Geschrieben am 10. August 2011 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von Jóhann Jóhannsson, Jonathan Wilson, Reinhold Friedl, Stadtfischflex und Bohren & Der Club Of Gore – gehört von Tina Manske (TM) und Janine Andert (JA).

Jóhann Jóhannsson: The Miners' HymnsSakral

Das ist großes Kino – im tatsächlichen Sinne des Wortes. Der Isländer Jóhann Jóhannson untermalt mit „The Miners‘ Hymns“ Bill Morrisons Dokumentarfilm über die Geschichte des nordenglischen Bergbaus. Film wie Musik sind ein einziges Requiem, gewidmet einer untergegangenen Industrie, die Menschen und Landschaft geprägt hat. Die Instrumentation besteht aus Blasinstrumenten, Orgel und leichten elektronischen Einsprengseln. Schon allein diese Konstellation lässt vermuten, dass „The Miners‘ Hymns“ sich anspruchsvoll gibt, und so ist es auch. Es beginnt mit dem getragenen „They Being Dead Yet Speaketh“, bei dem kaum identifizierbare Töne das Murmeln der Geister im Hintergrund bilden. Jóhannsson spielt mit den Strukturen sakraler Musik, insbesondere bei „An Injury To One Is The Concern Of All“ (der Sachbearbeiter Franz Kafka aus der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt hätte das auch gemocht), wenn die Basslinie in Halbtönen nach unten sinkt wie der Beförderungskorb, der die Männer in den Schacht hinabführt – man sieht solche Dinge tatsächlich beim Hören, man kann sich den inneren Bildern nicht entziehen.

In „Freedom From Want And Fear“ wird man einem gewaltigen Trompetensound ausgesetzt, dessen Echo in den Waldhörnern widerhallt – das ist symphonische Blasmusik vom Feinsten. Passenderweise wurde das Album in einer Kathedrale aufgenommen. Wenn man diese Musik gehört hat, kann man kaum erwarten den Film dazu zu sehen. Die DVD soll ebenfalls in diesem Jahr erscheinen. Den Schmerz aber über den Verlust einer Welt, den kann man jetzt schon spüren – in diesen Tönen, die wie durch dichten Nebel aus einer anderen Dimension zu uns dringen. (TM)

Jóhann Jóhannsson: The Miners‘ Hymns. Fat Cat.

Jonathan Wilson: Gentle SpiritDas Beste der Sechziger und Siebziger

Wie gut, dass ein Gros der Musikkonsumenten zu jung ist, um sich an das Goldene Zeitalter der Musik und seine schwülstigen Endlosgitarrenriffs zu erinnern – Triaden quälenden Schmalzes, mit denen unsere Eltern uns in die Arme der alternativen Musikindustrie trieben. Nun scheint das melodiöse Gesülze zurück zu sein. Anders lässt sich jedenfalls das Debütalbum von Jonathan Wilson nicht deuten. Als ob das nicht genug wäre, hört sich „Gentle Spirit“ dank analoger Aufnahmetechnik auch noch an, als würde es der Vergangenheit entspringen. Spannender als seine Musik ist Wilsons Arbeit als Produzent. Seine Vita weist Namen wie Bonnie ‚Prince’ Billy oder Josh Tillman von den Fleet Foxes auf. Außerdem darf Wilson sich die Revitalisierung der kalifornischen Laurel-Canyon-Szene auf die Fahne schreiben. Letzteres erklärt den Sound von „Gentle Spirit“, dem eigentlich zweiten Album Wilsons. „Frankie Ray“ (2007) erfuhr keine offizielle Veröffentlichung.

