Geschrieben am 30. Oktober 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Laudatio auf Wolfram Schütte zur Verleihung des Johann-Heinrich-Merck-Preises

Unser Mitarbeiter Wolfram Schütte hat am vergangenen Wochenende den diesjährigen Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhalten. Der Preis wurde ihm im Vorfeld der Büchnerpreis-Vergabe (an Sibylle Lewitscharoff) im Darmstädter Staatstheater übergeben. Wir dokumentieren im Folgenden die Laudatio von Thomas Assheuer (“Die Zeit”) sowie die in Darmstadt gehaltene Dankrede Wolfram Schüttes .

Wolfram-Schuette-by-Markus-HintzenWofür steht WoS?

Eine Laudatio auf Wolfram Schütte von Thomas Assheuer

Wer das Glück hatte, lieber Herr Schütte, in Ihr in­tellektuelles Magnetfeld zu ge­raten, der lernte von Ihnen sehr bald und sehr ent­schieden dies: das Priva­te und das Persönliche dürfen keine Rolle spielen. Im kulturellen Sektor, oder wie sentimenta­le Menschen zu sagen pflegen: im „Feuilleton“ geht es um die Sache, und zwar nur um die Sache. Das Ich ist eine Eiserne Ration, denn es zählt die Kunst und nicht der Hausbesuch. Der Künstler verschwin­det in sei­nem Werk, der Intellektuelle in seinem Ar­gument, und der Kritiker verschwin­det in seiner Kri­tik. Was sonst noch über die Einzelarbeiter des Geistes zu sagen ist, das bleibt diskret unter uns.

An diesen guten Brauch will ich mich halten. Ich werde kurz sagen, was Sie der Erwähnung vermut­lich kaum für nötig erachten, nämlich dies: Dass Sie der herausragende Kopf einer Frankfurter Zeitung waren, die es in ihren bes­ten Zeiten mit den Mitbewerbern allemal aufnehmen konnte und über die man heute sa­gen muss: Nachdem Ihr WoS, Ihr Wolfram Schütte, von Bord gegangen war, da war die FR schon nicht mehr die Alte, und heute ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, verschwunden in den offenen Armen jener „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die in ihrem Feuilleton das „Gespenst des Kapitals“ unterdes ebenso zu fürchten scheint wie Wolfram Schütte vor dreißig Jahren.

Ich er­wähne beiläufig, dass Ihr Name untrennbar verbunden ist mit dem frü­hen Aufstieg und dem späten Ruhm des neuen deutschen Films; er ver­dankt Ihnen unendlich viel, er verdankt Ihnen die Anerkennung durch Kritik. Sie brannten für die „weiße Magie der Siebten Kunst“, so wie Sie immer für etwas „brennen“. Auf den ersten Blick haben Sie Rainer Werner Fassbinders Ge­nie erkannt und gegen die kompakte Majorität des gesunden Volks­empfindens verteidigt, das in Gestalt unserer welt­berühmten Boulevardzeitung und in unsterbli­cher Treue zu sich selbst dem Regisseur gleich wieder das Maul stopfen wollte.

Sie erfanden jedoch nicht nur eine Kritische Theo­rie des neuen deutschen Kinos; Sie haben im Feuilleton die kulturell Ausgehungerten in Empfang ge­nommen – jene Neu­gierigen, die dem Halbdunkel der langlebigen fünf­ziger Jahre knapp entronnen und vom „Jargon der Eigentlichkeit“ zermürbt waren. In Empfang genom­men haben Sie auch die ganz Jungen, die von Ih­ren Deutschlehrern mit staatstragenden Fibeln wie „Wort und Sinn“ abgespeist worden waren, mit ei­ner scheintoten Literatur, die dem Le­ser mit je­der Zeile versicherte, ihre Verfasser seien unter Hitler sau­ber geblieben.

Ja, er existierte leibhaftig: Der nachwirkende Geist der Adenauer­zeit war kei­ne Erfindung der „Frank­furter Rundschau“, es gab diese intellektuell ver­klebte Bürgerlichkeit, die Tho­mas Mann für einen Verräter hielt und sich vor der deutschen Schuldgeschichte mit Goethe in die höheren Sphä­ren einer tiefe­ren Geistigkeit davon stehlen wollte – in eine nationale Bil­dungsreligion, die angeblich im klassischen Weimar ihren Anfang nahm, um schamlos verschämt an Buchenwald vorbei aufzu­steigen und uns als nebulöser deut­scher Geist aus der Zukunft entge­gen zu kommen.

