Geschrieben am 20. März 2013 von für Litmag, Neuer Wort Schatz III

Neuer Wort Schatz 3: Ann Cotten

cottenμελαγχολία

Ann Cotten

De atra bile

Vorgestellt von Fabian Thomas

 

De atra bile

A terrible claw has hit me
es wohnt in der fototapete
frag mich nicht I don’t know
what it is aber es ist
atrum ein schwarzes great
es gibt weniger vokabel
at the edge of cigarettes
nett nur mehr furchtbar
war der huf an der schläfe
die kante von etwas less
denn what I’ve ever been
vornüber wenn ich sie zumache
ein schlüssel zu was ich nicht
wissen will at four at night in a dark rain
lümmeln morgens reste davon am himmel
und lachen die kinder die blätter platt
ich glaub der natur kein einziges wort
grab the grit from the pflastersteine
regne terrible pures entsetzen meiner beiden
zimmer seit meine nägel alle sämtlichen
verschollen aufgequollen mit weißlichem aufschlag sind
zu schrauben geworden in unverständlicher nacht

 

Ich glaub, mich tritt ein Pferd

„De atra bile“ ist im zweiten Kapitel des Bands „Florida-Räume“abgedruckt. Gemäß der zugrundeliegenden Autorenfiktion stammen die Gedichte in diesem Kapitel von einer gewissen Bettine und ihrer Mutter. Was hat es damit auf sich?

Das Reizvolle an Ann Cottens Buch ist die bis ins Paratextuelle hinein durchgehaltene Irreführung des Lesers durch ein Sich-selbst-nicht-erkennen-geben: Jedes Kapitel sammelt vorgebliche Zuschriften auf eine Anzeige, die zu Beginn abgedruckt ist und mit der Frage „Mit Schreiben Geld verdienen?“ lockt. Andere Beiträger sind ein Cocker, ein Geist und jemand, der sich Ann Cotten nennt. Das treibt die Nasführung auf die Spitze, zumal auch im Kapitel „Bettine & Bettines Mutter“ mehr Ann Cotten steckt als irgendwo sonst.

„De atra bile“ ist eines meiner Lieblingsgedichte aus Florida-Räume. Dazu muss man vielleicht sagen, dass ich auf Ann Cotten aufmerksam wurde, als ihr erster Gedichtband Fremdwörterbuchsonette ausgiebig rezensiert wurde, den Nachfolgeband, dem Suhrkamp einen großzügigen Einband mit Schutzumschlag spendierte, dann aber lange Zeit unbeachtet im Regal stehen ließ. Vielleicht ist es sogar der wunderbaren Webseite lyrikline.org zu verdanken, dass ich letztlich doch auch die Florida-Räume anfing zu genießen. Dort sind zahlreiche Audioaufnahmen von Ann Cotten abrufbar – unter anderem auch das in Rede stehende Gedicht, das beispielhaft für die überbordende Imagination des ganzen Bandes steht.

Der mündliche Vortrag kommt hier klar dem Text zugute. Die zwischen englisch, deutsch und französisch changierenden Verse verführen mich selbst jedes Mal zum laut Lesen und entfalten Zeile für Zeile – at four at night, in a dark rain – einen fesselnden Rhythmus. Auch die klanglichen Assoziationen, mit denen Ann Cotten arbeitet, kommen erst über die Aussprache richtig zur Geltung. Man vergleiche dafür nur die lautliche Ähnlichkeit zwischen atra bile und terrible in Titel und erster Zeile.

frag mich nicht I don’t know, weniger vokabel, ein schlüssel zu was ich nicht wissen will: Wissen, Nicht-Wissen und das Versagen der Erkenntnis sind zentrale Themen dieses Gedichts. Es ist dunkel, es ist Nacht, und dann ist da ein geheimnisvolles schwarzes gerät. atrum, die lateinische Bezeichnung für schwarz, begegnet uns bereits im Titel De atra bile, was wörtlich übersetzt Über die schwarze Galle bedeutet – ein Begriff aus der Wissenschaft der Körpersäfte, etwas geläufiger in seiner altgriechischen Variante μελαγχολία – Melancholie. Um diese terrible claw scheint es hier zu gehen, wenn at the edge of cigarettes die Vokabeln weniger werden, ein Huf an die Schläfe schlägt – ich glaub, mich tritt ein Pferd.

Aber es ist nicht nur schwarze Nacht und dark rain: Das letzte Drittel des Gedichts beschäftigt sich mit dem Morgen danach – sofern man hier überhaupt von einer zeitlichen Abfolge ausgehen kann. Überhaupt sprengt Ann Cotten spätestens hier alle Sprachzusammenhänge: Wie lacht man Blätter platt? Was ist weißlicher Aufschlag? Zwischen Himmel und Pflastersteinen sind die Naturgesetze außer Kraft gesetzt, eine Schreckensherrschaft – regne terrible – bricht an, Nägel werden zu Schrauben: Nichts passt mehr zusammen – wie die lateinisch-englisch-französischdeutsche Sprachverwirrung in diesem Gedicht.

Fabian Thomas

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier, zur zweiten Staffel hier.

Dass Gedicht ist erschienen in: Ann Cotten: Florida Räume. Suhrkamp Verlag 2010. 285 Seiten. 19,80 Euro. Foto: (c) Suhrkamp Verlag

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