Geschrieben am 4. November 2018 von für Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special UNO

Bodo V. Hechelhammer: Erinnerungen an einen Freund

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Die Nacht, in der ich fliegen konnte

von Bodo V. Hechelhammer

 

In Erinnerung an meinen
viel zu früh verstorbenen Freund Frank Wilhelm (1968-2018)

Es war eine dieser warmen Nächte, die es nur früher gab. Am Himmel zeigten sich voller Ungeduld die ersten Sterne und begannen im Angesicht des Vollmonds selbstbewusst zu pulsieren. Vom fernen Wald war das leise Zirpen der Grillen noch immer zu hören. Die schwüle Luft roch nicht nur, nein, sie schmeckte nach Sommer. Diese Nacht umrahmte die Realität, machte sie zu einer unwirklichen Szene. Gleich einem Gemälde aus einer anderen Zeit. Nur widerwillig neigte sich der Tag seinem Ende zu, doch allzu sehr lockte die Nacht. Jung, wie das eigene Leben. Ein scheinbar endloser Fluss in ewig neue Morgen. Einzig die nächste Sekunde zählte und wollte selbst Tage andauern. Die Zeit verlor ihre einzige Bedeutung.

Die fünf Freunde verließen bester Laune den gerade schließenden Biergarten. Noch trug keiner die Last des Gestern, und niemand musste sich um einen nächsten Tag sorgen. Ein unbeschwertes Leben, ohne vorgezeichneten Plan. So war die spontane Idee, zum nicht weit entfernten See zu fahren und dort weiter zu trinken, nur naheliegend. Doch keiner kannte den Weg, schon gar nicht in dieser Nacht. Auch der zuvor konsumierte Apfelwein und das Bier hatten das Bewusstsein nur in eine bestimmte Richtung erweitert. Der Weg zum See musste erfahren werden. Besonders für Frank was das »nicht wissen wohin die Reise geht« mehr als eine Herausforderung, der er sich nur allzu gerne stellte. Es war eine Philosophie. Auch mit einem Sinnieren über ein »warum« hielt er sich nie unnötig lange auf. Während altkluge Köpfe unter den jungen Freunden noch über den richtigen Weg diskutierten, begann Frank mit dem Selbstbewusstsein eines Walter Röhrls einfach eine dunkle Waldeinfahrt nach der anderen mutig zu durchfahren. Der Weg war das Ziel, und dank Franks Fahrweise war man dem Ende ständig nur allzu nahe. Gefürchtet war das Mitfahren in seinem alten Audi für Spaßverderber und Moralapostel, die es selbst im verklärenden Rückblick damals gab. Für alle anderen, die mit ihm fahren durften, oft einfach nur ein Abenteuer. Erst heute weiß ich, dass die Zeit in Franks alten Audi das wahre Leben im Übermut war: bittersüßer Vogel Jugend.

Nachdem sich die ersten Zufahrten zum See nach wenigen Metern enttäuschend alle als Sackgasse erwiesen hatten, stieß Frank mit der Vorsichtigkeit eines Rallyefahrers, der einen schier uneinholbaren Zeitrückstand dennoch aufzuholen versucht, endlich auf den richtigen Weg. Vor unseren Augen breitete sich im Licht der Autoscheinwerfer ein geschotteter Parkplatz  aus. Von hier aus sollte man  den nahen See leicht zu Fuß erreichen können. Das Ziel war nun der Weg. Die fünf Freunde stiegen frohen Mutes aus, in der trügerischen Hoffnung, endlich die Nacht mit dem vorgesehenen Seegang zu vollenden. Verharrte man still, war das Wasser schon ganz nah zu hören. Doch der Pfad dorthin wollte sich den Freunden einfach nicht erschließen. Mond und Sternen zum Trotz tauchte die Nacht die unbekannte Umgebung in ein Dunkel. Verdunkelt war auch der eigene Verstand. Während alle in der Sommernacht auf der Suche nach dem richtigen Weg abtauchten, blieb ich allein zurück. Wie so oft. Ich hielt mich an Franks Audi fest und setzte mich haltsuchend auf die Motorhaube.

Nach einigen Minuten des vergeblichen Suchens wurde jedem der Freunde klar, dass der heutige Weg hier noch nicht zu Ende war. Die Suche im Dunkeln zu Fuß fortzusetzen, stellte, trotz des zu dieser Zeit noch stets vorgeschobenen Mutes, keine mehrheitsfähige Alternative mehr dar. Alle stiegen wieder in den Audi ein, bereit, den Weg zum nahen See zu erfahren. Franks Auto sollte den Weg weisen. Alle hatten im Wagen ihren alten Platz wieder eingenommen. Nur ich nicht. Ich verharrte, warum auch immer, und blieb auf der Motorhaube sitzen. Rückblickend kaum zu verstehen, erschien es in dieser Sekunde genau der einzig richtige Platz zu sein: auf dem Auto, neben den vier Ringen, quasi als lebende Kühlerfigur.

