Geschrieben am 30. Oktober 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Wolfram Schütte: Dankrede für den Johann-Heinrich-Merck-Preis 2013

bild_logo_deutsche_akademieDas schöne Geschäft der Filmkritik: eine Erinnerung

Wolfram Schüttes Dankrede anlässlich der Verleihung des Johann-Heinrich-Merck-Preis 2013. Die Laudatio von Thomas Assheuer finden Sie hier.

Meine Damen & Herren, lieber Thomas Assheuer.

Sehr geehrte Akademie & Jury. Sie haben in Ihrer Begründung auch auf meine Arbeit als Filmkritiker angespielt. Deshalb will ich jetzt ein wenig über Filmkritik sprechen. Sie ist unter den öffentlich ausgeübten Kunstkritiken die jüngste. Sie war es jedenfalls, als ich vom Leser auch zum Schreiber wurde.

Aber als wir – ein Kreis von Frankfurter Studenten – in den frühen Sechziger Jahren eine Zeitschrift machten, die “Filmstudio” hieß, haben wir uns an dem Filmhistoriker Siegfried Kracauer orientiert, der in der amerikanischen Emigration das Buch “Von Caligari zu Hitler” geschrieben hatte. Diese sozialpsychologische Studie zur Geschichte des deutschen Films war 1958 als Taschenbuch bei Rowohlt erschienen. Kracauers These, wonach Filme eines Landes oder einer Kultur deren kollektive Mentalität reflektierten, schien uns geeignet, als Basis für unsere eigenen filmkritischen Gehversuche zu dienen. Spezielleres Besteck für die kritische Feinarbeit aber adaptierten wir von französischen und angloamerikanischen Kritikern & Filmtheoretikern der 50er/60er Jahre.

Es war, meine Damen & Herren, eine wunderbare Zeit! Eine Zeit des An- & des Aufbruchs in jeder geistigen Hinsicht – in diesem universitären Frankfurt Adornos & Horkheimers. Aber die sogenannte “Frankfurter Schule”, in die wir ja alle mehr oder weniger gingen & die uns affizierte bis in den adornitischen Sprachgestus hinein, war nicht das einzige Glück unserer damaligen Zeit!

Welthistorisch war es die Zeit der Entkolonisierung, gewiss auch im bedrohlichen Schatten der bipolaren Weltordnung & ihres von Atombomben gesicherten Kalten Krieges. Er war partiell erst in Korea & dann in Vietnam jedoch auch “heiß” geworden. Aber zugleich befand sich die Weltgesellschaft im Um- & Aufbruch: zu neuen Staaten & Gesellschaften; und auch in den etablierten Gesellschaften brodelte es. Das Verlangen nach Freiheit, Gerechtigkeit & Menschenwürde war allgemein. Was immer dann jeweils daraus politisch wurde, steht auf einem anderen Blatt. Aber die allgemeine Grundtendenz war optimistisch & der Fortschritt bis zu den “Grenzen des Wachstums” noch nicht diskreditiert. Es war eine Freude, dabei zu sein: “an den Fronten des Weltprozesses”, wie das der Philosoph nannte, der Hoffnung zum Prinzip erklärt hatte.

In diese besondere, einzigartige Zeit passten auch der Film & das Kino. Beide waren zwischen den Fünfziger & den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf dem Höhepunkt ihrer sinnlich-geistigen Präsenz, gesellschaftlichen Relevanz & künstlerischen Entfaltung.

Wie die Malerei die “Leitwährung” der europäischen Renaissance war, so wurde der Film nach dem Zweiten Weltkrieg der Seismograph für die politisch-gesellschaftlichen Erschütterungen, die sozialen Verwerfungen & geistigen Bewegungen rund um den Globus.

