Geschrieben am 29. Mai 2013 von für Musikmag

2:1 – CocoRosie

Oh, ein neues Album der Schwestern Bianca und Sierra Casady alias CocoRosie! Grund zur Freude? Oder kochen die beiden mal wieder ihr altbekanntes, niedliches Süppchen? Janine Andert und Christina Mohr haben hingehört.

cocorosie_talesofagrasswidowMal was anderes?

(MO) Zuerst die Erkenntnis, dass eine „Grass Widow“ das Gleiche ist wie die hiesige Strohwitwe: eine Frau, deren Gatte für längere Zeit außer Haus (nicht tot!) ist und die deshalb allein auf dem Stroh/dem Gras liegen muss. Der Ausdruck stammt aus vergangenen Zeiten, in denen ein Strohwitwer undenkbar war: Frauen befanden sich im Haus und nicht auf Reisen.

Das hat sich mittlerweile geändert, vieles andere nicht, zum Beispiel die Musik von CocoRosie, die es inzwischen auch schon zehn Jahre lang gibt: das hätte man gar nicht gedacht! Bianca und Sierra Casady verströmen seit je einen kindlichen Charme, der sie aus den Zeitläuften zu befreien scheint, sie aber auch vielen nervig und kindisch vorkommen lässt.

Die Kombination aus schwesterlichem Zwiegesang – Sierra mit klassisch geschulter Opernstimme, Bianca als ihr bewusst krächzender, ungeschönter Gegenpart – und einer Vielzahl ungewöhnlicher „Instrumente“ wie Haarföns, Küchengeräte, Spielzeug und dem „festen freien“ männlichen Mitglied, dem Beatboxer TEZ, wirkte bei den ersten beiden Platten „La Maison de mon Reve“ und „Noah´s Ark“ noch unfassbar wundersam und unwiderstehlich, geriet bei „The Adventures Of Ghosthorse And Stillborn“ und „Grey Oceans“ durch ewige Wiederholung zur Gewohnheit, also vorhersehbar, schlicht langweilig.

Deshalb hielt sich meine Begeisterung in Grenzen, als ruchbar wurde, dass Ende Mai das fünfte Album von Bianca und Sierra erscheint: „Ach, das wird doch so wie immer, wahrscheinlich singt Antony bei zwei, drei Songs, die dann die Besten sein sind.“ So kam es auch, Antony singt bei „Tears For Animals“ und „Poison“, den beiden schönsten Stücken auf „Tales Of A Grass Widow“, dessen Rest aus den bewährten CocoRosie-Bauklötzchen gebaut ist, abgesehen von deutlich tanzbaren dicken Beats plus einer extrem nervigen Flöte bei „Child Bride“.

Und doch höre ich das Album mit anderen Ohren, „schuld“ daran ist ein Spex-Artikel des vor kurzem viel zu jung verstorbenen Tim Stüttgen: er erklärt, weshalb die Schwestern zwar erst jetzt explizit zum Feminismus gefunden haben, aber schon immer eine queer-feministische Band waren; dass die Tierfiguren auf allen CocoRosie-Platten kein Ausdruck infantiler Niedlichkeitsbesessenheit sind, sondern Rollenspiele: die Tiere – und die verschiedenen Stimmen generell – sind Boten unbequemer Wahrheiten. Besagtes „Child Bride“ zum Beispiel ist aus der Perspektive eines zwangsverheirateten Mädchens gesungen, Antony verkörpert in „Tears For Animals“ die vom Menschen misshandelte Natur.

Man kann CocoRosie für ihre herausgestellte Märchenwesen-Kindlichkeit blöd finden, aber man sollte sie nicht unterschätzen. Sie dürften sich nur mal musikalisch was anderes einfallen lassen…

(JA) Mit den Worten „Welcome to the afterlife“ entführt Bianca Casadys Stimme in die CocoRosie eigene Traumwelt zwischen Nostalgie, Melancholie und sonniger Seligkeit. „Tales Of A Grass Widow“ ist das fünfte Album der Casady-Schwestern, das wie eine fünfte Botschaft einer fremden Wirklichkeit an die Realität erscheint. Das Leben in der Welt CocoRosies ist stetig und bringt in der Tat musikalisch wenig Neues hervor. Abgesehen von Antony Hegarty als Gastsänger. Trotzdem wiederholen sich selbst markante Textbausteine wie „widow“ und „tears“. Endzeit, Isolation, Einsamkeit, Tod die Themen. Auch das ein roter Faden im Werk von CocoRosie. Aber warum müssen sich Bands denn auch immer neu erfinden?

CocoRosie bleiben ihrem Hang zu Skurrilitäten und mehrdimensionalen Anspielungen auf das Weltgeschehen treu. Und das mit jedem Album eingängiger. „Tales Of A Grass Widow“ sollte eher als ein Nachhause kommen gesehen und erst gar nicht mit den Vorgängeralben verglichen werden. So großartig der Gesang von Antony auch zu CocoRosie passt, ist der Höhepunkt des Albums doch „Villain“. Ein tanzbarer Track, der eine eigenwillige Interpretation von Michael Jackson, vornehmlich „Thriller“, vermuten lässt.

Wer „Tales Of A GrassWidow“ ganz unvoreingenommen auf sich wirken lässt, wird schnell zu dem Schluss kommen, dass sich dieses Album ganz hervorragend als Soundtrack für das Jüngste Gericht eignet. So vor dem Schöpfer stehend noch einmal über irdische Unzulänglichkeiten und irdische Qualen reflektieren, dann aber in Antonys Gesang Trost finden und sogar ein bisschen zu den Beats mittanzen, wenn es ans Eingemachte geht.

Wer nach diesem Album immer noch nicht genug von CocoRosie und ihrer inszenierten Infantilität hat, dem ist noch bis Anfang Juli „Peter Pan“ am Berliner Ensemble zu empfehlen. Eine Aufführung, für die CocoRosie die Musik beisteuerten.

Coco Rosie: Tales Of A Grass Widow. CitySlang. Zur Homepage.

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