Die Restauration des „deutschen Geistes“ nach der Epoche seines Selbstver­rats – das machten Sie, der unmissverständliche Linke, nicht mit, und Ihre ganze Zeitung machte sie nicht mit. Das Feuilleton, das Sie zusammen mit Peter Iden und Hans-Klaus Jungheinrich auf die Beine stellten, antwortete den tonangebenden Kreisen allerdings mit einer ganz unschein­baren Geste: Schaut her, es gibt noch etwas ande­res auf der Welt. Andere Bilder, eine andere Musik, ein anderes Denken, und vor allem: eine andere Literatur, es gibt auch Heinrich Mann und Arno Schmidt und viele andere. Und sie sind fabelhaft.

Ihnen, Herr Schütte, hatte es vor allem der ins Le­ben vernarrte Existenzialis­mus angetan, Jean-Paul Sartre und Albert Ca­mus, die keine politischen Freunde waren – Sie aber hielten beiden die Treue; zwei geschiedene Soli­täre, vereint durch das Lebensgefühl, dass es sie durch einen absurden Zu­fall auf eine Welt ver­schlagen hat, in der man sich in Einsamkeit und Freiheit auf nichts und niemanden verlas­sen darf. Nur auf sich selbst.

Wie kein Zweiter warben Sie für die „Nouvelle Vague“, Sie machten das Publikum – da hatten Sie bereits Gertrud Koch und Karsten Witte ans Haus gebunden – mit Claude Chabrol, Eric Rohmer, Francois Truffaut und vielen anderen bekannt, vorneweg aber mit einem artistischen Melancholik­er, Ihrer vielleicht größten cineastischen Leidenschaft: dem Re­gisseur Jean-Luc Godard. Wie vor ihm Sartre, so hatte auch Godard seinen Marx mit Heidegger ge­lesen – diese Doppelbelichtung war brisant, und Sie wussten es. Der Film „Die Verachtung“ gerät in antikisierender Kulisse zu einer Abrechnung mit dem ‚Zeitalter des (amerikanischen) Weltbildes‘, zu einer ganz unpathetischen Klage über die Kommerzialisierung von Kunst und Liebe in einer Gesellschaft, de­ren Insassen ihre Worte tauschen wie Geld.

Godards delikates Spiel mit der Wiederkehr der Tragik im aufgeklärten kapitalistischen Europa hätte politisch ernsthaft schief gehen kön­nen, aber Sie schienen dem Leser zu versichern, in diesem speku­lativen Zugriff bestehe nun einmal die Freiheit der Kunst und die Radikalität der ästhetischen Moderne. Bei Godard müsse man sich keine Sorgen ma­chen – er stehe mit beiden Beinen fest auf Voltaire’schem Podest.

Von heute aus gesehen war dieser Schachzug kein Zufall, er war Ihr Programm. Sie machten die Philoso­phen, Schriftsteller und Regisseure aus Frankreich zu unseren Alliierten und ernannten Godard und Fassbinder grenzüberschrei­tend zu „diametralen Freunden“, zu compagnons de route. Mit einem Wort: Sie imprägnierten die Nachkriegskultur mit bedenkenloser ästhetischer Freiheit UND republi­kanischem Geist. Das ist Ihr Beitrag zur Selbstauf­klärung der Bundesrepublik, und dieser Beitrag ist bedeutend. Der Funke sprang über, und als schließlich die Provinz urbani­siert war und man einfach lesen musste, was Schütte aus Cannes zu berichten hat, da schien sogar ein anderer Blick auf die eigene kulturelle Herkunftsgeschichte möglich zu sein.

