Geschrieben am 2. November 2016 von für Litmag, Porträts / Interviews

John Berger zum 90. Geburtstag

john-bergerEin Meister der Wahrnehmung

– Dem Geschichtenerzähler, Kunstkenner und Lebensfreund John Berger zum 90. Geburtstag (am 5. November 2016). Von Carl Wilhelm Macke

Geschichtenerzähler

Schreibend
neben dem Tod gekauert
sind wir seine Sekretäre

Wenn wir im Schein der Lebenskerze lesen
vervollständigen wir seine Bilanz

Wo er endet
Kollegen
beginnen wir, egal auf welcher Seite des Leichnams

Und wenn wir ihn zitieren
dann weil wir wissen
das Ende der Geschichte ist nah.

Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes

Als Lyriker ist John Berger bei uns weniger bekannt. Vornehmlich im Münchner Hanser-Verlag sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Essaybänden des in London geborenen, heute in einem französischen Dorf unweit der schweizer Grenze lebenden John Berger erschienen. Leider ohne die englischen Originaltexte liegt nur ein Band vor, in dem eine Auswahl seiner Gedichte zusammengestellt ist (John Berger „Wegzeichnung“).

Einleitend in diesen Band schreibt er da was ihn an Gedichten so fasziniert: „Seit ich zwölf Jahre alt bin, schreibe ich Gedichte, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Gedichte entspringen einem Gefühl der Hilflosigkeit – daher ihre Kraft. Ein Gedicht ist zu schreiben ist das Gegenteil einer Motorradfahrt. Auf dem Motorrad reagierst du bei hoher Geschwindigkeit auf alles, was dir begegnet. Körper und Maschine folgen den Augen, die ungerührt ihren Weg suchen. Das Gefühl, frei zu sein, kommt daher, daß das Warten zwischen Entscheidung und Folge so knapp wird, und jedes Widerstreben und jeden Aufschub nutzt du zur Balance. Wenn du unterwegs bist, willst du leben, du denkst an nichts andres als an das, was vor dir liegt. Gegenüber Tatsachen sind Gedichte hilflos, doch nicht ohne Ausdauer, denn alles steht ihnen entgegen. Sie finden Namen für die Folgen, nicht für die Entscheidungen. Wenn du ein Gedicht schreibst, lauscht du auf alles, nur nicht auf das, was im Moment geschieht. Wie ein Kleid, abgestreifte Schuhe oder eine Haarbürste von etwas Abwesendem sprechen. Oder von etwas, das nicht direkt vor deinem Auge steht. Auf dem Motorrad rauscht der Fahrer vorbei, während Gedichte ihm entgegenstreben. Doch in dem Moment, wo sie einander kreuzen, empfinden sie die gleiche Trauer. Und so, meine Liebe, die gleiche Liebe…“.

In dem Gedicht „Geschichtenerzähler“ finden wir explizit oder nur in Andeutungen alles, was alle Essays und Erzählungen von Berger wie ein Basso Continuo durchzieht. Die jetzt schon Jahrzehnte anhaltende Liebe zum Erzählen von Geschichten über Menschen, die in den Mainstreammedien unserer Zeit überhaupt nicht mehr vorkommen. Das aufmerksame Registrieren kleiner Gesten oder von Details auf einem Foto oder in einem gemalten Bild. Das geduldige Begleiten eines Menschen, eines Freundes, eines Angehörigen in den letzten Tagen, den letzten Stunden seines Lebens. „Schreibend neben dem Tod gekauert/ sind wir seine Sekretäre.“

In einem seiner Essays zitiert Berger ein Gedicht des von ihm sehr geschätzten türkischen Lyrikers Nazim Hikmet: „Wäre ich ein Wort,/ würde ich leise meine Liebe sagen“. John Berger kann in einem liebevoll passionierten Tonfall über Menschen, Kunstwerke, Städte und Landschaften schreiben, als gäbe es das Wort „Kitsch“ überhaupt nicht. Wie viele Leser hat er nicht schon mit seinen Porträts etwa von Giacometti, Tizian, Morandi oder Monet an das „Sichtbare und Verborgene“ großer Kunstwerke herangeführt.

