Geschrieben am 29. Juni 2011 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Sachen machen

Sachen machen: Kindheitstraum

Nachtschicht

– Isabel Bogdan begibt sich für CULTurMAG ins Handgemenge mit den Dingen und probiert skurrile, abseitige und ganz normale Sachen aus. Diesmal hat sie sich einen Kindheitstraum erfüllt.

Nach der Abendveranstaltung in der schönsten Buchhandlung Hamburgs kaufen die Gäste noch Bücher, trinken noch ein Glas Wein, halten noch ein Schwätzchen. Dann wird hinter den letzten Kunden abgeschlossen, es wird aufgeräumt, die Kassenabrechnung gemacht, das Wechselgeld in den Tresor geschlossen, das Licht zur Hälfte gelöscht, und auch die Buchhändlerinnen verlassen den Laden. Übrig bleiben nur meine Freundin Anja und ich, wir haben uns hinter den Kinderbüchern versteckt und lassen uns heimlich einschließen, niemand hat uns bemerkt.

Das ist natürlich gelogen. In Wahrheit hatte ich in der Buchhandlung angefragt, ob ich mal einen Tag mitarbeiten kann, für „Sachen machen“, einen Tag Buchhändlerin sein, das stelle ich mir ganz spannend vor. Die Buchhändlerin allerdings fand, das sei doch langweilig und würde niemanden interessieren, ob ich mich nicht lieber eine Nacht einschließen lassen wolle.

Aber hallo will ich! Kindheitstraum! Die ganze Nacht mit Büchern spielen! Zu zweit macht es natürlich noch mehr Spaß, und so sind Anja und ich nun also die ganze Nacht zu zweit allein in der Buchhandlung.

Als Erstes packen wir Oliven, Käsewürfel, Cracker und Obst aus und stellen alles auf den großen Lesetisch. Ein bisschen unheimlich ist es, die großen Schaufenster, draußen ist es dunkel, man sieht kaum was, wenn man rausguckt, aber wir sind drinnen natürlich gut zu sehen. Ein bisschen exponiert fühlt man sich da schon, aber mit der Zeit vergessen wir, dass wir hier auf dem Präsentierteller sitzen. Es dauert nicht lange, da sitzen oder liegen wir im Gang auf dem Boden, weil wir uns irgendwo festgelesen haben. All die Bücher, die man immer mal im Vorbeigehen irgendwo wahrgenommen hat, zu denen man Rezensionen gelesen hat oder wo man einfach das Cover hübsch findet oder schon immer mal was von einem Autor lesen wollte, die können wir uns jetzt in Ruhe ansehen. Im Laufe der Nacht wachsen unsere „Kaufen“-Stapel, und meiner schrumpft auch wieder, weil ich bald Geburtstag habe. Stattdessen wächst der Wunschzettel. Und schrumpft, denn es stellt sich raus: stehen doch nicht nur tolle Bücher drauf.

Ich lese endlich in Hansjörg Schertenleibs „Regenorchester“ rein, gleich auf der ersten Seite ein paar eigenartige Formulierungen, darunter ein abgeschlossenes Kleid, Anja!, rufe ich quer durch die Buchhandlung, was ist ein abgeschlossenes Kleid? Keine Ahnung, ruft sie, was? Abgeschlossen? Was liest du denn fürn Quatsch? Aber da habe ich schon weitergelesen und bin irgendwie gleich gefangen von der Stimmung in diesem Buch, ab auf die Wunschliste, das möchte ich gern lesen. Trotz abgeschlossenem Kleid. Dann Sven Regener, „Meine Jahre mit Hamburg-Heiner“, gesammelte Blogtexte, schnarch, ich finde sie öde. Natürlich bin ich in Sven Regener verliebt, wenn er Musik macht, aber das Buch brauche ich nicht.

Anja kommt aus der Ecke mit den Bildbänden und zeigt mir ein Pop-up Buch über Schuhe, wundervoll. Was Menschen sich für einen Quatsch ausdenken, einfach nur, weil es schön ist, das ist doch sensationell.

Ich lese Peter Stamm, „Seerücken“. Ein bisschen umständlich, aber auch schön, mal sehen. Bleibt auf dem Wunschzettel. Dann Hannes Köhler, „In Spuren“, das aktuelle Buch aus dem Mairisch-Verlag, aus dem man eigentlich sowieso unbesehen alles kaufen kann. Tolle Leute, toller Verlag. Auf die Wunschliste.