In dieser Wendung steckt die Ironie all der zermür­benden Kulturkämpfe, die Sie mit dem Florett und wahrhaft furchtlos mit ästhetisch und politisch An­dersgläubigen ausgetra­gen haben. Ausgerechnet das als links verschriene Feuilleton, jene verhass­ten Kul­tur-Achtundsechziger, die mit chronischer Besessenheit bis heute für al­les Widrige haftbar gemacht werden – ausgerechnet diese vaterlands­losen Ge­sellen halfen mit, das Selbstbild der schuldtraumatisierten Nachkriegsrepu­blik zu schär­fen.

Mich erinnert dies an Wim Wenders „Im Lauf der Zeit“, an jenen Film, der wie unter Schock und in unendlich langsamen Bewegungen die deutsch-deut­sche Grenzlandschaft durchmisst, die manifes­te Leere der geteilten Nation, ihre zerbombten und abgerissenen romantischen Traditionen. Gegen Ende trifft Hanns Zischler an einer winzigen Bahn­station einen Jungen, sie spre­chen über das Leben der Wörter und die veränderte Wahrnehmung der Welt, als müsse das Land neu alphabetisiert wer­den. Das war ein Akt tastend trauernder Wiederaneignung, nichts wird hier entkriminalisiert und verdrängt. Es schien, als hätte erst die Konfrontation mit der ästhetischen Moderne – also Ihr Programm! – die Sicht auf das Alte und Verlorene geöffnet, nicht als Freispruch, wohl aber als kritische Prüfung. Sie, Herr Schütte, verehrten die nicht-reaktio­näre deutsche Romantik, und Jean Paul ist Ihr Held. Und 1999, zu Goethes 250. Geburtstag, haben Sie – auch das war eine Wiederaneignung – dem Weimarer „Dichterfürsten“ eine überbordende, zu Recht ge­rühmte Beilage gewidmet, nicht mit subalterner Devotion, sondern mit herme­neutischer Liebe.

Nun gut, das ist neudeutsche Kulturgeschichte, sie sagt nichts über die Hin­tergrundstrahlung Ihrer Tex­te, über Ihre heimliche Passion. Wofür also steht die Chiffre WoS?    

Ich habe eine Vermutung und nähere mich zu­nächst Ihren Empfindlichkeiten. Kunst als sinnstiftende Deckungsreserve, als tröstender Aus­gleich für erlitte­ne Modernisierungsschäden im Sp­ätkapitalismus? Das war bekanntlich die bittersüße Medizin neukonservativer Doktoren, aber dass Sie sich nach dieser Rezeptur die Finger ge­leckt hätten, wird man nicht behaupten können. Auch mit der Ästhetik der „Postmoderne“ schlossen Sie keine Freundschaft, denn die Postmoderne war für Sie der Blindenstock des Kritikers, der sich im Gar­ten des Schönen verlaufen und den Mut zum Urteil verloren hat. Und die „Kultur für alle“, der gut­artige sozialdemokratische Kulturbegriff? Natürlich, sag­ten Sie, „Kultur für alle“, für wen denn sonst. Aber Kunst als ästhe­tisch aufgeschäumte Sozialkri­tik? Daran wollten Sie nicht glauben, daran wollten Sie sich nicht einmal gewöhnen.

Dass es in Ihren Kritiken ästhetisch komplizierter zuging, liegt naturgemäß an Frank­furt, an der Stadt der Aufklärung in ihrer intellektuell reizvollsten Spiel­art, nämlich als Dialektik, oder volkstümlich gesagt: Als Einsicht, dass Aufklä­rung idiotisch wird, wenn sie von ihrem Gegenstand nichts mehr übrig lässt und am Ende auch noch die Bilder und Erzäh­lungen ruiniert, in deren Spiegel die aufge­klärte Freiheit sich selbst betrachtet. Das Resultat ist leere Emanzipation; sprachlos blickt sie herab auf „Aufkläricht“, und das meint bei Ihnen das trau­rige Häufchen aus sinnlosem Sinn, es meint den preiswert errungenen Tri­umph des Aufklärers über das Alte und schein­bar Unver­ständliche.

