Fantasyland – Die Geschichte Amerikas neu erzählt
Textauszug aus dem Buch von Kurt Andersen
Das amerikanische Experiment, die Fleischwerdung der großen aufklärerischen Idee von der intellektuellen Freiheit, die besagt, dass jeder Einzelne frei ist zu glauben, was auch immer er oder sie will, hat sich zu etwas ausgewachsen, das wir nicht mehr im Griff haben. Dieser Ultra-Individualismus war von Anfang an tief mit epischen Träumen verknüpft, manchmal auch mit epischen Fantasien – jeder einzelne Amerikaner, jedes Individuum aus Gottes erwähltem Volk, schuf sich sein eigenes, maßgeschneidertes Utopia, jeder von uns war frei, sich selbst anhand seiner Vorstellungskraft und seines Willens immer wieder neu zu erfinden. In Amerika haben diese zugegeben aufregenderen Elemente der Aufklärungsidee den nüchternen, rationalen, empirischen Teil längst fortgespült.
Im Laufe der Jahrhunderte haben wir Amerikaner uns immer intensiver allen möglichen Varianten des Magiedenkens und einem AllesistmöglichRelativismus hingegeben. Immer stärker, und in den letzten fünfzig Jahren auch immer schneller, sind wir abstrusen Erklärungen nachgehangen und haben unseren Glauben an kleine und größere tröstliche, packende oder schauerliche Fantasien gepflegt. Und die meisten von uns haben dabei überhaupt nicht realisiert, wie einschneidend unsere seltsame neue Normalität inzwischen geworden ist. Das erinnert mich an den Frosch im Kochtopf, der in dem sich allmählich erhitzenden Wasserbad sein Schicksal erst erkennt, wenn es zu spät ist.*
Wir Amerikaner glauben – und ich meine wirklich glauben – in größerem Maße als alle anderen ein oder zwei Milliarden Menschen der reichen Welt an das Übernatürliche und Rätselhafte, an die Präsenz Satans auf Erden, an Berichte über erst kürzlich gemachte Ausflüge in den oder aus dem Himmel und an eine mehrere tausend Jahre alte Geschichte von der spontanen Entstehung des Lebens vor mehreren tausend Jahren.
Um die Jahrtausendwende fantasierte sich unsere Finanzindustrie zusammen, dass hochriskante Verschuldungen nun nicht mehr riskant seien, woraufhin Abermillionen Amerikaner sich zusammenfantasierten, dass sie fortan das Leben reicher Leute führen könnten; diese Vorstellung basierte auf der Fantasie, dass Immobilien immer nur in ihrem Wert steigen könnten, und das unaufhörlich.
Wir glauben, dass die Regierung und ihre Mitverschwörer alle möglichen entsetzlichen Wahrheiten vor uns geheim halten – etwa, was Mordanschläge betrifft oder Außerirdische, die Entstehung von Aids, die Anschläge des elften September, die Gefahren durch Impfstoffe und vieles mehr.
Wir häufen Waffen an, weil wir Fantasien zu unserer Vergangenheit als Pioniere nachhängen – oder in Erwartung eines imaginären Schusswechsels mit Verbrechern oder Terroristen. Wir legen uns Militärklamotten und die entsprechende Ausrüstung zu und tun so, als wären wir Soldaten – oder Elfen oder Zombies –, wir kämpfen in Schlachten, bei denen niemand stirbt, real oder in ungeheuer realistischen virtuellen Welten.
All das begann, noch bevor wir mit den Begriffen post-factual und post-truth (beide für postfaktisch) vertraut wurden. Und bevor wir einen Präsidenten wählten, der sich gegenüber Verschwörungstheorien, Wahrheit und Unwahrheit, beziehungsweise dem, was die Wirklichkeit ausmacht, erstaunlich aufgeschlossen zeigt.
Wir sind mit Alice in den Kaninchenbau geschlüpft und befinden uns nun hinter den Spiegeln. Amerika ist zu Fantasyland geworden.
