Robert Schumann. Sie gilt als eines der anspruchsvollsten und komplexesten Werke der Romantik, deren Sätze direkt ineinander übergehen. Als nicht minder schwierige Fingerübung erweist sich die Sonate b-Moll des Liszt-Schülers Julius Reubke. Der Sohn eines Orgelbauers kam im Alter von 22 Jahren, im Jahr 1856, nach Weimar. Viel Zeit blieb ihm nicht, bereits zwei Jahre später starb er in Pillnitz. Seine wenigen Werke sind geprägt von Stürmen und Drängen, so enthält die Klaviersonate Dissonanzen, die für die Mitte des 19. Jahrhunderts als atypisch galten. Michael Wessel, Professor für Klavierspiel, Liedbegleitung und Methodik an der Hochschule für evangelische Kirchenmusik Bayreuth, intoniert Reubke packend kraftvoll, ohne die Sensibilität der Zwischentöne zu vernachlässigen. Kaleidoskopartig ergänzen Werke von Wagner und Liszt das Programm der CD und illustrieren damit das Fundament für die Musik des 20. Jahrhunderts. Die beeindruckende Programmkonzeption gefällt in der intensiven und ausdrucksstarken Interpretation.
Michael Wessel: LISZT WAGNER REUBKE. Animato Records/Bauer Studios (SunnyMoon). Zur Bauer Studios-Website inklusive Hörbeispielen.
Forward to the roots
(TM) Bukky Leo ist einer der Altväter der britischen Afrobeat-Szene. Als junger Musiker spielte er zusammen mit Tony Allen und Fela Kuti. Mit seinem Debüt „Rejoice In Righteousness“ schickte er viele junge DJs 1988 zum ersten Mal auf den Pfad des Afrosounds. Die Band Black Egypt gründete Leo auf einer Reiser nach Ägypten, und seit den Neunzigern sind sie als profilierte Afrobeat-Band unterwegs.
Auf „Anarchy“ loten sie die Wurzeln des Afrobeat aus, geht dabei aber schnurstracks in die Zukunft. Nicht umsonst nennt Bukky Leo als Einflüsse Musiker wie Jalal & The Last Poets, Sly & The Family Stone und Thelonious Monk, aber eben auch Prince und Michael Jackson. Produzent Dennis Bovell hat einen großen Anteil an dem prächtigen Sound dieser 13 Stücke (dazu kommen zwei Mixes der Single „Skeleton“). Bukky Leo bekommt die Gelegenheit, seine ganze Erfahrung aus 30 Jahren Musikgeschäft auszuspielen, und es soll nicht zum Schaden des Hörers sein.
Bukky Leo & Black Egypt: Anarchy. Agogo Records (Indigo). Zum Album auf der Agogo Records-Homepage.