„Aufkläricht“ stammt nicht zufällig aus der Begriffs-Schmiede Ernst Blochs, der wusste, dass man sich davor hüten musste, das politisch Gerechte mit dem Existenziellen zu verwechseln, die Logik der Gesellschaft mit dem Le­ben des Subjekts. „Die ge­nossenschaftliche Gütererzeugung“, also der So­zialismus (und das ist jetzt Bloch und nicht Schütte), nimmt vom Einzelnen das „erbärmlich Störende hinweg, aber sie lässt dafür das Leid, die Sorge und die ganze sozial unaufhebbare Proble­matik der Seele stärker als jemals hervortreten.“

Sie ahnen, worauf ich hinaus will: Ich will sagen, dass das existen­zialistische Timbre Ihrer Texte von Anfang kaum zu überhören ist, die Semantik des un­verkürzten Lebens und das Ver­langen nach In­tensität, nach Erfahrung und Gegenwärtigkeit. Fassbinders Werk, schrieben Sie, kreise um „Lie­be, Tod, Verrat, Freundschaft, Unterdrückung, Ab­hängigkeit, Gewalt“ –  solche „Künst­ler“ bräuchten wir, „damit wir uns selbst nicht aufgeben.“ Kunst kriecht hier nicht auf der Geisterbahn des unab­wendbaren Fortschritts, sie ist Existenz­verschärfung, sie steigert, mit Bloch gesagt, die „Problematik der Seele“ – be­vor die Theo­rie zulangt und lebende Menschen, das ist wieder Ihre Formulie­rung, „an den Gitterstäben der So­ziologie erhängt“.

Das ist kein anti-bürgerlicher Kunstbegriff; es ist ein anderes Verständnis der bürgerlichen Kunst und doch die entschiedene Anti-These zur konservati­ven Kunstreligion. Die Kunst­religion, das ist Ihr Ver­dacht, liest jene Wahrheiten aus dem Ästhetischen heraus, die sie vorher stillschweigend in sie hineingelesen hat. Zum Skandal wird die Kunstreligion dann, wenn ihre unsterbliche „Tiefenwahrhei­t“ zynisch ist gegenüber den Sterblichen, wenn sie mit den Wölfen heult oder Propaganda macht für die Herren des Morgen­grauens. Das war der moralische Grund (und das Wort Moral haben Sie nie denunziert), warum Ihre ästhetische Verehrung für den größten lebenden Dichter deutscher Sprache in ei­ner serbischen Nie­mandsbucht ein jähes Ende fand.

Allerdings: Ihre Behauptung, die Wahrheit liege nicht, wie in der Kunstreligi­on, hinter dem Werk, sondern im Werk selbst, in seiner Komposition, be­schert dem Kritiker eine Menge Arbeit. Denn daraus folgt ein schier maßloser Selbstanspruch an Genauigkeit und philologisch dichte Beschrei­bung.

Tatsächlich mikroskopieren Sie Kunstwerke; Sie hören das Farbenspiel der Texte und entziffern die Bilder – und zwar inständig, mit einer Geduld und Ausführlichkeit, die sich nicht damit erklären lässt, dass Zeitungen damals nicht nur lange, sondern sehr lange Texte druckten. Wer Kunst mit politi­scher Agitation verwechselte, dem erklärten Sie mit Godard, der Stil sei „die äußer­liche Seite des Gehalts und Gehalt der Inhalt des Stils. Sie können nicht ge­trennt werden“. Erst der ästhetische Eigensinn eines Werks unterbricht die eingespielte Wahrnehmung, und erst dann besitzen „Kino-Bilder eine seins­setzende Macht“.

Man sieht, die Kunst trägt bei Ihnen eine schwere Last, aber das ist nun ein­mal so in Frank­furt am Main, und darin folgen Sie Adorno, dem Sie ein eigen­es Buch gewidmet haben. Weil es allein um Er­kenntnis geht, weil ein Roman sogar den Weltlauf verändern kann, sind Ihre Texte auch angemessen rück­sichtlos – Sie fühlen sich für das Bildungsniv­eau Ihrer Leser nicht verantwort­lich und versu­chen erst gar nicht, multiple Meinungsanschlussfähigkeit herzu­stellen, die Einfühlung in das mutmaßliche Durchschnittsinteresse des statis­tisch ermittelten Standard-Lesers, der aus Sorge um sein Seelen­heil von ko­gnitiven Zumutun­gen verschont werden muss.