(…) Amerika wurde von wahren Gläubigen und leidenschaftlichen Träumern gegründet, von Scharlatanen und den Dummköpfen, die auf sie hereinfielen. Das hat uns im Laufe von vierhundert Jahren empfänglich gemacht für alle möglichen Fantasien: angefangen von der Hexenjagd in Salem über den Mormonengrün von Joseph Smith, von P. T. Barnum über Henry David Thoreau zum Sprechen in Zungen, von Hollywood über Scientology zu Verschwörungstheorien, von Walt Disney über Billy Graham und Ronald Reagan und Oprah Winfrey bis hin zu Donald Trump. Mit anderen Worten: Man vermenge abenteuerlichen Individualismus mit extremer Religiosität, vermische Showbusiness mit allem anderen, lasse das Ganze ein paar Jahrhunderte lang gut durchziehen und vor sich hin köcheln, ziehe die Mischung dann durch die NichtsistunmöglichSechziger und das Zeitalter des Internets und voilà: Heraus kommt das Amerika, in dem wir heute leben, in dem Realität und Fantasie auf völlig irre und gefährliche Art ineinander übergehen und miteinander verschmolzen sind.
Hoffentlich machen wir gerade nur einen langen, vorübergehenden Umweg, hoffentlich schaffen wir es irgendwie, wieder auf die richtige Spur zu kommen. Angenommen, wir befinden uns auf einer Sauftour und bekommen gerade die Auswirkungen von zu vielen FantasyCocktails zu spüren, die wir über einen zu langen Zeitraum in uns hineingekippt haben, angenommen, das ist der Grund, der uns so manisch und hysterisch macht und uns straucheln lässt – müssten wir dann nicht irgendwann wie der nüchtern werden und uns regenerieren? Sollte man meinen. Dafür muss man aber zunächst verstehen, wie tiefgreifend sich der Hang zur Fantasie in unsere nationale DNA eingebrannt hat …
Fußnote: * In Wirklichkeit hüpfen Frösche aus dem Wasser, wenn es zu heiß wird. In dem Versuch aus dem 19. Jahrhundert, der diese Vorstellung scheinbar ins Leben gerufen hat, wurde der Frosch zwar tatsächlich zu Tode gekocht – nur war ihm zuvor das Gehirn entfernt worden. Was ja eine menschliche Geste war und die Metapher in unserem Kontext noch passender macht.
Der amerikanische Journalist Kurt Andersen ist Mitbegründer des legendären Spy-Magazins. Er schreibt für The New Yorker und das Time Magazine und moderiert die in Amerika sehr populäre Radiosendung „Studio 360“. „Anderson tobt kraftvoll durch die Geschichte Amerikas. Seine Botschaft: Über Jahrhunderte hinweg hatten die USA einen dramatischen Hang zum Unwahren“, meinte die New York Times.
Textauszug aus: Kurt Andersen: Fantasyland. 500 Jahre Realitätsverlust – Die Geschichte Amerikas neu erzählt (Fantasyland. How America Went Haywire. A 500-Year History, 2017). Aus dem Amerikanischen von Kristin Lohmann, Johanna Ott, Claudia Amor. Goldmann Verlag, München 2018. Paperback, Klappenbroschur, 736 Seiten, 18 Euro.
ZUM BUCH: »Das postfaktische Zeitalter ist kein unerklärliches und verrücktes neues Phänomen. Im Gegenteil: Was wir jetzt sehen, ist nur die Spitze des Eisberges«, schreibt Kurt Andersen in seinem aufsehenerregenden Buch Fantasyland. Der Hang zum Magischen und Fantastischen, so der preisgekrönte Kulturjournalist, ist tief in die kollektive DNA der Amerikaner eingeschrieben. Er entstand, als europäische Siedler erstmals den Boden der »Neuen Welt« betraten, im Gepäck vor allem eins: ausgeprägten Individualismus und Lebensträume und Fantasien von epischem Ausmaß. Mitreißend und eloquent erzählt Andersen vom großen amerikanischen Experiment – und warum es so spektakulär scheiterte. Wer verstehen will, wie die Grenze zwischen Realität und Illusion derart verrutschen und ein Mann wie Donald Trump es ins Weiße Haus schaffen konnte, muss dieses Buch lesen.
In seiner scharfsinnigen Analyse schlägt er einen Bogen von den Pilgervätern über Disneyland bis zum „Phänomen Trump“ und zeigt an vielen Beispielen, wie sich der ausgeprägte Individualismus und die Lebensträume der europäischen Einwanderer hin zum postfaktischen Verständnis von Realität und Wahrheit entwickelt haben. Sein Fazit: Der Hang zum Magischen und Fantastischen ist tief in die kollektive DNA der Amerikaner eingeschrieben.