Aber ich spreche von der Bundesrepublik. Sie war ökonomisch wirklich “auferstanden aus Ruinen”, wie das die Bechersche Nationalhymne von der DDR bloß behauptete. Jedoch die bundesdeutsche Filmindustrie wurde in Geist & Tat weitgehend von deren altem Personal betrieben. Das reaktionäre “Schnulzenkartell” dichtete sich gegen jeden Versuch eines neuen, jüngeren, kritischen Films radikal ab. Das Schnulzenkartell verfiel also unserer Kritik, die sich an europäischen Filmen orientierte. Im Gegenzug favorisierten wir die Versuche unserer gleichaltrigen Generationsgenossen wie Kluge, Herzog, Schamoni.

Sie erklärten “Opas Kino” für tot & wollten den “Neuen Deutschen Film” schaffen. Es gelang ihnen schließlich & die junge bundesdeutsche Filmkritik hat ihren Teil dazu beigetragen – auch, um den neuen deutschen Film der Bundesrepublik gegen die Trägheit des Publikums im eigenen Land durchzusetzen.

Zum einen, indem sie ihr Leserpublikum wie sich selbst filmkritisch alphabetisierte. Denn es musste ja für das Film-Medium eine ihm adäquate Fach-Sprache gefunden werden, mit der man sich untereinander verständigte. Seither gehören Begriffe wie etwa “Einstellung, Schnitt, Sequenz” oder “Überblendung & Schwenk“ zu unserem allgemeinen Sprachgebrauch.

Zum anderen verdanken wir den nachmaligen Welterfolg des bundesdeutschen Films von Fassbinder, Wenders oder Reitz einer vielfältigen Förderungspolitik, deren Grundzüge & Methodik erst einmal erfunden & gegen bornierten Widerstand politisch in Bonn durchgesetzt werden musste.

Seither weiß ich, dass Filmkritik – will sie ihrem Gegenstand gerecht werden – mehr sein muss als nur temporäre Kritik eines Films; nämlich stetiges Erkenntnisinteresse an & für Filmpolitik, Filmförderung, für den Verleih & den Vertrieb & für das Kino.

Denn der Film, die 7. Kunst, schillerte von Beginn an zwischen Kommerz & Kunst vieldeutig. Der Film befindet sich immer in prekären ökonomisch-künstlerischen Verhältnissen. Aus diesem Spannungsverhältnis geht er aber hervor – ob als sogenannte “Massenkunst” der Unterhaltungs-Industrie oder als cinéastisches Meisterwerk, das nur eine Minderheit schätzt.

Als wir damals in den Sechzigern die Filmkritik zusammen mit dem Publikum in der Bundesrepublik einführten & entwickelten – ja, man darf das so entschieden sagen – mussten Publikum, Verleiher & vor allem Kinobetreiber erst einmal lernen, mit unseren Urteilen umzugehen. Zeitweise wurden wir der Kinos verwiesen & die Zeitungen mit einem Anzeigenboykott überzogen – bis man auch in der Branche begriffen hatte, dass unsere Filmkritik weder Fortsetzung der Werbung noch bloßes subjektives Geschmacksdiktat war.

Argumentativ gingen wir vor, zogen historische Vergleiche, blickten auf das ästhetische, gesellschaftliche & auch politische Ambiente, damit das Urteil geistig transparent für die Einsicht des Lesers wie auch für seine Widerrede sei. Filmkritik, als neues Feuilletongenre in jener Nachkriegszeit, war – pathetisch gesprochen – auch der frohgemute Angriff demokratisch-rationalen Geistes auf jene von den Nazis verordnete “Kunstbetrachtung”, die noch in vielen Köpfen der davon einmal Affizierten virulent war. Wie der bundesdeutsche Film weltweit mehr für das rezivilisierte Ansehen der Bundesrepublik getan hat als jede Politik, so hat die bundesdeutsche Filmkritik intern für eine lange Zeit die anderen künstlerischern Äußerungen in der bundesdeutschen Kulturlandschaft dominiert.

Ich muss achtgeben, dass ich mit meinen enthusiastischen Erinnerungsworten bei Ihnen nicht den Eindruck erwecke, mir & meiner Filmkritiker-Generation großmäulig unrechte Verdienste zuzusprechen.

