Neue Platten: Staubgold-Tracks, kompiliert von den Gebrüdern Teichmann, sowie Neues von Cults, dem Quartett Konitz, Haden, Motian und Mehldau, Smoove + Turrell, Atari Teenage Riot, Telebossa, Cherry Sunkist und Is Tropical, gehört und besprochen von Tina Manske (TM), Christina Mohr (CM) und Thomas Wörtche (TW).
Feinster Stoff
Auch dies wie so oft eine Platte für die späten Stunden: Es muss dunkel sein, damit man sich auf die tiefen wie hypnotischen Beats so richtig einlassen kann, die die Gebrüder Teichmann hier auffahren. „Kraut und Rüben“, toller Titel auch, insbesondere in der labeleigenen Übersetzung: Kraut and Roots. Andi und Hannes Teichmann mixen auf diesem Album ihre liebsten Staubgold-Tracks aus der reichhaltigen Backlist zusammen, nachdem vor ihnen bereits Peter Grummich, Alec Empire und Staubgold-Besitzer Markus Detmer selbiges taten. Was dabei herauskommt, ist – schon allein der Deepness der Original-Tracks geschuldet – feinster Stoff. Wie der Name schon sagt findet sich auf „Kraut und Rüben“ genreübergreifend so ziemlich alles querbeet, Progrockiges (z. B. Projekt Transmits „Kayla“), Jazz (Heaven Ands „Earth Magic“), Dreampop (Jasmina Maschinas „Learning To Fly“) ebenso wie Ultraelektronik oder Dub (z. B. der „Whateverman Dub“ von Ukoo Flani“, eine Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Nairobi). Langweilig wird’s jedenfalls nicht – und man kann „Kraut und Rüben“ wunderbar als Steinbruch für weitere musikalische Entdeckungen nutzen. (TM)
Various: Kraut und Rüben – Gebrüder Teichmann play Staubgold. Staubgold (Indigo). Die Gebrüder Teichmann auf Myspace sowie bei Facebook. Die Website von Andi und Hannes Teichmann.
Hemmungslose Nostalgie
Vor ein paar Wochen erschien in Großbritannien Simon Reynolds‘ neues Buch „Retromania“, in dem er sich dem Phänomen widmet, dass Pop immer wieder seine eigene Vergangenheit zitiert. Das Duo Cults (Madeline Folin und Brian Oblivion) aus New York hätten einen Absatz in Reynolds‘ Buch verdient: ihr Debütalbum ist sehr, sehr Sixties-beeinflusst, von den Shangri-La´s über frühe Garagenbands bis zum verträumten Westcoast-Sound mit Chorgesang baden Folin und Oblivion in allem, was glücklich macht. Die Single „Go Outside“ klingt ein bisschen nach den Mamas & Papas, nur noch jugendlicher, treuherziger, ergreifender. Bei „Abducted“ und „Bad Things“ linsen sogar die Cramps mal um die Ecke (als Retro-Retro-Verweis), Cults rocken nämlich auch gern laut und wild und scheppernd. Spätestens bei „Oh My God“ entlarven sich Cults als im Hier und Jetzt lebend: elektronische HipHop-Beats machen den Track zum Ausreißer, der das Gesamtbild aber nicht weiter stört. Cults machen viel Spaß, trotz oder wegen ihrer hemmungslosen Nostalgie. Wer jetzt gerne weiterführende Infos über Folin und Oblivion hätte, muss sich selbst was ausdenken: Cults machen einen ziemlichen Kult um sich und geben so gut wie keine Interviews. Könnte aber gut sein, dass Brian und Madeline in pop-affinen, toleranten Elternhäusern aufgewachsen sind, in denen es massig alte Vinylplatten gab… (CM)
Cults: dito. Columbia. Die Website von Cults. Das Duo auf Myspace sowie bei Facebook.
Fluss der Musik
Es gibt evidente Musik. Das ist solche, die man nicht auch noch kommentieren muss, sondern nur hören. Wie die Session, die am 9. und 10. Dezember 2009 im New Yorker Birdland stattgefunden hat und von James Farber mitgeschnitten, von Manfred Eicher abgemischt wurde. Drei Eminenzen – Konitz, Haden und Motian – plus ein ‚Youngster‘, der Lieblingshype-Pianist des Literaturfeuilletons hierzulande, Brad Mehldau – veranstalteten, so meinte die New York Times, ein bisschen softe Anarchie. So kann man´s auch sehen. Denn alle vier scheren sich um nichts, außer um die perfekte musikalische Kommunikation. Das Material besteht nur aus sechs Standards, von „Lover Man“ bis „Oleo“, deren Bekanntheitsgrad die Variations- und Interpretationsmöglichkeiten unendlich machen, ohne den Anschluss an die Grundstrukturen zu verlieren. Selbst die altmodische Solo-Applaus-Solo-Struktur stört hier kein bisschen, man folgt ganz einfach zufrieden lächelnd dem Fluss der Musik. Die Qualität ist evident großartig. (TW)
Lee Konitz/Brad Mehldau/Charlie Haden/Paul Motian: Live at Birdland. ECM. Die Website von Brad Mehldau und der Künstler bei Facebook. Charlie Haden auf Myspace sowie seine Homepage. Paul Motian auf Myspace.