Es war eine unterbewusste Entscheidung, die mich dazu bewog. Eine tief im eigenen Ich verankerte und erst Jahre später begreifbare Nähe zu Franks Audi, der in jenen Jahren des Findens und Verlierens eine besondere Verlässlichkeit symbolisierte. Eine Art von Schutz, bei dem man einsteigen, die Türen schließen und sich scheinbar der Realität der Gegenwart verschließen konnte. Man durfte in seiner eigenen Welt bleiben und diese zugleich überall hin mitnehmen. Möglicherweise sind das aber alles nur Konstrukte. Wahrscheinlich war es damals einfach nur der Alkohol. Wie auch immer. Denn ich saß weiterhin auf der Motorhaube, scheinbar selbstsicher, auch noch als der Wagen langsam anzufahren begann. Berauscht von der Situation begann ich – fast wie John Wayne bei seiner Jagd nach wilden Tieren in »Hatari« – auf dem Wagen sitzend durch die Nacht zu fahren. Begeisterung kam auf. Erst langsam, dann immer mehr. Meine scheinbare Sitz- und Selbstsicherheit provozierte die Freunde im Auto dahingehend, meine Grenzen zu testen. Frank drückte das Gaspedal langsam weiter nach unten, der Audi zog merklich an. Nach Stunden dauernden Sekunden wurde mir jetzt schlagartig klar, dass es vielleicht gar keine gute Idee war, so durch die Nacht zu reiten. Schließlich ist auch John Wayne irgendwann einmal gestorben. Immer verkrampfter wurde mein Griff, immer steifer meine Körperhaltung. Ich begann zu erfahren, wie wenig Halt einem eine Motorhaube bieten kann, gerade bei einem immer schneller fahrenden Audi. Doch die Freunde im Auto nahmen die Situation aus ihrer Perspektive ganz anders wahr. Verwunderung kam auf, wie fest ich noch immer auf dem Auto sitzen konnte. Dieser Moment leitete meinen Countdown ein.

Übermütig trat Frank auf die Bremsen, und sein Auto machte eine abrupte Vollbremsung. Der Audi gehorchte, stand im selben Moment still. Die Richtigkeit physikalischer Gesetzte sollte sich beweisen. Denn von einem Augenblick zum nächsten wurde ich schlagartig nach vorne katapultiert. Ich flog durch die dunkle Nacht, nur leicht untermalt von schwächer werdenden Autoscheinwerfern. Houston, wir haben ein Problem. Augenzeugen meiner ersten Nachtmission beschrieben, wie ich nach einem leichten Parabelflug langsam begann, mich in der Luft von einer waagrechten Position in die Senkrechte zu manövrieren. Gleichzeitig fing ich im noch nahen Orbit verzweifelt mit dem Laufen an. Ähnlich einem Weitspringer bei seinem Sprung. Nur lief ich in der Luft wesentlich schneller und sprang am Ende auch noch Weltrekord. In diesen Sekunden begannen einzelne Stationen meines noch jungen Lebens an mir vorbeizulaufen; aber sie überholten mich nicht. In jenen flüchtigen Sekunden erlebte ich die Ewigkeit dieser Nacht, in der ich durch Frank fliegen konnte. Und genau jetzt, während meines kurzen Fluges, konnte ich endlich den Weg zum See erkennen. Er war die ganze Zeit ganz nah gewesen.

Nach geschätzten 20 Metern kam die erste Bodenberührung. Wie durch ein Wunder hatte ich inzwischen eine ähnliche Geschwindigkeit wie der Audi an den Tag bzw. die Nacht gelegt. So schlug ich vollkommen überraschend nicht etwa brutal auf und überschlug mich mehrfach, sondern rannte in Rekordzeit die nächsten 100 Meter einfach weiter. Mit Glückshormonen völlig aufgepumpt kam auch ich irgendwann auf dem geschotterten Parkplatz zum Stehen. Ich schrie vor Glück, feierte meinen Triumph. Allerdings ohne Publikum. Denn meine Freunde waren aus Spaß zunächst einfach an mir vorbeigefahren. So sah ich nach meiner Landung zunächst nur die roten Rückleuchten im nächtlichen Wald verschwinden. Allein, im Dunkeln, begriff ich, dass es eine der warmen Sommernächte war, wie es sie nur früher gab.

Frank kehrte nach kurzer Runde um den Parkplatz zurück. Ich stieg in den Audi ein, und zusammen fuhren wir alle weiter. Noch besser gelaunt als zuvor, auch wenn in dieser Nacht der Weg nicht gefunden werden konnte. Warum sollte man traurig sein? Es lagen ja noch unendlich viele Tage und Nächte vor uns.

 

Bodo V. Hechelhammer: Seine Texte bei CrimeMag hier. „Geheimdienst ist besonders spannend unter kulturhistorischer Sicht“, Ein Interview von Alf Mayer über das Buch Doppelagent Heinz Felfe entdeckt Amerika. Der BND, die CIA und eine geheime Reise im Jahr 1956 hier

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