Geschrieben am 4. November 2015 von für Film/Fernsehen, Kolumnen und Themen, Litmag, News

Dietrich Kuhlbrodt über Christoph Schlingensief

KuhlbrodKasparEy, hör doch mal zu!

Dietrich Kuhlbrodt über Christoph Schlingensiefs Filme und die Zusammenarbeit mit dem Regisseur, Autor und Aktionskünstler.

Schlingensief. Die Zeit der Nachrufe ist vorbei. Die Zeit der Vorworte war nie gekommen. In Schlingensiefs Filmen ging es um Bilder. Die zu finden, und wieder zu verwerfen waren. Worte, Dialoge, gar ein verbindliches Drehbuch, – all das hätte nur gestört. Wie alles Vorgesehene. Noch in den 1990er Jahren. Sophie Roys deklamierte in der Volksbühne einen Schillermonolog. Schlingensief schickte eine Behinderte hin, ihr laut reinzuquatschen. Es funktionierte. Sophie reagierte nicht als Schiller-, sondern als Sophiefrau.

Im Jahr 1985, in „Menu Total“, spielte ich mit. Und dann war ich 20 Jahre lang dabei. Film, Theater, Performance. 1985 also spielte ich einen von der fiesen, lauten Elterngeneration, denen das kleine Kind (Helge Schneider) hilflos ausgesetzt war. Schlimm die Rolle. Wie spielen? Schlingensief: „Nicht spielen! Sei du selbst!“ Okay, schauspielern kann ich sowieso nicht. Nie gelernt. Ich selbst aber als der Erwachsene, wie ich ihn seit 1968 immer gehasst hatte? Aber nun, hallo! – ich konnte mein Haßobjekt aus mir rauskitzeln. Ich hab erst spät gemerkt, wie hilfreich Schlingensiefs Kamera dabei war. Er hatte sie in der Hand und verfolgte das Treiben seiner Darsteller. Nie mußte ich für die Kamera spielen. Sie war mir stets egal. Nein, so stimmt der Satz nicht. Es gab schon Momente, in denen ich angesichts der Kamera vor Schlingensiefs Bauch, sozusagen angesichts dessen expanded Körper, exzessive bis unkontrollierte Gefühle entwickelte.

In „Das deutsche Kettensägenmassaker“ (1990) lief ich mit der Kettensäge einer Ossifrau nach. Sie kreischte. Die Säge auch. Man hätte die Kettensäge auch abschalten können (und den Ton später einmischen). Aber dann wäre der Exzess nicht gewesen. Ich stolperte also über Stock und Stein durch eine wüste Industriebrache. Schlingensief schlingerte in der Hocke rückwärts, die Kamera vorm Bauch. Ich sah nicht auf meine Füße, sondern aufs Objektiv. „Näher!!“, schrie Schlingensief. „Viel näher! Stell dir vor, du schneidest mit der Säge in den Balg!!“ Damit hatte er mich. Gut, er sollte es haben. Und wenn er was abkriegt, dann kriegt er’s. – Schlingensief war mit der Mordlust in meinem Gesicht zufrieden.

Immer einen Schritt weitergehen, als es die Vernunft gebietet. In „Egomania – Insel ohne Hoffnung“ (1986) wollte Schlingensief den in sich ruhenden Uwe Fellensiek zum Äußersten bringen. Drehort: Hallig Hooge. Drehzeit: Winter. Die Nordsee: zugefroren. Ab und zu ein Loch zwischen den treibenden Eisschollen. Schlingensief: „Spring rein!“ Uwe: „Nein!“ Schlingensief sprang an seiner Stelle. Er tauchte nicht auf. Das Eis hatte sich drüber geschoben. Was tun! Jetzt!! Sofort!!!! Kurz, wir kriegten ihn zu fassen und packten ihn in Tilda Swintons Bett mit allen Federkissen drauf.