Wer derartige Musik mag, kann also getrost auf die eigene oder die Santana-Sammlung der Eltern zurückgreifen. Jonathan Wilson kopiert wirklich in allen Belangen die späten Sechziger und frühen Siebziger. Hier wird über ellenlange, psychedelische Gitarrenstrecken georgelt, was das Zeug hält. Oder die Folk-Gitarre gibt sich ein Stelldichein mit der Querflöte. Soweit erzeugt Wilson also höchstens Gähnen. Aber irgendwie erwischen einen Balladen wie „The Way I Feel“ oder „Waters Down“ trotzdem. Wilsons warmer Tenor löst eine Emotionalität aus, der man sich nicht entziehen kann. Und so schlimm ist Kuschelmusik nun auch nicht. Kurz: Möchte man zu Beginn des Albums noch kotzen, ist das Gehirn am Ende so verklebt, dass der Hörer wie auf Dope vor sich hin grinst. Das muss ein Musiker erst einmal schaffen. (JA)

Jonathan Wilson : Gentle Spirit. Bella Union/Cooperative Music (Universal). Zur Homepage, zum Facebookauftritt, zum Youtube-Kanal und zu Soundcloud.

Reinhold Friedl: Inside PianoPräzision und Improvisation

Und noch ein Debüt: Reinhold Friedl, Kopf des zeitkratzer-Ensembles, legt mit dieser Doppel-CD, die 2010 in der Luxemburger Philharmonie aufgenommen wurde, seine erste Veröffentlichung als Solomusiker vor. „Inside Piano“ ist Friedls Begriff für die Verwendung des Grand Pianos als Orchester. Hier wird das gute alte Instrument plötzlich zu einem Pferd, mit dem man Parforce reiten kann – Noise, symphonische Choräle, irritierende Flirrformen von Sound, deren Herkunft gänzlich in Dunklen zu liegen scheint. Die Mischform aus Saiten- und Perkussionsinstrument, die das Piano darstellt, prädestiniert es geradezu für solche Versuche. Friedls Ziel war es, sich von der verbreiteten Vorstellung zu lösen, man sei schon fertig, wenn man einen neuen Sound kreiert hat – es gilt vielmehr, die Symbiosen unter den verschiedenen Sounds zu suchen und zu fördern. Da Friedl mit einer auch für die zeitkratzer-Stücke charakteristischen Mischung aus Präzision und Improvisation an die Sache herangeht (schließlich hat der Mann nicht nur Komposition, sondern auch Mathematik studiert), kann man hier einige interessante Entdeckungen machen. File under avantgarde. (TM)

Reinhold Friedl: Inside Piano. 2 CD. zeitkratzer Records (Broken Silence).

Stadtfischflex: ditoAbrechnung

Ich gebe zu, als ich das Cover sah und überhaupt diesen Titel, gab ich der CD keine hohe Halbwertszeit. Höchstens mal reinhören, wird schon wieder sowas sein von wegen Berliner Jungsband mit Gitarren oder der nächste gescheiterte Singer/Songwriter. Ha! Weit gefehlt. Und wenn man einmal erfahren hat, dass die Band mit dem seltsamen Namen Stadtfischflex sich gruppiert rund um Performance-Künstler, Filmemacher und Musiker Uwe Bastiansen, der von 1988 bis 1992 Mitglied der Industrialband Abwärts war, dann passt auf einmal alles zusammen – der Krach, der Punk, die Bohrmaschinen. Aber „Stadtfischflex“, live aufgenommen an einem einzigen Tag mit einem sogenannten ‚flexible orchestra‘ bestehend aus 6 weiteren Musikern (darunter Zappi Diermier und Jean-Hervé Peron von Faust), bietet viel mehr als stumpfes Rumkloppen auf Perkussions- und Saiteninstrumenten – diese treffen hier auf Flöten, Trompeten und Saxophone. Dazu kommt Bastiansens Höllengesang. Diese Stücke blasen alle Röhren durch und regen die Durchblutung des Gehirns an. Das Ganze endet nach einer knappen Dreiviertelstunde mit „deutschland 84.9“, einer fulminanten neunzehnminütigen Abrechnung mit der Heimat – einen aktuelleren Krautrock kann man sich schwerlich vorstellen. (TM)

Stadtfischflex – Der Zahn. Stadtfischflex: dito. Clouds Hill Ltd.