Gleichzeitig erscheint bei Ihnen die Kunst stets als gefährdete Gattung, be­droht von einer Armada übergriffi­ger Mächte, als da sind: der manipulierte Massengeschmack, Mittelmaß und Wahn der regierenden Klasse, Staatskanzleien aller Herren Bundesländer und natürlich das allesfressende Monster, die große Kulturverwer­tungs-Industrie, wobei Sie nichts gegen den Markt an sich einzuwenden ha­ben (erst recht nicht, wenn er bildschöne, unter ita­lienischer Sonne gereifte Alfa Ro­meos vom Band laufen lässt).

Gut möglich, dass ich Ihre Präventiv-Apokalypse damals übertrieben fand, aber heu­te muss ich ein­räumen: Das Ökonomische und das Kulturelle sind sich näher gekommen. Die schöne Idee, dass sich eine Gesellschaft kontro­vers, aber doch in kollekti­ver Aufmerksamkeit in seiner Kultur spiegelt und ein Bild ihrer selbst gewinnt – diese Idee ist uns fremd geworden, vermutlich müssen wir sie uns abgewöhnen.

Gewiss hat es sein Gutes, wenn nun ein überkon­fessioneller Betriebsfrieden einkehrt und die Deutungskämpfe vorüber sind, die in den Zeiten der al­ten Bundesrepublik am wehrlosen Körper der Kunst ausgefochten wurden. Damit hat sich aller­dings auch die Gestalt der Kritik verändert. Für Sie, Herr Schütte, ist Kunstkritik explo­rativ, sie ist au­genöffnend und eingreifend – sie zielt auf Erkennt­nis und Wahrheit, ihr Spiel ist Ernst.

Dieser kognitive Anspruch hat sich erkennbar er­mäßigt. Kritik ist heute eher narrativ, ein­fühlend und atmosphärisch, die Ausübenden verstehen sich zu­erst einmal als dienstbare diplomatische Mitt­ler denn als Strategen im Litera­turkampf. Chri­stopher Schmidt hat es in der Süddeutschen Zeitung in kal­kulierten Übertreibungen unlängst so beschrieben: Der Kritiker serviert gute Laune, er sagt oft „Ich“ und duzt den Leser wie einen alten Kumpel; er cremt ihn mit sahnigen Sätzen ein, kurz: er aurati­siert das Werk im Sonntagszeitungs-Feierton, aus durchaus berechtigter Sorge, es könne in der Gesellschaft des Spektakels unbesungen untergehen.

Der Status des Kulturellen, so heißt das, hat sich in den ästhetisierten Le­benswelten des symbolischen Kapitalismus verändert, und das haben Sie schon zu einer Zeit gesehen, als davon noch gar nichts zu sehen war. Der Künstler und sein Kritiker sind heute Teil eines Star-Systems, von ihnen wird er­wartet, dass sie die vertraute Welt nicht fremd, son­dern deren verstörende Fremdheit vertraut und plausibel machen. Erlebnis statt Bedeutung; affekti­ver Kult statt entbergende Kritik.

In diesem Kunstsystem soll ästhetische Erfahrung nicht – wie bei Ihnen – die Macht der Gewohnheit unterbrechen; sie soll beruhigende Weltsynthesen erzeugen und uns Furchtsamen versichern, dass die Realität, die tag­täglich in ihre Bestand­teile zu zerfallen droht, im­mer noch als eine zusammenhängende existiert. Für diese therapie-ästhetische Stimmungsaufhel­lung, für den Trost dieser neuen Kunstreligion, he­ben wird dankbar jeden semantischen Krümel auf, der vom Tisch des abwesenden Herrn zu Boden fällt.

Einen Vorwärtsverteidiger wie Sie, Herr Schütte, wird das nicht anfechten – denn gegen die Tendenz des Zeitalters muss das einzelne Werk nun erst recht ins Leben interpretiert werden. Wenigs­tens daran hat sich nichts geän­dert, und wir dürfen beruhigt jenem Rat folgen, den Sie uns mit Godard auf den Weg gegeben haben. „Wir müssen lernen, die Bilder (der Kunst) anzu­schauen wie Mediziner Röntgenauf­nahmen und Polizisten Fahndungsfo­tos.“

Thomas Assheuer

Foto: Markus-Hintzen.

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