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Aus „Bambiland“ von Elfriede Jelinek, inszeniert von Schlingensief 2004/5, am Burgtheater, Wien, Foto: Georg Soulek

Nicht wahr? Das ist nicht bloß eine Anekdote, sondern etwas, das mir erspart, von Bataille und gescheiten Dramaturgen zu erzählen. Schlingensief brauchte keine fürs Filmen (das war beim Theater dann anders). Er war schlau genug. Er kam uns aber nie mit Autoritäten. Mit Vorbildern, das schon. Und Vorbild war er selbst. Was kann ich mir zutrauen? Wozu ist man fähig? Aber, ey, das haben wir alle nicht gewusst. Es geht viel mehr als gedacht, und darüber hinaus. Zwei Sätze Schlingensiefs dazu: „Nicht den Regisseur fragen, sondern den Raum, was er von einem will. Dem Raum nichts aufzwingen.“ (Bestes Beispiel, viel später, Lars von Trier in Bayreuth, erwägend, eine Inszenierung zu wagen. Für eine Nacht ließ er sich im Theater einschließen; zuhören, was der Raum ihm sagt. Am nächsten Tag lehnte er Bayreuths Offerte ab. Das Theater hatte ihm nichts gesagt.) Zweitens: Störungen sind willkommen. Und niemals Anlass zu einem zweiten Take. Text vergessen? Fabulieren! Sich versprochen? Auf der falschen Schiene bleiben!! Kamera weggeschubst? Ins Objektiv gucken! So wird auch das Verrückteste echt und wahr. Außerdem spart es Filmmaterial.

451-Schlingensief 100J+KS2.qxdAnlässlich seines hundertsten Geburtstags gedachte Schlingensief des Führers. „100 Jahre Adolf Hitler, die letzte Stunde im Führerbunker“ (1989), produziert ohne jede Filmförderung, aber mit 16.000 DM aus eigener Tasche. Das Material, überlagert, kam auf dunklen Kanälen vom WDR. Drehzeit: 16 Stunden. Drehort: ein Bunker in Mülheim. Licht wurde nicht gesetzt. Die Lampe an Schlingensiefs Handkamera reichte. Dafür reichte das Material aber nicht für zwei Takes. Angepeilt war jeweils ein Take. Und so geschah es. Die Kamera verfolgte, was wir rausließen. Gern in Großaufnahme oder ganz nah. Wegen des Lichts. Und wir ließen es raus. Ich hatte für einen Tag meine berufliche Tätigkeit für die Verfolgung von Naziverbrechen unterbrochen und furzte nun als Dr. Goebbels auf dem Klo. Und Brigitte Kausch, meine liebe Frau, erklärte sich nach Hitlers Tod für den neuen Hitler.

Das führt nun zu der Frage, wie wir als gestandene Achtundsechziger damit umgingen, uns in dubiosen politischen Zusammenhängen wiederzufinden. In „Terror 2000 – Intensivstation Deutschland“ (1992) grölte ich, volluniformiert, als Neonazi herum. Schlimmer: Jahre später saß ich im Hamburger Schauspielhaus in Schlingensiefs „1. Internationalen Kameradschaftsabend“ mit Horst Mahler, Rainer Langhans, Reinhold Oberlechner und Meir Mendelssohn zusammen, letzterer das Grab Ignatz Bubis schändend. Wer führte jetzt wen vor? Auwei. Das konnte schief gehen. Ging es schief?

Das war die Zeit, in der die Redaktionen von Jungle Word und vom konkret-Magazin mich um ein klärendes Wort baten. „Ich bin nicht Neonazi“, sagte ich der Jungle World, und damit waren alle Zweifel ausgeräumt. „Ich war auch Opfer“, oder so ähnlich, sagte ich in konkret. 1944 war ich zwölf und Hitlerjunge. Nachts die Bomber. Ich saß im Diplomatenkeller des Hotels Adlon, und rechts von mir ging der Gang zum Führerbunker ab. Hitler war für mich so eine Art Drache, bissig und krank, armer Opa. Neugierig war ich schon. Aber ich ging nicht hin. Das Unterlassene und Verdrängte kommt jetzt wieder hoch. Es will raus. Es geht raus. Dank Schlingensiefs Therapie. Auwei, schon wieder. Da steht es jetzt. Den Begriff »Therapie“ hat er niemals benutzt. Eher so etwas wie aufmachen, was zu ist. Oder: wenn was stört, nicht sich beschweren, sondern in die Sache reingehen und sie von innen her aufmischen.