Bewegend seine Abschiede von Freunde, seine Nekrologe auf Zeitgenossen, seine Liebesbekundungen für Menschen, die eine Zeit lang sein Leben begleitet haben. Und gleichzeitig gehört er auch zu den „zornigen Alten“, die kaum eine Gelegenheit auslassen, um heftig die weltweiten Folgen des neo-liberalen Wirbelsturms auf die davon erfassten Menschen zu attackieren. „Jemand will wissen: sind Sie immer noch Marxist? Nie zuvor hat das vom Kapitalismus diktierte Profitstreben eine größere Zerstörung angerichtet als heute“. Wenn Papst Franziskus lakonisch feststellt, dass das kapitalistische System tötet, dann kann man bei Berger immer die dazu passenden Geschichten der Menschen finden, die die Opfer dieser Ausrottung von Humanität und Würde sind. Aber diesen globalen Prozess beschreibt Berger nicht in ökonomischen Kategorien, auch nicht in politischer Programmsprache, sondern als ein auch mit neunzig Jahren noch hellwacher Schriftsteller, dem die Beobachtung eines Details wichtig ist, um das große Ganze zu verstehen.

„Manche der Fotos, die Anabell Guerrero im Flüchtlings- und Emigrantenlager des Roten Kreuzes bei Calais gemacht hat, helfen uns zu verstehen, dass die Finger eines Mannes alles sind, was von einem Stück bestellter Erde, die Innenfläche seiner Hand, alles was von einem Flussbett noch geblieben ist.“

John Berger schreibt nie in einem dogmatisch-belehrenden Ton sondern in einer mitfühlenden Sprache, die die leidenden, der Welt abhanden gekommenen Menschen nicht als Teil einer Masse sieht, sondern immer in ihrer Individualität, vor allem ihren Lebensgeschichten ernst nimmt. „Vorrangig bekämpft werden diejenigen unserer Werte, die sich aus dem Bedürfnis entwickelt haben, aufeinander zuzugehen, etwas weiterzugeben, zu trösten, zu trauern und zu hoffen.

EA Berger_25283_MR.inddIn den vorherrschenden Diskursen und feuilletonistischen Kommentaren scheint es „arme Menschen“ nicht mehr zu geben. Man spricht über Lebensstile, Moden, Computerneuheiten, aber von „Armen“ zu reden ist genau so antiquiert wie vom Marxismus. Anders John Berger, der zum Beispiel in den „Zehn Briefen über die Beharrlichkeit angesichts von Mauern“ über die Armut in Zeiten globaler Entwurzelung nachdenkt. „Das Kollektiv der Armen bleibt etwas Ungreifbares. Sie bilden nicht nur die Mehrheit auf dem Planeten, die Armen sind überall…Deshalb sind die Reichen heute in erster Linie damit beschäftigt, Mauern zu bauen – Mauern aus Beton, aus elektronischen Überwachungsanlagen, Minenfeldern, Grenzkontrollen…“

In den Essays von John Berger begegnen wir einem Repräsentanten jener Kultur, in der es noch keine Internet-Suchmaschinen und kein Wikipedia-Online-Lexika gab, in der man noch für lange Zeit vor einem Kunstwerk verharrte, in der man noch, in der starken Sprache von Berger formuliert, um „Brot und Würde kämpfte“. Seine Texte sind ein Beispiel dafür, dass man an diese Zeit und an diese Weltsicht erinnern kann ohne in Verbitterung oder Altersstarrsinn zu verfallen.

Aus Anlass seines 90. Geburtstages hat der Hanser-Verlag jetzt eine Anthologie mit Schriften John Bergers über den ‚Augenblick der Fotografie“ veröffentlicht. Jeder einzelne der hier versammelten Texte verdient es vorgestellt und diskutiert zu werden. Hervorzuheben ist aber ganz besonders das Gespräch mit Sebastiao Salgado, einem der bedeutendsten zeitgenössischen „Weltfotografen“. Sich selber stellt Berger zu Beginn des Gesprächs mit einem für ihn so typischen ‚Understatement’ vor: „Nationalität: Brite. Beruf: Schriftsteller. Ausgebildeter Maler. Ich versuche Worte für das zu finden, was ich sehe.“

Als treuer Leser seiner Bücher kann man nur ebenso lakonisch antworten: es ist Berger beglückend oft gelungen, Worte zu finden, um unsere Augen zu öffnen.

Carl Wilhelm Macke

John Berger: Wegzeichnung. Übersetzt aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes u.a. Hanser, München 2001. 104 Seiten. 13,90 Euro.
John Berger: Der Augenblick der Fotografie. Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes u.a.. Carl Hanser Verlag, München, 2016. 271 Seiten. 22.00 Euro.

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