„Listen to the people who come inside you!“ Aérea Negrot macht in ihren Songs keine Gefangenen. Frisch von der Leber weg entwirft sie Sounds und Geschichten, die ihr Album zu einem Ereignis nicht nur in der Elektroszene machen, findet Tina Manske.
So klingt Avantgarde
Von der Venezuelanerin Aérea Negrot, die als Solistin und Produzentin wahrscheinlich (noch) weniger bekannt ist als als Sängerin und Tänzerin des Kollektivs Hercules & Love Affair, kommt das schillerndste Club-Album dieses Jahres. „I Go Diagonal“ heißt der erste Track, und er ist Programm. Die transsexuelle Negrot hat nicht vor, irgendwelche Regeln einzuhalten. Ihre Stimme ist operntechnisch geschult, aber Negrot setzt sie ganz im Sinne des Dancefloor-Krachers ein – House, Avantgarde-Pop, Techno, Elektronika, all das ist zu hören, aber auch zwischendurch Chanson, zum Durchatmen. Auf englisch, deutsch und spanisch singt Negrot von Liebe, Sex, Alkohol und dem Leben als Künstler unter prekären Umständen. Sie macht ihre eigene Person ganz unverschämt zum Mittelpunkt. In der Art eines Audio-Tagebuchs werden die letzten sieben Jahre, die die Künstlerin zwischen Caracas, London, Den Haag und Berlin verbracht hat, verhandelt. Und diese spielerische Inhaltsschwere macht „Arabxilla“ nicht nur zu einem großartigen, sondern auch zu einem äußerst wichtigen, weil die Heteronormativität locker wegwedelnden Album.
http://www.youtube.com/watch?v=-SZUaImCCH0&NR=1
Berlin spielt allerdings mindestens die zweite Hauptrolle auf dieser Platte. Der Höhepunkt „Deutsche werden“ ist das aktuellste, ehrlichste, witzigste, politischste Statement zur hiesigen Einwanderungspolitik (und zur deutschen Seelenbefindlichkeit allgemein), das man seit langer Zeit gehört hat. Wie da mithilfe der Werbung die ersten Worte gelernt werden („aus Liebe zum Automobil“) bis hin zu den aggressiven Sprüchen zum Schluss des Songs – da hat jemand seine Lektion gelernt, das ist deutsche Sozialisation in 3 Minuten. „Berlin“ hingegen ist nach Christiane Rösingers Lied desselben Namens der zweitwitzigste Berlin-Song der letzten Monate. Schließlich wird hier auch endlich mal ehrlich gesagt, warum alle nach Berlin ziehen: weil es so billig ist! Nur deswegen! München, Köln, alles keine Alternativen, weil zu teuer! Und erst die Heimfahrten zum Geliebten in Osnabrück: „I can’t deal with the prizes of Benzin/ why don’t you move to Berlin!“, heißt es mit einem zwinkernden Reim in „Please Move To…“ So klingen heute Beziehungskisten! Und das alle zu einem Beat, zu dem man sich bewegen muss. Und sexy ist es auch. „Arabxilla“ sollte jeder gehört haben, der an innovativer, mutiger, brandaktuell-gesellschaftspolitischer Avantgarde-Musik interessiert ist.
Tina Manske
Aérea Negrot: Arabxilla. BPitch Control (Rough Trade). Zu MySpace.