Geschrieben am 1. August 2018 von für Litmag, Specials, Story-Special 2018

Story: Katja Bohnet: Das vierte Zimmer

Zimmer

Hätten wir Ani nicht reingelassen, wäre Sam nicht ertrunken. Zumindest nicht an diesem Tag. Aber realistisch gesehen, hätte Ani auch Zola nie getroffen. Die einen kommen, die anderen gehen.

Ob ein Dienstag ein guter Tag fürs Ertrinken ist? Keine Ahnung. Gibt es gute Uhrzeiten? Besser als andere? Kündigungen, Krankheiten, Ertrinken: Gibt keinen guten Tag dafür. Reicht ja, drei Minuten wegzuschauen. Mal darüber nachgedacht, was man alles in drei Minuten betrachten kann? So gesehen …

Als Ani mit Sam 2015 über Wien nach München kam — dort am Bahnhof: Bürger mit Decken, Kleidern, Brot —, da war Berlin weit weg. Eher eine deutsche Illusion. Aber irgendwie schafften sie es bis dorthin. Lageso, die langen Schlangen, das Sitzen, Warten, im Freien übernachten, wenn sich bis am Abend nichts getan hatte. Das Zimmer war frei. Wir haben nicht lange überlegt.

Frieda hatte Geld. Okay, die Eltern waren reich. Ich studierte Maschinenbau und Gilda Amerikanistik mit irgendeinem Nebenfach. Als wir bei Frieda einzogen, wirkte die Bude kaum saniert. Sie hatte uns ausgewählt, weil wir handwerkliches Geschick versprachen. Gilda galt als Frau fürs Grobe: Parkettabschleifen, Tapetenabrissbirne, Sanitär. Ich, der Quotenmann, kümmerte mich um die Elektrik und sah Frieda gern beim Streichen zu. Ein Zimmer war noch frei, aber Frieda wollte es nicht vermieten. „Gäste sind wichtig“, meinte sie. Ihre Großmutter habe stets einen Teller mehr auf den Tisch gestellt für einen unbekannten Gast.

Ist ja nicht so, dass die Probleme aufhören, nur weil du `ne große Bude hast. Frieda kratzte sich, weil sie ständig etwas juckte, Gilda verschwand immer wieder mal in der Tagesklinik. Derweil fraß ich den viel zu vollen Kühlschrank leer. Ich hatte ständig Liebeskummer. Männer, versteh die einer, echt.

Ich glaube, die letzten Klausuren waren schon geschrieben. Auf jeden Fall hatten wir Zeit. „Ich mach das“, sagte Frieda, die gerade mal keinen Schub hatte. Sie kratzte sich kaum, und ich war frisch verliebt. Gilda nickte zustimmend, was sie meistens tat, wenn sie nichts störte. Frieda ging direkt auf Ani und Sam zu. Im Nachhinein denkt man sich, was alles hätte passieren können, wenn nicht … Aber alles passierte eben genau so.

Ani sprach ein paar Brocken Deutsch. Irgendwann kam sie mit. Das vierte Zimmer war also belegt. Sam schrie nachts häufig, aber die meisten in seinem Alter machen das auch ohne Fluchterlebnisse. Ani sprach wenig, aber sie packte an wie Vier. Immer war der Tisch gedeckt, die wackeligen Holzbeine endlich fest verschraubt. Es roch schon nachmittags nach Essen, und durch die geputzten Fenster konnte man wieder nach draußen sehen. Die Kastanie warf ihre Blätter ab, es schneite heftig und der Frühling quälte sich wie ein Langschläfer viel zu spät erst aus dem Bett. Erst dann erwähnte sie die weiten Wege. Und ihren Mann, der sie verlassen hatte als sie schwanger war. Die überfüllten Boote und Decken aus Alufolie, die knisterten. Busse, Lager, Zelte, Feldbetten.

Als Ani und Sam im Juni die temporäre Duldung bekamen, fuhren wir häufig an den See. Sam konnte jetzt Worte wie „Superman“ und „Biomüll“. Er hatte dunkle Haare und unfassbar weiche Haut. Er hatte die gesamte WG im Griff. Ani musste mal, Frieda schlief auf der karierten Picknickdecke und Gilda las. Ich nickte nur, als Ani fragte, ob ich kurz nach Sam schauen könnte. Daumen hoch, na klar.

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Woran man sich in solchen Momenten noch erinnert, gewinnt mit jeder Minute an Schärfe. Mit dreiundzwanzig hast du ja schon jede Menge Erinnerungen. Keine von denen ist so klar. Da war ein Typ mit Sixpack und ein Drahtiger mit Zopf, der mir gefiel. Sam planscht im flachen Wasser. Zwei Drittklässler stritten um ein Stück Melone. Sam spritzte ein anderes Kind nass, das vor Lachen quietschte. Eine Studentin las ein Buch, dessen Cover mir bekannt vorkam. Sam beobachtete etwas im Wasser. Er bewegte sich kaum dabei. Ein Pärchen unterhielt sich flüsternd, aber die Körperhaltung verriet ihre Konflikte. Meine Augen suchten Sam. Ich stand auf. Ging ans Wasser. Nichts. Weder links noch rechts. Rief seinen Namen. Nichts. Ich lief zurück. Ganz ruhig fragte ich Gilda: „Wo ist Sam?“

Ani kam zurück, ich stieß die Worte nur so hervor. Wir rannten wieder zum Seeufer. Ich spürte jedes Molekül, das durch meine Blutbann lief. Menschen in Aufruhr. Gildas Gesicht bestand nur noch aus Augen. Friedas Haut schrie Alarm. Zeit, diese verdammte Ewigkeit.

Anis Zimmertür blieb zu. Sie stellte das Kochen ein. Zwei Stühle wackelten, als seien sie verunsichert, und niemand reparierte sie. Die WG roch schal. Nachts schrie niemand mehr. Ich war in Behandlung. Wenn ich Tee trank, tanzte die Tasse auf dem Unterteller, als habe sie jemand unter Strom gesetzt. PTBS. Die Tabletten machten das mit mir.

Der Mann, der Sam aus dem Wasser gezogen hatte, als er schon nicht mehr atmete, hieß Zola. Er arbeitete Schicht in einer metallverarbeitenden Fabrik. Wenn er frei hatte, besuchte er uns in der WG. Seine Hand strich mir über den Rücken, wenn ich tonlos heulte. Gelegentlich öffnete Ani ihm die Tür. Im Oktober zog ich aus und Zola ein.

Gestern erhielt ich eine Karte, auf der ein Foto klebte. Ani und Zola Arm in Arm. Daneben zwei Kinder, in deren Gesichtszügen ich Sam erkannte.

Katja Bohnet

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Katja Bohnet hat viele Sachen gemacht, war TV-Moderatorin, Philosophiestudentin, ist Mutter, Schriftstellerin, Herland-Frau.

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