Wieder kommt Anja aus der Bildbändeecke (Anja ist Grafikerin, sie ist länger in der Ecke beschäftigt) und bringt eine weitere Unfassbarkeit: „Famous Faces“. Tiere, die mit Photoshop oder so was auf Prominente gestylt wurden. Unfassbar. ABBA sind drin, Michael Jackson, der Schwarze aus dem A-Team, die Blues Brothers, irgendwelche Rapper, die wir nicht kennen, und Leute, wo wir denken, jaaa, genau, das ist, na, hier … dings. Es gibt kein Verzeichnis, nichts steht dabei, denn sonst würde sich der Künstler wahrscheinlich vor Abmahnungen kaum retten können. So bleibt es ein Ratespiel, es ist lustig, aber, mal ehrlich: Wer kauft denn so was?

Was auch dauernd passiert: Wir sehen all die Bücher, die wir längst zu Hause, aber noch nicht gelesen haben. Wie es scheint, brauchen wir gar keine Nacht in einer Buchhandlung, wir brauchen keinen neuen Lesestoff, wir brauchen acht Wochen Urlaub für den alten. Hustvedt, klar, hab ich schon. Nicole Krauss, klar, hätt ich längst lesen wollen. Kerouac, ’türlich, hab ich aber noch nicht reingeguckt. Anja legt die neue Vanderbeke auf ihren Kaufen-Stapel, ich auch, die kann gleich unbesehen mit, und hey, da steht Karen Duves Regenroman, den ich schon so lange lesen wollte, der kommt auch mit.

Wie, schon zwölf Uhr? Das ging aber schnell. Eigentlich wollten wir noch Dummheiten machen. Wenigstens ein Schaufenster umdekorieren oder so. Leider ist in einem Fenster die Bestsellerliste, da gibt’s nichts umzudekorieren, im anderen sind ausschließlich gelbe Bücher, da gibt’s auch nichts dran zu ändern, es sieht total toll aus. Ich überlege kurz, die gelben Bücher durch lauter Bücher zu ersetzen, die von Hamburger Übersetzern übersetzt wurden, aber das würde natürlich kein Mensch kapieren, da müsste man schon einen Zettel dazuhängen.

Anja hat Russisch Brot mitgebracht, wir wollen wenigstens eine Keksbotschaft hinterlassen. DIE BESTEN STORIES oder so, das wäre schön doppeldeutig (Die besten: stories!), denn die Buchhandlung heißt stories! Mit Ausrufezeichen. Dummerweise sind in der Tüte ungefähr acht O, drei 4en, ein paar X, nicht mal ein zweites S für stories ist dabei. „THX, ISA“ ist das einzige, was wir zusammenkriegen, aber das bringt’s ja auch nicht. Also essen wir die Kekse.

Und zwar vor der Wand mit den Filmen, Film ist so gar nicht mein Metier, Anja sagt, die sind alle toll und erzählt mir was dazu. Außer zu „Besser geht’s nicht“, den hat sie nicht gesehen, aber ich. Ha! Über „Bube, Dame, König, GrAS“ sagt sie, sei total brutal und total lustig, mir hat sich die Lustigkeit von Brutalität allerdings noch nie erschlossen, ich finde schon Bud Spencer nicht lustig. Anja tut entsetzt, das könne man doch nicht vergleichen. Bud Spencer ist auch lustig, aber anders.

Wir gucken ein paar Kochbücher an, Breakfast Lunch Tea gefällt uns, mit Gerichten aus der Rose Bakery, tolle Bilder drin. Dieser Brotlieferant zum Beispiel … Wir essen noch ein bisschen Brot. Und Käse.

Wieso ist das schon viertel nach eins? Ich wollte doch noch so viele Bücher lesen! Wir hatten gar keine Zeit, uns zu fragen, ob es gruselig ist, nachts allein hinter großen Schaufenstern zu sein, wo jeder reingucken kann, aber kaum jemand vorbeikommt.

In Tino Hanekamp muss ich unbedingt noch reinlesen. Ich habe ihn live bei HamLit lesen hören, da fand ich es unfassbar schlecht, schlechte Geschichte, schlecht geschrieben, alles ganz furchtbar. Meinen Begleitern ging es genauso. Und seitdem höre ich dauernd von Leuten, die es toll finden, einer davon fand es bei HamLit auch schlecht und hinterher dann doch gut. Also lese ich doch rein. Ochnaja. Nicht meins, schätze ich. Ich kann der Oh-so-Coolness von Kiez-Drogen-Suff nicht viel abgewinnen. Da lese ich lieber noch ein bisschen Kim Leine, nie gehört, ein Däne, das Cover ist so hübsch. Schöner Titel auch, Die Untreue der Grönländer, tolle Stimmung, am liebsten würde ich gleich weiterlesen, kommt auf den Wunschzettel, müssen wir schon ins Bett?