Deshalb noch einmal die Versicherung, dass wir – vor allem von heute aus gesehen – unglaublich viel Glück hatten: in jeder Hinsicht, persönlich, beruflich, gesellschaftlich; unser einziges Verdienst war es vielleicht oder womöglich, dass wir das zeitnah begriffen & daraus etwas gemacht haben.

Meine Damen & Herren: Was hatten wir auch für eine Zeitgenossenschaft unter den Filmemachern! In den jährlich neuen Filmen des Schweden Ingmar Bergman rangen wir mit Gott & dem Teufel, mit den Franzosen Truffaut & Chabrol träumten wir von der Liebe zu dritt oder erschraken wir über die kriminelle Energie, die im französischen Provinz-Bürgertum schlummerte & in Chabrols giftigen Filmen mörderisch ausbrach. Der junge Spanier Carlos Saura unterminierte mit seinen allegorisch-mehrdeutigen Familiengeschichten das Spanien Francos, der alte spanische Exilant Luis Bunuel belebte seinen anarchistischen Surrealismus an Stoffen, die er in Mexiko, Frankreich & sogar in Spanien auftat. Das italienische Dreigestirn Antonioni, Visconti & Fellini ließ uns die Welt der Moderne, der Geschichte und der barocken Phantasie immer aufs Neue mit ihren Augen durchmessen, die Epiker Angelopoulos, Tarkowskij und Kurosawa stellten uns ausgreifende Geschichts- & Gesellschaftspanoramen Griechenlands, Russlands & Japans vor staunende & entzückte Augen; Hitchcock drehte seine horriblen Lebensverunsicherungen, John Ford seine melancholischen Spätwestern & Martin Scorsese berichtete von Gewalt & Leidenschaft der usamerikanischen Gesellschaft, der Brasilianer Glauber Rocha führte sein Riesenland in Trance & Euphorie vor. Und der Iraner Abbas Kiarostami bewegte uns tief mit den Alltagsabenteuern seiner kindlichen Helden. Ganz zu schweigen von dem einzigartigen Genie des Welschschweizers Jean-Luc Godard, dessen immenses Oeuvre aus Poesie, Reflexion, Erzählung & Experiment für den Film jene Grenzerweiterung bedeutet, die in der Bildenden Kunst mit Pablo Picasso & im Literarischen mit dem Namen von James Joyce benannt wird.

Und wohlgemerkt, meine Damen & Herren, dieses Kaleidoskop von Meistern ist nur die äußerste Spitze einer weit umfangreicheren Zahl von großen Filmkünstlern, die einmal in ihren Ländern & Kulturen für die überwältigende Breite & Vielfalt der Kinematographie der Welt sorgten. Im Laufe der Jahrzehnte am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts ging die Nouvelle Vague, die in Frankreich begann, rund um den Globus. Diese “neuen Wellen” waren Phänomene der jeweiligen filmischen Renaissance. Wir bekamen von dieser Weltbewegung des Films aller Kontinente so viel mit, weil es neben dem von den Hollywoodfilmen beherrschten Mainstream, noch einen zweiten Verleih- & Kino-Markt für “kleinere Filme” gab.

Dafür machte sich die Filmkritik stark. Ja, das war sogar ihre filmkritische Haupttätigkeit: sich gegen den übermächtigen Mainstream, seine langläufigen “Blockbuster” und gegen die durch massives Marketing erreichte Konformität des Massen-Konsums zu stemmen. Und das Abweichende, Komplexere, Experimentelle, Widerständige & Minoritäre zu entdecken & hervorzuheben & es dem Publikum mit Enthusiasmus, Kennerschaft & analytischer Verve zu vermitteln. Das war das schöne Geschäft der Filmkritik, an der sich das lesende Publikum orientierte.