Schlingensief und die Öffentlichkeit. Sprich die Politik. „Menu Total“ spaltete auf der Berlinale das Publikum. Wim Wenders verließ gleich nach Beginn der Vorführung das Delphi-Kino. Andrerseits gewann Schlingensief die spontane Zuneigung, ja Liebe von Tilda Swinton, die mit Derek Jarmans „Caravaggio“ (1986) auch zum ersten Mal zur Berlinale geladen war. Schlingensief konnte sich, wenn’s persönlich wurde, auf das verlassen, was bis zuletzt sein Markenzeichen blieb: auf seinen jungenhaften Charme. Wie ging das? Und: wo lernt man Charisma? Eine dumpfe Ahnung bekam ich, als wir bei der Sendung Der heiße Stuhl mitmachten. RTL Anfang der 90er Jahre. Auf dem Stuhl saß eine junge Ministerin der Bundesregierung. Kohls Mädchen, Angela Merkel. Wir attackierten sie, Schlingensief und ich. Die Merkel guckte interessiert. Nach der Aufnahme, kam sie auf uns zu, lächelte und fragte: „Seid ihr eine Blase?“ Was Schlimmes konnte sie nicht meinen, denn sie lud uns nachdrücklich ein, sie im Ministerium zu besuchen.

Menu Total Poster 1Ungefähr zehn Jahre später: Schlingensiefs voller Einsatz in der Öffentlichkeit. Quasi der Sprung ins Loch zwischen den Eisschollen. Auf dem Weg nach New York zum PS1, wo Klaus Biesenbach „The Children of Berlin“ präsentierte. Alexander Kluge hatte für sein Kulturfenster (im kommerziellen TV) ein Miniteam losgeschickt. Schlingensief, Walter Lenartz (Kamera) und mich. Schlingensief nutzte die Aktion, um Deutschland im Hudson zu versenken. Im Namen der Juden. Wir trafen uns auf dem Frankfurter Flughafen. Schlingensief im Kaftan, mit Schläfchenlocken, prima Requisiten aus der Volksbühne. Im Flieger verlangte er koscheres Essen. Er bekam es. In New York traf den jüdischen Sprecher der Veranstalter der Schlag. „Wenn Ihr so rumlauft, werdet ihr erschossen.“ Wir drei fuhren zum Times Square. Schlingensief begann seine Einmanndemo in der Mitte der Fahrspuren auf dem Broadway. Er hielt ein Plakat hoch. „Don’t buy German Goods!“ – Kauft nicht bei Deutschen! Das war die Umkehrung des Nazislogans. – Schon hielt ein Taxi neben ihm. Eine Hand schoss heraus. Ich hörte keinen Schuß. Aber sah den Daumen. Beifall. Ein Siegeszeichen.

Schlingensief ein Held? Nö. Seminarthema? Falsch! Freund? Eher schon, jedenfalls wenn man ihn persönlich nimmt. Ich nahm ihn persönlich. Und klar, man kann Freunde auch mal nicht so klasse finden, aber man zurrt sie nicht begrifflich fest. Man hat was zum Erzählen. Ey, hör doch mal zu!

Dietrich Kuhlbrodt

Dietrich Kuhlbrodt (1932 in Hamburg geboren) ist Jurist, Autor und Schauspieler. Als Oberstaatsanwalt und Autor beschäftigte er sich über lange Jahre mit der Verfolgung von Naziverbrechen. Kuhlbrodt ist seit 1957 als Film- und Theaterkritiker auch journalistisch tätig. 2002 hat er seine Lebenserinnerungen veröffentlicht („Das Kuhlbrodtbuch“, Verbrecher Verlag). Mit Christoph Schlingensief verband ihn eine lange Freundschaft. Er spielte in den meisten Schlingensief-Filmen und nahm auch an dessen Aktionen teil. Zur Homepage von Dietrich Kuhlbrodt. Fotos: Quelle

Der Text ist das Vorwort von: Georg Seeßlen: Der Filmemacher – Christoph Schlingensief. Getidan Verlag, Berlin 2015. Paperback, 224 Seiten, viele s/w und Farbillustrationen. 23,00 Euro.

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