Bohren & Der Club Of Gore: BeileidAlles wie gehabt: “Other bands play; Bohren bores!” (Morten Gass)

Die weltbeste Doom-Metal-Band, Bohren & Der Club Of Gore, schleichen sich mit ihrer EP „Beileid“ an, das erste Lebenszeichen seit dem 2008er-Album „Dolores“, wenn die streng limitierte Vinyl-Maxi „Latitudes“ ausgeklammert wird. Bohren sind eine feste Größe der internationalen Musikszene. Das ist bemerkenswert, wenn die Mitglieder aus Mühlheim an der Ruhr kommen. Von dort erwartet man nicht unbedingt verträumt schwebende Akkorde in Moll, die durch ihre kompakten Klangteppiche geerdet werden. Der Musik von Bohren wohnt etwas Stetiges inne, das düstere Schönheit mit Humor verbindet. Wer einmal auf einem Konzert der Band war, kennt ihre trockenen Witze. Songtitel wie „Zombies Never Die (Blues)“ leisten das Übrige.

Wie schon in den vergangenen 19 Jahren warten die Mühlheimer mit einer gewohnt hypnotisierenden, radikal verlangsamten, eigensinnigen Mixtur aus Jazz, Ambient und Metal auf. Wobei Metal immer das Irreführenste an der Beschreibung ist. Die Charakterisierung beruht wohl auf der Metal- und Hardcore-Vergangenheit der ersten fünf Bandjahre. Oder daraus, dass es bei genauer Betrachtung doch irgendwie Zeitlupen-Metal ist, ein Drei-Minuten-Stück auf eine halbe Stunde ausgedehnt. Oder weil auf „Beileid“ konsequent auf Metal-Alben verwiesen wird. „Catch My Heart“ ist ein Warlock-Cover. Dass der Song im Original von Doro Pesch als Ballade gesungen wird, muss man wissen, wenn man die Bohren-Bearbeitung mit den signifikanten 4 bpm hört. Ganz unverhofft und zum ersten Mal in der Bandgeschichte kommt in diesem Track Gesang zum Einsatz. Ein so kolossales Ereignis darf natürlich nicht von irgendwem hingerotzt werden, sondern wird von niemand geringerem als Mike Patton eindrucksvoll zelebriert.

Überhaupt scheinen die Mühlheimer mit „Beileid“ einen Beitrag zur Bohren-Exegese leisten zu wollen: Hört mal, wir basteln hier an intermusikalischen Verweisen. „Zombies Never Die (Blues)“ wird im Pressetext als „Score-Musik von geradezu erhabener Schönheit, (die) sich gar nicht erst die Mühe macht, sich die Schuppen von Angelo Badalamenti von den Schultern zu wischen“, angepriesen. Stimmt. Aber so ist das, wenn ein Sopran-Saxophon zum Einsatz kommt. Bleibt noch der Titeltrack. Der spannt laut Band den Bogen zurück in Richtung „Black Earth“ und stammt aus den „Dolores“Sessions. Von so viel Verweisen, Rückgriffen und gespannten Bögen bleibt auch das Artwork nicht verschont. Morton Gass kam auf die Idee, ein Cover zu covern. Wenn man schon mal dabei ist. Wieder ein Verweis auf Metal, genauer die kalifornische Band Jesters of Destiny und ihr 1986er Album „Fun At The Funeral“. Bei Bohren laut Pressetext allerdings ohne „Fun“. Schenkelklopfer! Hoffen wir mal, dass bald ein neues, längeres Lebenszeichen der Band folgt. Wie wäre es mit einer Interpretation der wichtigsten Rock/Pop-Klassiker? Wenn schon Exegese, dann richtig! „Sympathy For The Devil“ oder „Hit The Road Jack“ interpretiert von Bohren & Der Club Of Gore wären in jedem Fall ein Highlight jeder Musiksammlung.

Sonst bleibt (zum Glück!) alles beim Alten. „Beileid“ reiht sich nahtlos in den Soundtrack der nächtlichen Überlandfahrt (kann für den Fahrer gefährlich werden), die samtig einlullende Begleitmusik einer Beerdigung und das Valium für die Ohren ein. Verdammter Mist, nach 35 Minuten ist der Hörer gerade tief in seine Fantasiewelten versunken und schon ist die EP zu Ende. Wir wollen mehr! (JA)

Bohren & Der Club Of Gore: Beileid. Pias Germany (Rough Trade).