Der zweite Grund, warum die Filmkritik in der Bundesrepublik ein so reiches, vielfältiges Feld vorfand, lag an der Expansion des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Das neue Konkurrenz-Medium führte einerseits zu einem ersten Kinosterben. Das Kino war bis dahin der zentrale, um nicht zu sagen: der “sakrale” Raum für die momentane lokale Erscheinung des Films. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen machte mit diesem Monopol ein Ende. Es “säkularisierte” gewissermaßen den Film, der seine einzigartige Kino-Aura verlor & sich selbst historisch wurde.

Andererseits eröffnete das Fernsehen mit seinen drei Programmen aber neue Präsentationsformen für Filme. Es hatte einen ungeheuren Programmbedarf, legte sich mehrere anspruchsvolle Filmredaktionen zu, die – ausgestattet mit beträchtlichen finanziellen Mitteln – bald ins nationale & internationale Filmgeschäft einstiegen. Diese Kollegen, die selbst Filmkritiker gewesen waren, hatten hohe ästhetische Ansprüche, der verrückte “Quotendruck” von heute war noch fern.

So ging mit der Ausweitung der Abspielmöglichkeiten nicht nur eine zeitweilig problematische Konkurrenz um jüngste Filme einher. Denn was im Fernsehen zuerst gelaufen war, hatte in den lokalen Kinos keine Chance mehr.

Nachdem aber die Fernsehanstalten bereit waren, ihre Synchronfassungen Kleinverleihern eine Zeitlang vorab zur Kinoauswertung zur Verfügung zu stellen, verbreiterte sich das Filmangebot in unseren Kinos. So haben gewissermaßen ARD & ZDF unsere Film- & Kino-Kultur gefördert, ja sogar subventioniert & die Filmkritik hatte Grund, darüber erfreut zu sein. Aber auch auf den Fernsehseiten hatte sie zu tun.

Denn der Programmbedarf der Fernsehanstalten war so groß & vielfältig, dass man in die Filmgeschichte zurückgreifen musste: nicht nur in die Hollywoods, sondern auch in die anderer Länder wie z.B. Japans oder der UdSSR. Was war uns in Deutschland nicht alles durch die Nazijahre & den Zweiten Weltkrieg vorenthalten worden und entgangen! Was hatten wir nicht alles zu entdecken & nachzuholen!

Das bundesdeutsche Fernsehen – besonders aber seine damaligen Dritten Programme – war eine große, ausgreifende filmhistorische Schule des Sehens & Hörens für ein neugieriges, bald kundiges Millionen-Publikum in Stadt & Land! Es liefen im Ersten & Zweiten Programm zu den Hauptsendezeiten, die damals noch nicht “Primetime” genannt wurden, neueste Filme von Chabrol, Pasolini & Bunuel; und die Dritten Programme waren stolz, Originalfassungen mit Untertiteln zeigen zu können.

Was war das doch für eine tolle Zeit, meine Damen & Herren! Wenn man nicht selbst dabei gewesen wäre, man würde es nicht glauben!

Das ist heute Vergangenheit, noch genauer gesagt: vollendete Vergangenheit.

Was hat uns alle miteinander aus diesem “Paradies” vertrieben?

Das zu entfalten, würde heißen, eine vielseitige Geschichte der technischen Entwicklungen, der gesellschaftlichen Verwerfungen & der kollektiven Mentalitätswechsel zu erzählen. Nicht zuletzt gehört aber dazu auch der Befund, dass sich die Filmkritik von ihrer fördernden, fordernden & herausfordernden Haltung hat abbringen lassen. In vorauseilendem Gehorsam hat sie sich fast überall bloß noch zum Kellnerieren des vom Mainstreams diktierten aktuellen Angebots machen lassen. Die große Gleichgültigkeit ist nun an der Tagesordnung.

Es war einmal (anders); und es war kein Märchen. Daran wollte ich hier erinnern: als Dank für den Johann-Heinrich-Merck-Preis.

Wolfram Schütte

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