Auf dem Weg zur Toilette kommt man an den Ratgebern vorbei. Bücher mit grässlichen Titeln, die uns nicht interessieren, dazwischen ein kleines Buch, das heißt „Fuck it“. Klingt erst mal sympathisch, wir schlagen es auf und bekommen einen hysterischen Lachanfall.

Ach ja, wo wir vorhin bei Pop-ups waren, fragt Anja aus der Kinderbücherecke, die zehn kleinen Pinguine kennst du? Nein, sage ich. Was, schreit sie? Dann aber fix! Sie zeigt mir das Buch, wie wundervoll ist das denn? Wir geraten auf jeder Seite in Verzückung, kommt auf den Sofort-kaufen-Stapel. Und mit dieser Gute-Nacht-Geschichte gehen wir dann wirklich endlich ins Bett, es ist kurz vor drei.

Unser Matratzenlager haben wir im Büro aufgebaut. Zwischen den Büchern wäre es romantischer gewesen, aber erstens muss man ja nicht auch noch auf dem Präsentierteller schlafen, zweitens kommt die Putzfrau morgens ziemlich früh. Sie kommt zwar nicht ins Büro, aber die Buchhändlerin hat ihr trotzdem einen Zettel hingelegt, dass da welche schlafen, damit sie nicht einen Herzinfarkt bekommt oder die Polizei ruft, wenn sie uns bemerkt. Und irgendwann früh morgens kommt auch noch Libri und bringt Bücher. Und zwar in den kleinen Zwischenflur zwischen Buchhandlung, Toilette und Büro. Wir hören dann ja, wer wie laut ist.

Als wir uns hinlegen, stellen wir fest, dass das lauteste Geräusch erst mal irgendein Gerät ist – die Klimaanlage? Oder was? – das eine Weile rauscht und dann wieder still ist. Und dann wieder rauscht. Aber drei Uhr ist spät genug, um sofort einzuschlafen, und wenn ich erst mal schlafe, dann schlafe ich, da hält mich so ein Rauschen auch nicht von ab. Anja geht es genauso. Uns wecken erst die Libri-Leute. Sie machen ordentlich Lärm in dem kleinen Zwischenflur, werfen Kisten hinein, außerdem rauchen sie. Wir haben die Bürotür einen Spalt offengelassen, um in dem fensterlosen kleinen Zimmerchen nicht zu ersticken, und riechen das. Die beiden ahnen natürlich nicht, dass keine drei Meter von ihnen entfernt zwei Leute liegen und schlafen. Es ist viertel nach vier und fühlt sich ein bisschen an wie Klassenfahrt.

Das nächste Mal wachen wir nicht von der Putzfrau, sondern von unserem Wecker auf, es ist acht Uhr, wir drehen uns nochmal kurz um, latschen dann einmal im Schlafanzug durch die Buchhandlung und erschrecken die erste Buchhändlerin, die um halb neun kommt und den Laden aufschließt: Sie war tatsächlich die einzige, die nicht wusste, dass wir dort übernachten. Sie wohne doch ganz in der Nähe, sagt sie, und habe ein Gästebett, da hätten wir doch auch bei ihr übernachten können! Das ist natürlich ganz zauberhaft, immerhin kennen wir uns fast gar nicht. Aber es ging ja nicht darum, dass wir keine eigenen Betten gehabt hätten.

Die Putzfrau, stellt sich heraus, hat den Zettel gefunden und ebenfalls einen geschrieben. Es sei jetzt halb sechs, sie traue sich nicht zu saugen. In dieser Buchhandlung ist offenbar alles wundervoll, sogar die Putzfrau. Wir bekommen Kaffee und Croissants zum Frühstück und werden ganz hibbelig, weil die Librikisten ausgepackt werden – neue Bücher! Jetzt waren wir schon die ganze Nacht da, und schwupps, haben wir schon wieder nicht alles gesehen! Wir werden wiederkommen müssen. Aber erst mal tragen wir unsere Bücherberge nach Hause und tauchen für eine Weile ab.

Isabel Bogdan

Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren Literatur aus dem Englischen (u. a. Jonathan Safran Foer, Miranda July, ZZ Packer, Tamar Yellin, Andrew Taylor). Sie lebt und arbeitet in Hamburg. Zum Blog von Isabel Bogdan.