Groovt, pusht & treibt…
Erster Eindruck: David Clayton-Thomas ist zurück. Zweiter Eindruck: Wow! Dritter Eindruck: Neo-Klassizismus. Aber der Reihe nach: John Turrell hört sich wirklich manchmal so an wie Clayton-Thomas zu besten Blood, Sweat &Tears-Zeiten, die gleiche Neigung zum Knödeln, das gleiche Timbre, das gleiche Tremolo. Manchmal. Wenn nicht gerade ein Schuss Tom Jones mitdröhnt. Sonst hört sich Turrell schon an wie Turrell (wir erinnern uns gerne an „Antique Soul“). Das ist aber nicht schlimm, weil „Eccentric Audio“ powert, knallt, groovt, pusht und treibt, auf dass es schiere Freude an schierer Energie macht. Und natürlich hört sich die ganze Produktion, die mit allem Know-how & Technik von heute gemacht ist, so an, wie sich klassischer R&B, klassischer Soul, klassischer Funk anhören sollen. So wie früher, aber nicht retro. Also unverbraucht, sexy, stürmisch und cool. Schon so ziemlich eine der allerbesten Soul-Scheiben der letzten Jahre. (TW)
Smoove + Turrell: Eccentric Audio. Jalapeno (Roughtrade). Die Band auf Myspace sowie bei Facebook und ihre Website.
So bedrohlich wie H.P. Baxxter
Sind die Wutbürger und Stuttgart 21 daran schuld, dass sich Alec Empire und Nic Endo dachten, die Zeit sei wieder reif für Atari Teenage Riot? Atari Teenage Riot! Vor knapp zwanzig Jahren gründete sich in Berlin die Ur-Formation mit Hanin Elias und dem inzwischen verstorbenen Carl Crack, ATR waren wütend, irre laut, schön und sexy und eine ganze Zeit lang ziemlich revolutionär. ATR brachten Punk und Techno zusammen, drehten die Regler auf Anschlag und schrien Anti-Nazi-Parolen. Der perfekte Soundtrack für 1. Mai-Ausschreitungen, Chaostage und Fuck Parades.
Und heute? Sind die verbliebenen Ataris plus dem Neuzugang CX Kidtronik gestandene 40er, bestens angekommen im saturierten Medien- und Kulturbetrieb. Warum also jetzt ein neues Album, elf Jahre nach dem Split der Band? Und vor allem, warum in 2011 ein Album machen, das exakt so klingt wie Atari Teenage Riot anno 1996? Nichts wirkt verstaubter als die Revolution von gestern, und auch wenn ATRs megakreischender Ballertechnopunk mit hyperhyper-gepitchten Beats und wie einst im Kreuzberger Mai durchs Megafon geschrieenen Slogan-Lyrics immer noch wie gewünscht nervt und wehtut, mag sich kein riot feeling mehr einstellen.
„Wir werden zum Bundestag marschieren“, brüllt Alec Empire und wirkt ungefähr so bedrohlich und hyperreal wie H.P. Baxxter. Scooter drängen sich als Vergleichsmarke ohnehin auf und das nicht nur wegen ATRs Albumtitels. Auch The Prodigy mit ihrer müden Comeback-Masche mögen einem einfallen, während man zu den ultrakrass herumkrakeelenden Atari-Tracks Kartoffeln schält. Also eher die Kasper von gestern als die Revolutionshelden von morgen… (CM)
Atari Teenage Riot: Is This Hyperreal? Digital Hardcore Recordings (Rough Trade). Die Homepage der Band. Atari Teenage Riot bei Facebook und Myspace.
Nervös
Was können Samba und Bossa Nova dafür, dass sie leicht, unbeschwert, heiter und luftig sind (der implizite Schuss saudade sorgt für Bodenhaftung)? An manchen Stellen sind Klischees schön und sinnvoll. Deswegen darf man das natürlich alles in Frage stellen, problematisieren, Hörgewohnheiten verstören, neu interpretieren, dekonstruieren und von mir aus sogar dekompostieren. Darf man. So wie Telebossa – bestehend aus Chico Mello, Nicholas Bussmann, Hanno Leichtmann und Werner Dafeldecker – die Bossa Nova de-konstruiert, mit viel Elektronik neu kontextualisiert und ent-sinnlicht. Das ist schon gut gemacht, musiktheoretisch einwandfrei begründbar, in sich logisch auf- resp. abgebaut. Auch manchmal überraschend, wie bleischwer Musik sein kann. Mit anderen Worten: Telebossa gibt der Bossa aber richtig auf die Löffel! Nur eines stört mich ein klein wenig an der ganzen Veranstaltung: Ich mag´s einfach nicht hören, es schmerzt, macht nervös und übellaunig. Vermutlich aus Daffke. Ich aber mag Klischees, ich mag Jobim & Gilberto & Getz & Co. Vor allem im Sommer. (TW)
Telebossa: dito. Staubgold (Indigo). Die Website von Telebossa.
Verstörend und faszinierend
Cherry Sunkist ist ein klebrig-süßes „Erfrischungsgetränk“ – und eigentlich die ganz falsche Assoziation für Karin Fisslthalers musikalisches Projekt. Die Österreicherin tauchte vor fünf Jahren auf dem von Chicks on Speed zusammengestellten Sampler „Girl Monster“ auf, veröffentlichte kurz darauf ihr Debütalbum „Ok Universe“, spielte bei Ladyfesten und machte sich einen Namen als experimentierfreudige Laptop-Artistin und Videokünstlerin. Auf ihrer neuen Platte „Projection Screens“ gibt es keine leicht konsumierbare Wohlfühlmusik: Cherry Sunkist zerschreddert und dehnt die Töne, Beats werden gequetscht und verdreht, der Synthesizer klingt wie eine Gitarre und die Gitarre macht wummernde Dub-Drones. Hier sind die Dinge nicht das was sie scheinen, sondern verweisen auf andere Wahrnehmungsebenen.
Sunkist klingt nicht ganz so schroff und in-your-face wie z. B. Monotekktoni aus Berlin, aber nicht minder verstörend. Die Stimme hält sich in entfernten Echokammern auf oder wird geisterhaft verzerrt, während es nebenan blubbert und wummert wie auf einer intergalaktischen Baustelle. „Old Parts“ klingt, als hätten die Stooges einen Elektrotrack aufgenommen, bei „Glass“ wird PJ Harvey in einer Gefriertruhe gefangen gehalten. „She“ dagegen ist beinah sanftmütig und eingängig, ein versöhnliches Stück, als Nummer zwei gleich an den Anfang gepackt. Der Titeltrack und „Goodbye“ wirken mit ihrem schleppendem Groove auf seltsame Weise verführerisch, wobei Cherry Sunkist keinerlei Klischees von Sexyness bedient, im Gegenteil. „Projection Screens“ sträubt sich dagegen, dass Pop immer nur glatt und hübsch und leuchtend rosa sein soll. Die Pop-Welt von Cherry Sunkist ist voller Stacheln und verunsichernder Weggabelungen, die in dunkle Ecken führen. Und genau deshalb so faszinierend. (CM)
Projection Screens. comfortzone (Cargo). Die Künstlerin auf Myspace.
Hey, es ist Sommer!
Was LCD Soundsystem für den selbsternannten Indie-Intellektuellen sind, sind Bands wie Is Tropical, die neue Dance-Kombo aus London, für den gepflegten Proll. Die Zutaten sind ähnlich – catchy Synthesizer-Riffs im Hintergrund, fette 4-to-the-floor-Drums, Stimmen durchs Effektgerät gejagt. Und den riesengroßen 80s-Button im Knopfloch. Natürlich sind Is Tropical bei weitem nicht so ausgefuchst, doch funktioniert ihr Konzept bei manchen Titeln des Album „Native To“ hervorragend – z. B. beim geradezu unverschämt von Erasure und Konsorten infizierten „Clouds“. Is Tropical plündern ihre Lieblingssongs aus den 80ern einfach total aus und setzen sie neu zusammen, dazu kommt der schon erwähnte Hang zur Proll-Disco à la Klaxons. Ändert aber alles nix dran, dass man zu dieser Platte großen Spaß haben kann. Hey, es ist Sommer, „just let yourself go“ (der Song zur Stadt: „Berlin)! „Native To“ sollte bei den anstehenden Christopher-Street-Day-Paraden in Dauerschleife laufen. (TM)
Is Tropical: Native To. Kitsuné/Cooperative Music (Universal). Die Band bei Facebook sowie auf Myspace.